'Jetzt brauche ich ein Radio'

25. April 2007 in Chronik


Zum Tod von Boris Jelzin: Mit einem von KIRCHE IN NOT geschmuggelten Radiosender mobilisierte Jelzin die Moskauer Bevölkerung gegen den kommunistischen Putsch.


Moskau (www.kath.net/KIN)
Während des Putsches der sowjetischen Kommunisten 1991 ist folgende Szene in Erinnerung geblieben: Boris Jelzin klettert vor dem Moskauer Parlamentsgebäude auf einen Panzer und ruft von dort aus ohne Mikrofon zum Widerstand gegen die Putschisten auf. Nach dieser Rede geht er in das Parlament zurück und sagt zu den Abgeordneten: „Jetzt brauche ich ein Radio.“

Er wollte so viele Menschen wie möglich erreichen; die Medien waren jedoch in der Hand der Kommunisten. Doch es gab einen Sender, von dem sie nichts wussten…

Die Bilder gingen um die Welt: Panzer rollen in die Moskauer Innenstadt und postieren sich auch vor dem Parlamentsgebäude. Die sowjetische Nachrichtenagentur TASS meldet, dass Präsident Gorbatschow wegen Krankheit von seinem Amt entbunden sei. Ein selbsternanntes Notstandskomitee hat den Ausnahmezustand verhängt. Es ist Montag, der 19. August 1991, der Tag des Putsches gegen Michail Gorbatschow.

Für ihn war es der Anfang vom Ende seiner politischen Karriere, für einen anderen begann sie: Boris Jelzin. Schon bald wurde er zum Sprecher und Führer des Widerstandes gegen die kommunistischen Putschisten, denn der Wunsch nach Reformen und Demokratie war in der Bevölkerung sehr stark – entgegen den Erwartungen der westlichen Welt und der Armee in Moskau. Der Einfluss Jelzins, damals Präsident der Russischen Förderation, wuchs stetig.

In diesem historisch entscheidenden Augenblick verhalfen Weitblick und Wagemut des „Speckpaters“ und Gründers von KIRCHE IN NOT, Pater Werenfried van Straaten, den Gegnern der Putschisten einen entscheidenden Vorteil. Zum Erstaunen aller gab der russische Abgeordnete Viktor Aksiutsjik bekannt, dass er die Ausstattung für ein Radio besitze. Seit einiger Zeit gab es nämlich Pläne, mit Hilfe des weltweiten katholischen Hilfswerks KIRCHE IN NOT eine gemeinsame Rundfunkstation der katholischen und orthodoxen Kirche in der Sowjetunion zu gründen. Aksiutsjik gehörte dem Vorstand des Senders Radio Blagovest, „Frohbotschaft“, an. Er sendete von Monte Carlo aus in russischer Sprache und konnte in der Sowjetunion empfangen werden. Die russisch-orthodoxe Kirche wollte mit Hilfe einer niederländischen Stiftung und KIRCHE IN NOT eine lokale Radiostation in Moskau gründen. Aber das Kommunikationsministerium hatte dafür die Lizenz verweigert.

Doch die Ausstattung für den Radiosender befand sich im August 1991 schon längst in Moskau und wurde in einer Lagerhalle aufbewahrt. Über längere Zeit hatte KIRCHE IN NOT das erforderliche technische Gerät in Einzelteilen mit dem Schiff nach Sankt Petersburg und von dort aus nach Moskau geschmuggelt. Hier wurden die Teile dann wieder zu einem sendefähigen Apparat zusammengesetzt. Die Anlage stand einsatzbereit in Moskau und musste nur noch aus der Lagerhalle geholt werden.

Unter Salat und Tomaten

Ein Lastwagen der Parlamentskantine wurde in die Halle geschickt und der Sender dort aufgeladen. Damit die Putschisten die Radiotechnik nicht entdecken konnten, wurde sie unter Salat, Tomaten und anderen Lebensmitteln versteckt. Nach der Rückkehr des Kuriers installierten Ingenieure den Sender im Parlamentsgebäude, die Luftwaffe stellte eine Antenne zur Verfügung. Schon wenig später konnte Boris Jelzin die Moskauer Bevölkerung um Hilfe rufen. Der spätere Präsident bedankte sich, indem er schon im September 1991 die Sendeerlaubnis für den Rundfunk erteilte. Er durfte von sechs Uhr morgens bis Mitternacht senden.

Dank Pater Werenfried hatte Boris Jelzin ein Sprachrohr, um die Bevölkerung zum Widerstand gegen die kommunistischen Putschisten aufzurufen. Sein Hilferuf an die Moskowiter wurde erhört: Tausende versammelten sich friedlich auf Moskaus Straßen. Selbst einige Armee-Einheiten liefen später zu Jelzin über. Am Abend des 21. August war der Putsch vorbei.

Die Folgen dieses Putsches waren weit reichend: Boris Jelzins Haltung während des Putsches stärkte seine Position gegenüber dem sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow. Bereits wenige Tage nach dem Putsch trat dieser als Vorsitzender der kommunistischen Partei zurück. Am 8. Dezember beschlossen die Präsidenten der Russischen Republik, der Ukraine und Weißrusslands die Gründung der GUS, der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten. Ihr schlossen sich acht weitere ehemalige Sowjetrepubliken an. Am 25. Dezember dankte Gorbatschow endgültig als Präsident ab; Jelzin wurde sein Nachfolger. Zum Jahreswechsel zerbrach die Sowjetunion endgültig. Wie wichtig das religiöse Programm des Senders Radio Blagovest nach wie vor ist, bezeugen Tausende Briefe, die KIRCHE IN NOT erreicht haben und immer noch erreichen.


© 2007 www.kath.net