Über die Brücke vom Hier zum Dort

24. November 2006 in Spirituelles


Mystik hat in unseren Tagen Konjunktur. Literarisch, aber auch im Alltag - Ein Beitrag von Bernd Kreuels / Münchner Merkur


München (www.kath.net/MM)
Hildegard von Bingen, Buddha, Novalis oder etwa Meister Eckhart. Dazu noch Kerzen, Räucherstäbchen und Engel in allen Variationen ­ und das nicht nur zur Weihnachtszeit. Wie kommt das eigentlich? Das Mittelalter war doch angeblich so duster. Die Romantik reichlich naiv. Und als aufgeklärte Rationalisten kommen diese wiederentdeckten Vordenker der Spiritualität beileibe auch nicht daher. Außerdem: Wie soll denn um alles in der Welt Kontemplation zum Fortschritt der Menschheit beitragen?

Sicher, Esoterik boomt mittlerweile schon wesentlich länger als ein Jahrzehnt. Überdies sind Glaube und Kirche neuerdings immer öfter in den Schlagzeilen, führen spätestens seit dem vergangenen “Jahr der Päpste“ kein so extremes Aschenbrödel-Dasein mehr, wie noch kurz davor. Dennoch, was schwirrt da nicht alles in vielen Köpfen kunterbunt nebeneinander herum:

Lifestyle-Wünsche neben Ellenbogen-Karriere, praller Genuss neben einer “Was-bringt-mir-das?-Mentalität“, große Lebenslügen neben lauter kleinen “Not“-Lügen. Weiter: die Hast nach dem “großen Geld“ neben dem Körper- und Schönheitskult, Luxusträume neben Jugendlichkeitswahn, hemdsärmeliges Machertum neben dem ultimativen Freizeitkick. Schon jeder einzelne Faden dieses einigermaßen wirren Gedankenknäuels ist aber hinderlich, wenn man das feine Gewebe der Mystik tiefer begreifen möchte.

Wie passt das also alles nur zusammen? Möglicherweise ist es nichts anderes als das Spiegelbild des Kampfes zweier “Seelen“ in eines jeden Menschen Brust: der Diesseitigkeit mit der Lust am Leben und der Jenseitigkeit mit der Sehnsucht nach Unsterblichkeit. Entscheidend für den rechten Ausgleich in dieser existenziellen Auseinandersetzung ist die wohl persönlichste aller Lebensfragen, die jeder nur mit sich selber ausmachen kann. Und die übrigens in den Top-Ten der größten öffentlichen wie privaten Tabus der letzten 50 Jahre ziemlich unangefochten auf einem Spitzenplatz liegen dürfte und da lautet: Wie halte ich es denn mit meinem eigenen Tod?

Auf den Punkt gebracht, gibt es zwei völlig gegensätzliche Antworten darauf:
Entweder ist mit dem letzten Atemzug alles “aus die Maus“. Oder gleich danach kommt der beschwingte Gang über die Brücke vom Hier zum Dort. Wer diesen Weg gehen will und den mutigen Versuch zum Entschlüsseln des ewigen Menschheitsrätsels Tod unternimmt, für den entpuppt sich das Bemühen bald als ein ersehnter Dreh- und Angelpunkt: Von dem aus lassen sich mit großer Wahrscheinlichkeit Kontemplation und Nützlichkeit, Entsagung und Freude, Erfüllung und Materie, Machen und Mystik, Glaube und Schönheit, Fortschritt und Romantik, Liebe und Gerechtigkeit, Realismus und Wahrhaftigkeit in eine sinnvolle Beziehung bringen. Gelingt das auch nur annäherungsweise, ist tiefes Glück in aller Regel die unmittelbare Folge. Der Tod hat also auch seine guten Seiten: Wer hätte das gedacht?


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