Fromme Menschen sind besonders anfällig für Heuchelei

10. März 2007 in Spirituelles


P. Raniero Cantalamessa bei erster Fastenpredigt im Vatikan: ´Die Heuchelei ist jene Sünde, die Gott am vehementesten beklagt und die man sich am wenigsten eingesteht.


Rom (kath.net/Zenit.org)
´Die Heuchelei ist jene Sünde, die Gott am vehementesten beklagt und die man sich am wenigsten eingesteht. Deshalb warnt der Prediger des Papstes vor ihren Gefahren und zeigt Wege auf, um sie zu besiegen – was der ganzen Gesellschaft zugute kommt. In Gegenwart Benedikts XVI. und seiner Kurienmitarbeiter trug P. Raniero Cantalamessa OFM Cap., Prediger des Päpstlichen Hauses, am Freitagvormittag in der Kapelle „Redemptoris Mater“ des Apostolischen Palasts seine erste von vier Predigten zur Fastenzeit vor, in denen er sich mit den Seligpreisungen befasst.

Am heutigen Tag standen die Worte Jesu: „Selig, die ein reines Herz haben, denn sie werden Gott schauen“ (Mt 5,8), im Mittelpunkt seiner Ausführungen. Der Kapuzinerpater erläuterte, dass mit der „Reinheit des Herzens“ keine besondere Tugend gemeint sei, sondern vielmehr „eine Qualität, die alle Tugenden begleiten muss, damit sie wirklich Tugenden sind und keine ‚glänzenden Laster‘. Ihr direkter Gegensatz ist nicht die Unreinheit, sondern die Heuchelei.“ P. Cantalamessa zeigte auf, dass nur Jesus ein reines Herz par excellence habe, und setzte sich in der Folge ausführlich mit dem Thema der Heuchelei auseinander, durch die der Mensch Gott herabsetze, „indem er die Geschöpfe, das Publikum, an die erste Stelle setzt“. Der Heuchler pflege den Schein mehr als sein Herz, was bedeute, „dem Menschen mehr Bedeutung zuzumessen als Gott“.

Heuchelei – „eine Maske aufsetzen“ beziehungsweise „aufhören, eine Person zu sein und eine theatralische Persönlichkeit werden“ – ist nach Worten des Predigers ein weit verbreitetes Phänomen unserer Tage. Manchmal würden die Unterschiede zwischen Bühne und Leben nivelliert und das Leben in ein Schauspiel verwandelt; darüber hinaus sei es mitunter schwierig, „die wirklichen Ereignisse von ihrer Darstellung in den Medien zu unterscheiden. Realität und Virtualität vermischen sich.“ Angesichts dieser Entwicklungen rief der Ordensmann zu einer Besinnung auf das eigentlich Wichtige auf und sagte: „Der Aufruf zur Innerlichkeit, der unsere Seligpreisung und die gesamte Bergpredigt kennzeichnet, ist eine Einladung, uns nicht von dieser Tendenz mitreißen zu lassen, die dazu neigt, die Person zu entleeren, indem sie auf ein Bild, oder schlimmer noch: auf ein Götzenbild reduziert wird.“

Fromme Menschen sind nach Worten von P. Cantalamessa besonders anfällig für Heuchelei. Denn „dort, wo die Achtung vor den geistigen Werten, der Frömmigkeit und der Tugenden (oder der Orthodoxie!) am stärksten ist, da ist auch die Versuchung stärker, sie zu zeigen, um nicht den Anschein zu erwecken, sie würden fehlen.“ Jesus habe den Menschen mit den ersten drei Bitten des Vaterunsers aber ein „doppeltes und unübertreffliches Instrument“ hinterlassen, um die Heuchelei zu besiegen, indem man mehrmals am Tag die Absicht läuterte: „Dein Name werde geheiligt. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe.“

Der Prediger des Papstes betonte schließlich, dass ein wertvoller Beitrag für die Gesellschaft und die christliche Gemeinschaft geleistet werde, „wenn die Seligpreisung derer, die ein reines Herz haben, uns helfen könnten, in uns das Heimweh nach einer sauberen, wahren, aufrichtigen Welt ohne religiöse oder laikale Heuchelei wach zu halten; einer Welt, in der die Taten den Worten, die Worte den Gedanken und die Gedanken des Menschen den Gedanken Gottes entsprächen.“

Die Predigt im Wortlaut in einer Zenit-Übersetzung:

„Jesus hat uns ein doppeltes und unübertreffliches Instrument hinterlassen, um mehrere Male am Tag unsere Absichten zu korrigieren: die ersten drei Bitten des Vaterunsers. ‚Dein Name werde geheiligt. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe.‘ Sie können als Gebete gesprochen werden, aber auch als Absichtserklärung: Alles, was ich tue, will ich tun, damit dein Name geheiligt werde, damit dein Reich komme und damit dein Wille geschehe.

1. Von der rituellen Reinheit zur Reinheit des Herzens

Wir fahren in dieser ersten Betrachtung zur Fastenzeit mit unserer Reflexion über die Seligpreisungen des Evangeliums fort, die wir im Advent begonnen haben, und wollen über die Seligpreisung derer nachdenken, die ein reines Herz haben. Jeder, der heute die Verkündigung hört: „Selig, die ein reines Herz haben, denn sie werden Gott schauen“, denkt instinktiv an die Tugend der Reinheit, so als wäre diese Seligpreisung gleichsam das positive und verinnerlichte Äquivalent des sechsten Gebots: „Du sollst nicht ehebrechen.“ Diese im Lauf der Geschichte der christlichen Spiritualität sporadisch vorgebrachte Interpretation ist seit dem 19. Jahrhundert die vorherrschende geworden.

In Wirklichkeit meint „Reinheit des Herzens“ im Denken Christi keine besondere Tugend, sondern eine Qualität, die alle Tugenden begleiten muss, damit sie wirklich Tugenden sind und keine „glänzenden Laster“. Ihr direkter Gegensatz ist nicht die Unreinheit, sondern die Heuchelei. Ein bisschen Exegese und Geschichte werden uns helfen, das besser zu verstehen.

Was Jesus mit der „Reinheit des Herzens“ meint, geht klar aus dem Zusammenhang der Bergpredigt hervor. Nach dem Evangelium ist das, was über die Reinheit oder Unreinheit einer Handlung befindet – seien es das Almosen, das Fasten oder das Beten –, die Absicht: das heißt, ob die Handlung vollbracht wird, um von den Menschen gesehen zu werden, oder um Gott zu gefallen: „Wenn du Almosen gibst, lass es also nicht vor dir herposaunen, wie es die Heuchler in den Synagogen und auf den Gassen tun, um von den Leuten gelobt zu werden. Amen, das sage ich euch: Sie haben ihren Lohn bereits erhalten. Wenn du Almosen gibst, soll deine linke Hand nicht wissen, was deine rechte tut. Dein Almosen soll verborgen bleiben und dein Vater, der auch das Verborgene sieht, wird es dir vergelten“ (Mt 6,2-6).

Die Heuchelei ist jene Sünde, die Gott in der ganzen Bibel am stärksten beklagt, und der Grund dafür ist klar: In ihr stuft der Mensch Gott herab; er setzt ihn an die zweite Stelle, indem er die Geschöpfe, das Publikum, an die erste Stelle setzt. „Der Mensch sieht, was vor den Augen ist, der Herr aber sieht das Herz“ (1 Sam 16,7). Den Schein mehr zu pflegen als das Herz bedeutet, dem Menschen mehr Bedeutung zuzumessen als Gott.

Die Heuchelei ist also im Wesentlichen ein Mangel an Glauben. Sie ist aber auch ein Mangel an Liebe zum Nächsten – in dem Sinn, dass sie dazu neigt, die Menschen auf Bewunderer zu reduzieren. Sie erkennt in ihnen keine eigene Würde, sondern sieht sie nur in Bezug auf das Bild von sich selbst.

Das Urteil Christi über die Heuchelei lässt keinen Einspruch zu: „Receperunt mercedem suam; sie haben schon ihren Lohn empfangen!“ Darüber hinaus ist dieser Lohn auch auf menschlicher Ebene illusorisch, da die Ehre – wir wissen es ja – dem entflieht, der ihr nachrennt; und sie rennt dem nach, der vor ihr flieht.

Auch die heftigen Ausfälle Jesu gegenüber den Pharisäern, die alle ganz auf die Gegenüberstellung von „Drinnen“ und „Draußen“ konzentriert sind, vom Inneren und Äußeren des Menschen, helfen uns, den Sinn der Seligpreisungen zu verstehen: „Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr seid wie die Gräber, die außen weiß angestrichen sind und schön aussehen; innen aber sind sie voll Knochen, Schmutz und Verwesung. So erscheint auch ihr von außen den Menschen gerecht, innen aber seid ihr voll Heuchelei und Ungehorsam gegen Gottes Gesetz“ (Mt 23,27-28).

Die Revolution, die Jesus in diesem Bereich gebracht hat, ist von einer unberechenbaren Tragweite. Vor ihm – sieht man einmal von einigen wenigen Andeutungen bei den Propheten und in den Psalmen ab (Ps 24,3: „Wer darf hinaufziehn zum Berg des Herrn, wer darf stehn an seiner heiligen Stätte? Der reine Hände hat und ein lauteres Herz“) – wurde die Reinheit in einem Sinn des Ritus und des Kultes verstanden. Reinheit bestand darin, sich von Dingen, Tieren, Menschen oder Orten fern zu halten, von denen man glaubte, dass sie die Kraft hätten, zu verunreinigen und von der Heiligkeit Gottes zu trennen. Vor allem das, was mit Geburt, Tod, Ernährung und Sexualität verbunden ist, fiel in diesen Bereich. In verschiedenen Formen und unter verschiedenen Voraussetzungen geschah dasselbe in anderen außerbiblischen Religionen.

Jesus räumt mit all diesen Tabus auf – vor allem mit den Gesten, die er tut: Er isst mit den Sündern, er berührt die Aussätzigen, er verkehrt mit Heiden: alles Dinge, die für extrem verunreinigend gehalten wurden; dann mit den von ihm erteilten Lehren. Die Feierlichkeit, mit der er seine Rede über den Reinen und den Unreinen einführt, lässt erkennen, dass er sich der Neuheit seiner Lehre bewusst war: „Dann rief er die Leute wieder zu sich und sagte: Hört mir alle zu und begreift, was ich sage: Nichts, was von außen in den Menschen hineinkommt, kann ihn unrein machen, sondern was aus dem Menschen herauskommt, das macht ihn unrein… Denn von innen, aus dem Herzen der Menschen, kommen die bösen Gedanken, Unzucht, Diebstahl, Mord, Ehebruch, Habgier, Bosheit, Hinterlist, Ausschweifung, Neid, Verleumdung, Hochmut und Unvernunft. All dieses Böse kommt von innen und macht den Menschen unrein“ (Mk 7,14-15; 21-23).

„Damit erklärte Jesus alle Speisen für rein“, merkt der Evangelist beinahe überrascht an (Mk 7,19). Gegen den Versuch einiger Judenchristen, die Unterscheidung zwischen rein und unrein in Bezug auf Nahrungsmittel und in anderen Bereichen des Lebens wiederherzustellen, wird die apostolische Kirche machtvoll bekräftigen: „Alles ist rein für den, der rein ist, omnia munda mundis“ (Tit 1,15; vgl. Röm 14,20).

Die im Sinn der Enthaltsamkeit und Keuschheit verstandene Reinheit fehlt in den Seligsprechungen nicht (unter die Dinge, die verunreinigen, zählt Jesus auch „Hurerei, Ehebruch und Schamlosigkeit“); sie nimmt allerdings einen begrenzten und sozusagen sekundären Platz ein. Es ist ein Bereich unter anderen, in welchem die entscheidende Stellung hervorgehoben wird, die das „Herz“ einnimmt, so als er sagt: „Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen“ (Mt 5,28).

In Wirklichkeit werden die Begriffe „rein“ und „Reinheit“ („katharos“, „katharotes“) im Neuen Testament nie benutzt, um das auszudrücken, was wir heute mit ihnen meinen, das heißt die Abwesenheit der Sünde des Fleisches. Dafür werden andere Begriffe gebraucht: Selbstbeherrschung („enkrateia“), Mäßigung („sophrosyne“), Keuschheit („hagneia“).

Aus dem Gesagten geht klar hervor, dass der, der ein reines Herz schlechthin hat, Jesus selbst ist. Von ihm müssen sogar seine Gegner sagen: „Meister, wir wissen, dass du immer die Wahrheit sagst und dabei auf niemand Rücksicht nimmst; denn du siehst nicht auf die Person, sondern lehrst wirklich den Weg Gottes“ (Mk 12,14). Jesus konnte von sich sagen: „Ich bin nicht auf meine Ehre bedacht“ (Joh 8,50).

2. Ein Blick auf die Geschichte

In der Exegese der Kirchenväter können wir bald sehen, wie sich drei Richtungen abzeichnen, in denen die Seligpreisungen derer, die ein reines Herz haben, in der Geschichte der christlichen Spiritualität rezipiert und interpretiert werden: die moralische, die mystische und die asketische Richtung. Nach der moralischen Interpretation besteht diese Seligpreisung in der Rechtschaffenheit der Absicht, nach der mystischen in der Vision Gottes und nach der asketischen im Kampf gegen die Leidenschaften des Fleisches. Diese Interpretationen sehen wir bei Augustinus, Gregor von Nyssa und Johannes Chrysostomus exemplifiziert.

In Treue dem Zusammenhang des Evangeliums folgend, interpretiert Augustinus die Seligpreisung auf moralische Weise: als Ablehnung, „vor den Menschen die Gerechtigkeit zur Schau zu stellen“ (vgl. Mt 6,1), das heißt als Einfachheit und Aufrichtigkeit, die sich der Heuchelei widersetzt. „Nur wer das Lob der Menschen überwindet“ – so sagt Augustinus – „und im Leben darauf achtet, nur dem wohlgefällig zu sein, der nur das Gewissen erforscht, hat ein einfaches, das heißt ein reines Herz.“ (1)

Der Faktor, der über die Reinheit des Herzens entscheidet, ist hier die Absicht. „Alle unsere Handlungen sind ehrlich und Gott wohlgefällig, wenn sie mit aufrichtigem Herzen vollbracht werden, das heißt mit der Absicht, die nach oben gerichtet ist mit dem Ziel der Liebe… Ist sie rein und recht, so werden notwendig alle Handlungen, die wir in Bezug auf sie vollbringen, rein sein… Also darf man nicht die Handlung, die vollbracht wird, in Betracht nehmen, sondern die Absicht, mit der sie vollbracht wird“. (2) Dieses Interpretationsmodell, das sich auf die Absicht stützt, wird in der gesamten späteren spirituellen Tradition, besonders in der ignatianischen, wirksam bleiben. (3)

Die mystische Interpretation, die mit Gregor von Nyssa anfängt, interpretiert die Seligpreisung mit Blick auf die Kontemplation: Man muss sein Herz von jeglicher Verbundenheit mit der Welt und dem Bösen läutern; auf diese Weise wird das Herz des Menschen wieder zum reinen und klaren Abbild Gottes, das es am Anfang und in der Seele war, wie ein Spiegel – das Geschöpf wird „Gott schauen“ können. „Wenn du mit einem sorgfältigen und aufmerksamen Lebensstil deine Hässlichkeiten wegwaschen wirst, die sich in deinem Herzen abgelagert haben, so wird in dir die göttliche Schönheit erstrahlen… Wenn du dich selbst betrachtest, so wirst du in dir jenen sehen, der die Sehnsucht des Herzens ist, und du wirst selig sein.“ (4)

Hier liegt das Gewicht ganz auf der „Apodosis“, auf der von der Seligpreisung verheißenen Frucht. Ein reines Herz zu haben, ist das Mittel; das Ziel ist „Gott schauen“. Man bemerkt auf einer sprachlichen Ebene einen Einfluss der Spekulation Plotins, der beim heiligen Basilius noch offensichtlicher werden wird. (5)

Auch diese Interpretationslinie wird in der ganzen späteren Geschichte der christlichen Spiritualität, die vom heiligen Bernhard über den heiligen Bonaventura hin zu den rheinländischen Mystikern geht, Folgen haben. (6) In einigen monastischen Umfeldern kommt allerdings eine neue und interessante Idee hinzu: die Idee der Reinheit als innere Vereinigung, die zu erreichen ist, wenn man nur eines will, wenn dieses „etwas“ Gott ist. Der heilige Bernhard schreibt: „Selig, die ein reines Herzen haben, denn sie werden Gott schauen. Es ist, als sagte er: Läutere dein Herz, trenn dich von allem, sei nur Mönch; suche nur eines beim Herrn und folge dem (vgl. Ps 27,4); befreie dich von allem, und du wirst Gott schauen (vgl. Ps 46,11).“ (7)

Ziemlich isoliert hingegen ist bei den Kirchenvätern und den Autoren des Mittelalters die asketische Interpretation in Bezug auf die Keuschheit, die – wie ich sagte – ab dem 19. Jahrhundert vorherrschend werden wird. Johannes Chrysostomus liefert uns ein eindeutigeres Beispiel. (8)

Indem er sich in dieselbe Linie stellt, unterscheidet der Mystiker Ruusbroeck zwischen einer Keuschheit des Geistes, einer Keuschheit des Herzens und einer Keuschheit des Leibes. Er bezieht die evangelische Seligpreisung auf die Keuschheit des Herzens. Sie, so schreibt er, „hält die äußeren Sinne beieinander und stärkt sie, während sie im Inneren die brutalen Instinkte zügelt und zähmt… Sie verschließt das Herz gegenüber den irdischen Dingen und den trügerischen Reizen, während sie es für die Dinge des Himmels und der Wahrheit öffnet“. (9)

Mit unterschiedlichen Graden an Genauigkeit bleiben all diese orthodoxen Interpretationen innerhalb des neuen Horizonts der von Jesus gewirkten Revolution, der jede moralische Rede auf das Herz zurückführt. Paradoxerweise haben die evangelischen Seligpreisungen derer, die rein („katharoi“) sind im Herzen, gerade diejenigen verraten, die sich nach ihnen benennen: die Katharer – zusammen mit allen ihnen nahe stehenden Bewegungen, die ihnen in der Geschichte des Christentums vorangegangen und nachgefolgt sind. Sie fallen nämlich in die Kategorie derer, für die die Reinheit darin besteht, rituell und sozial getrennt zu sein von Menschen und Dingen, die in sich als unrein beurteilt werden, in einer mehr äußeren als inneren Reinheit. Sie sind eher die Erben des sektenhaften Radikalismus der Pharisäer und der Essener als des Evangeliums Christi.

3. Die laikale Heuchelei

Oft werden die soziale und die kulturelle Tragweite einiger der Seligpreisungen hervorgehoben. Nicht selten liest man auf den Spruchbändern, die die Demonstrationen der Pazifisten begleiten: „Selig die, die Frieden stiften“; und die Seligpreisung der Sanftmütigen, denen die Erde gehören wird, wird zu Recht zugunsten des Prinzips der Gewaltlosigkeit angerufen – um hier nicht von der Seligpreisung der Armen und der um der Gerechtigkeit willen Verfolgten zu sprechen. Nie jedoch spricht man von der sozialen Relevanz der Seligpreisung derer, die ein reines Herz haben; sie scheint ausschließlich dem persönlichen Bereich vorbehalten zu sein. Ich bin hingegen überzeugt, dass diese Seligpreisung heute eine kritische Funktion ausüben kann, die zu den notwenigsten unserer Gesellschaft gehört.

Wir haben gesehen, dass im Denken Christi die Reinheit des Herzens nicht in erster Linie der Unreinheit entgegengesetzt ist, sondern der Heuchelei; und die Heuchelei ist ein menschliches Laster, das am weitesten verbreitet ist und am wenigsten eingestanden wird. Es gibt individuelle und kollektive Heucheleien.

Der Mensch, so schreibt Pascal, hat zwei Leben: Das eine ist das wahre Leben, das andere ist das eingebildete Leben, das Leben, das man zu führen meint oder das man in den Augen der Leute führt. Wir arbeiten unaufhörlich dafür, unser eingebildetes Sein zu verschönern und zu erhalten, und vernachlässigen das wahre Sein. Wenn wir einige Tugenden oder Verdienste besitzen, so bemühen wir uns darum, sie auf die eine oder andere Weise bekannt werden zu lassen, um unser eingebildetes Sein mit diesen Tugenden oder Verdiensten zu schmücken. Dabei sind wir sogar bereit, auf uns zu verzichten, um ihm etwas hinzuzufügen; das geht so weit, dass wir manchmal sogar damit einverstanden sind, Feiglinge zu sein, nur um tüchtig zu erscheinen; ja, das Leben hinzugeben, nur damit die Leute davon sprechen. (10)

Die von Pascal ins Licht gerückte Tendenz hat in unserer aktuellen Kultur, die von Massenmedien, Film, Fernsehen und der Showwelt im Allgemeinen beherrscht wird, enorm zugenommen. Descartes sagte: „Cogito ergo sum – ich denke, also bin ich.“ Heute aber neigt man dazu, dieses Wort durch: „Ich trete auf, also bin ich“, zu ersetzen.

Ursprünglich war der Begriff der Heuchelei („hypokrisis“) der Theaterkunst vorbehalten. Er bedeutete einfach „rezitieren“, auf der Bühne darstellen. Der heilige Augustinus erinnert daran in seinem Kommentar zu den Seligpreisungen derer, die ein reines Herz haben. „Die Heuchler“ – schreibt er – „wirken als Versteller wie diejenigen, die in den Theateraufführungen die Persönlichkeit eines anderen darstellen“. (11)

Der Ursprung des Begriffs führt uns auf die richtige Spur, um das Wesen der Heuchelei zu entdecken. Es besteht darin, aus dem Leben ein Theater zu machen, in dem man für ein Publikum rezitiert. Heuchelei heißt, eine Maske aufsetzen – aufhören, eine Person zu sein und eine theatralische Persönlichkeit werden. Ich habe irgendwo diese Charakterisierung dieser beiden Dinge gelesen: „Die theatralische Persönlichkeit ist nichts anderes als die Korruption der Person. Die Person ist ein Antlitz, die theatralische Persönlichkeit eine Maske. Die Person ist radikale Nacktheit, die theatralische Persönlichkeit besteht nur aus Gewändern. Die Person liebt die Echtheit und die Wesentlichkeit, die theatralische Persönlichkeit lebt in der Verstellung und im Künstlichen. Die Person folgt den eigenen Überzeugungen, die theatralische Persönlichkeit folgt einem Drehbuch. Die Person ist demütig und leicht, die theatralische Persönlichkeit ist schwer und sperrig.“

Die theatralische Verstellung aber ist eine unschuldige Heuchelei, da sie trotz allem den Unterschied zwischen der Bühne und dem Leben aufrechterhält. Keiner, der bei der Vorführung des Agamemnon dabei ist (das ist das von Augustinus wiedergegebene Beispiel), denkt, dass der Schauspieler wirklich Agamemnon ist. Die neue und beunruhigende Tatsache von heute ist, dass man dazu neigt, auch diesen Unterschied zu nivellieren und so das Leben selbst in ein Schauspiel zu verwandeln. Das ist das, was die so genannten „Reality-Shows“ beanspruchen, die sich nunmehr in den Fernsehsendern der ganzen Welt breit gemacht haben.

Nach dem vor drei Tagen verstorbenen französischen Philosophen Jean Baudrillard ist es heute schwierig geworden, die wirklichen Ereignisse (11. September, Golfkrieg) von ihrer Darstellung in den Medien zu unterscheiden. Realität und Virtualität vermischen sich.

Der Aufruf zur Innerlichkeit, der unsere Seligpreisung und die gesamte Bergpredigt kennzeichnet, ist eine Einladung, uns nicht von dieser Tendenz mitreißen zu lassen, die dazu neigt, die Person zu entleeren, indem sie auf ein Bild, oder schlimmer noch: auf ein Götzenbild (ein Wort, das Baudrillard liebte) reduziert wird.

Kierkegaard rückte die Entfremdung ins Licht, die sich aus einem Leben in reiner Äußerlichkeit ergibt, immer und nur vor den Menschen und nie vor Gott und dem eigenen Ich. Ein Viehtreiber – so beobachtet er – kann ein Ich vor seinen Kühen sein, wenn er, da er immer mit ihnen lebt, nur sie hat, mit denen er sich messen kann. Ein König kann ein Ich vor seinen Untertanen sein, und er wird sich als ein wichtiges Ich fühlen. Das Kind erfährt sich als ein Ich in Bezug auf seine Eltern, ein Bürger vor dem Staat… Aber immer werde ich ein unvollkommenes „Ich“ sein, da das Maß fehlt. „Welch unendliche Wirklichkeit hingegen nimmt mein Ich an, wenn es sich bewusst wird, dass es vor Gott lebt, und so ein menschliches Ich wird, dessen Maß Gott ist… Welch unendlicher Akzent steht auf dem Ich in dem Augenblick, in dem es zum Maß Gott erhält!“

Es scheint dies ein Kommentar zu dem zu sein, was der heilige Franziskus von Assisi sagt: „Das, was der Mensch ist, der vor Gott ist, das ist und nichts weiter.“ (12)

4. Die religiöse Heuchelei

Das Schlimmste, was man tun kann, wenn man über die Heuchelei spricht, besteht darin, sich dieses Themas nur zu bedienen, um die anderen – die Gesellschaft, die Kultur, die Welt – zu verurteilen. Gerade für solche Menschen gebraucht Jesus den Titel „Heuchler“: „Du Heuchler! Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, dann kannst du versuchen, den Splitter aus dem Auge deines Bruders herauszuziehen“ (Mt 7,5).

Als Gläubige müssen wir uns an die Aussage eines jüdischen Rabbiners aus der Zeit Christi erinnern, nach dem sich 90 Prozent der Heuchelei der Welt damals in Jerusalem befanden. (13) Schon der heilige Märtyrer Ignatius von Antiochien verspürte das Bedürfnis, seine Brüder im Glauben zu ermahnen. Er schrieb: „Es ist besser, Christen zu sein, ohne es zu sagen, als es zu sagen, ohne es zu sein“ (14).

Die Heuchelei stellt vor allem den frommen und religiösen Menschen nach, und der Grund dafür ist einfach: Dort, wo die Achtung vor den geistigen Werten, der Frömmigkeit und der Tugenden (oder der Orthodoxie!) am stärksten ist, da ist auch die Versuchung stärker, sie zu zeigen, um nicht den Anschein zu erwecken, sie würden fehlen. Manchmal ist es das Amt, das wir innehaben, das uns dazu veranlasst, so zu handeln. „Und weil nun die verschiedenen Verhältnisse in der menschlichen Gesellschaft“ – so schreibt der heilige Augustinus in den „Bekenntnissen“ – „es erfordern, dass wir von manchen Menschen geliebt, von anderen gefürchtet werden, da setzt uns sofort der Feind unserer wahren Glückseligkeit zu und streut überall in seinen Schlingen den Köder des Beifalls: ‚Recht so, recht so‘ aus, damit wir, diese Lockspeise gierig aufnehmend, in unserer Unvorsichtigkeit gefangen werden, unsere Freude an deiner Wahrheit verlieren und sie im Truge der Menschen finden. So wollen wir dann nicht deinetwegen, sondern an deiner Statt geliebt und gefürchtet werden“ (15).

Die schädlichste Heuchelei würde darin bestehen, die eigene Heuchelei zu verbergen. Ich erinnere mich nicht, in einem Spiegel zur Gewissenserforschung jemals die Frage entdeckt zu haben: „Bin ich ein Heuchler gewesen? Habe ich mich mehr um den Blick gekümmert, den die Menschen auf mich werfen, als um den Blick Gottes?“ An einem bestimmten Punkt meines Lebens musste ich für mich persönlich diese Fragen in meine Gewissenserforschung mit aufnehmen, und selten konnte ich schadlos auf die nächste Frage übergehen…

Eines Tages wurde bei der Messe aus dem Evangelium das Gleichnis von den Talenten vorgelesen. Ich hörte es und verstand etwas auf Anhieb: Neben der Tatsache, die Talente Ertrag bringen zu lassen und dies nicht zu tun, gibt es eine dritte Möglichkeit: die Möglichkeit, sie zwar Ertrag bringen zu lassen, aber nur für sich selbst, nicht für den Herrn; für die eigene Ehre und für den eigenen Nutzen – und dies ist eine vielleicht schwerere Sünde als die, sie zu vergraben. An jenem Tag, im Moment der Kommunion, musste ich so handeln wie gewisse Räuber, die in flagranti ertappt werden, voller Scham die Taschen leeren und dem Besitzer das vor die Füße werfen, was sie ihm abgenommen haben.

Jesus hat uns ein doppeltes und unübertreffliches Instrument hinterlassen, um mehrere Male am Tag unsere Absichten zu korrigieren: die ersten drei Bitten des Vaterunsers. „Dein Name werde geheiligt. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe.“ Sie können als Gebete gesprochen werden, aber auch als Absichtserklärung: Alles, was ich tue, will ich tun, damit dein Name geheiligt werde, damit dein Reich komme und damit dein Wille geschehe.

Es wäre ein wertvoller Beitrag für die Gesellschaft und die christliche Gemeinschaft, wenn die Seligpreisung derer, die ein reines Herz haben, uns helfen könnten, in uns das Heimweh nach einer sauberen, wahren, aufrichtigen Welt ohne religiöse oder laikale Heuchelei wach zu halten; einer Welt, in der die Taten den Worten, die Worte den Gedanken und die Gedanken des Menschen den Gedanken Gottes entsprächen. Das wird sich zur Gänze nur im himmlischen Jerusalem zutragen, der Stadt, die ganz aus Kristall ist, aber wir müssen jetzt wenigstens danach streben.

Eine Märchenschriftstellerin hat ein Märchen mit dem Titel „Das Land aus Glas“ geschrieben. Es erzählt von einem Mädchen, das durch einen Zauber in ein Land kommt, das ganz aus Glas ist: gläserne Häuser, gläserne Vögel, gläserne Bäume, Personen, die sich wie anmutige Glasstatuen bewegen. Und dennoch ist nie etwas zu Bruch gegangen, weil alle gelernt haben, sich mit Zartgefühl zu bewegen, um sich gegenseitig nicht wehzutun. Wenn sich diese Personen begegnen, so antworten sie auf die Fragen, noch ehe sie gestellt worden sind – weil auch die Gedanken offen und transparent geworden sind. Keiner versucht mehr zu lügen, da sie wissen, dass alle lesen können, was man im Sinn hat. (16)

Allein beim Gedanken, was wohl passieren würde, wenn es schon jetzt unter uns so sein würde, überläuft es einen kalt. Aber es tut gut, wenigstens nach diesem Ideal zu streben. Das ist der Weg, der zur Seligpreisung führt, die wir versucht haben zu kommentieren: „Selig, die ein reines Herz haben, denn sie werden Gott schauen.“

(1) Augustinus, De sermone Domini in monte, II, 1,1 (CC 35, 92)
(2) Ebd. II, 13, 45-46.
(3) Jean-François de Reims, La vraie perfection de cette vie, 2 parte, Paris 1651, Instr. 4, p.160 s).
(4) Gregor von Nyssa, De beatitudinibus, 6 (PG 44, 1272).
(5) Basilius, Über den Heiligen Geist, IX,23; XXII,53 (PG 32, 109.168).
(6) Vgl. Michel Dupuy, Pureté, purification, in DSpir. 12, coll,2637-2645.
(7) Bernhard von Clairveaux, Sententiae, III, 2 (S. Bernardi Opera, hg. J. Leclerq – H. M. Rochais).
(8) Johannes Chrysostomus, Homiliae in Mattheum, 15,4.
(9) Johannes Ruysbroeck, Lo splendore delle nozze spirituali, Roma, Città Nuova 1992, S. 72 f. (Jan van Ruusbroec, Opera omnia, hrsg. v. Ruusbroecgenootschap (Antwerpen), 8 Bde von 10 veröffentlicht. (Corpus Christianorum, continuatio mediaevalis 104), Turnhout 1988; [Mittelniederlänische Urtext, Englische und Lateinische Übersetzung (L. Surius)]; Ruusbroec hertaald, hrsg. von Lode Moereels, 10 Bde., Tielt 1975-1982; J. A. Bizet, Ruysbroeck. Oeuvres choisies, Paris 1947.
(10) Vgl. B. Pascal, Penseés, 147 Br.
(11) Augustinus, De sermone Domini in monte, 2,5 (CC 35, S. 95).
(12) Franz von Assisi, Ammonizioni, 19 (Fonti Francescane, Nr. 169).
(13) Vgl.. Strack-Billerbeck, I, 718.
(14) Vgl. Ignatius von Antiochien, Epheser 15,1 und Magnesier, 4
(15) Vgl. Augustinus, Confessiones, X, 36, 59.
(16) Lauretta, Il bosco dei lillà, Ancora, Milano, 1994, S. 90 ff.

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