Wiedersehen mit einem Volksheiligen

28. April 2008 in Aktuelles


Der Leichnam Pater Pios ist nun ausgestellt – Eine Silikonmaske aus dem Kabinett Madame Tussauds zeigt Millionen das allen bekannte Gesicht. Von Guido Horst / Tagespost.


San Giovanni Rotondo (www.kath.net / tagespost) Er ist wieder da. Die Störung der Grabesruhe: ein Preis der Heiligkeit. Pater Pio, 2002 von Johannes Paul II. heiliggesprochen, ist seit gestern genau dort, wo er vierzig Jahre lang anderthalb Meter tief unter dem Boden lag, wieder zu sehen.

Doch jetzt anderthalb Meter über dem Boden der Krypta der Kapuzinerkirche „Santa Marie delle Grazie“ in San Giovanni Rotondo. In einem gläsernen Sarg, zwei Meter hoch, zweieinhalb Meter lang, ein Meter tief. Gestaltet von dem georgischen Künstler Guy Georges Amachoukeli.

Vor allem Frauen vorgerückten Alters, die am Donnerstag an dem Sarg vorbeizogen, brachen beim Anblick des toten Kapuziners in Tränen aus. „Padre Pio, da bist Du ja“ – so schluchzten viele, mit Gesten und Blicken, als würden sie einen geliebten Verwandten nach vierzig Jahren endlich wiedersehen.

Unbarmherzig brannte die Sonne am vergangenen Donnerstag auf das Gargano-Gebirge im äußersten Osten Apulien. Die Luft war klar, das Meer von dem Platz aus, auf dem sich neben der Kapuzinerkirche die gewaltige, 2004 von dem Stararchitekten Renzo Piano erbaute Basilika des heiligen Pater Pio erhebt, gut zu sehen.

Doch ein heftiger kühler Wind vertrieb alle sommerlichen Gedanken. Auf dem mit gelblich-sandfarbenem Marmorboden ausgestatteten Vorplatz zur Basilika feierte vorgestern Kardinal José Saraiva Martins, der Präfekt der vatikanischen Kongregation für die Selig- und Heiligsprechungen einen Gottesdienst im Freien.

Zusammen mit dem Erzbischof von Manfredonia, Domenico Umberto DAmbrosio, der – wie man hört, nicht gerade zur Freude der Kapuziner von San Giovanni Rotondo – als zuständiger Ortsbischof die Aufsicht über das Heiligtum Pater Pios übernommen hat. Sowie mit 25 weiteren Bischöfen und etwa fünfzehntausend Gläubigen. Vatikan und Ortskirche halten nun eine Hand über alles, was in dem Pio-Heiligtum vor sich geht.

Das war jedoch nur ein zahmer Auftakt. Am Donnerstag war ein normaler Arbeitstag in Italien. Gestern jedoch ein Feiertag: der 25. April, die überall im Lande begangene „Befreiung von den Deutschen“. An diesem Wochenende sind die Pensionen und Hotels in San Giovanni Rotondo mit ihren zehntausend Betten völlig ausgebucht.

Nun strömen wahre Massen heran. In zwei Zugängen kann man sich in langen Schlangen der Krypta nähern, in der der ausgestellte Heilige liegt. Eine Schlange für die Unangemeldeten, die sicher länger ist, und eine Schlange für die Angemeldeten, in der es schneller geht. 690 000 Personen haben sich für die Zeit bis Juli dieses Jahres bei den Kapuzinern zum Besuch des gläsernen Sargs angemeldet.

Ursprünglich sollte die Ausstellung Pater Pios an dessen vierzigstem Todestag, dem kommenden 23. September, enden. Doch angesichts der Nachfrage hat man die Zeit um ein Jahr verlängert, bis September 2009. Etwa fünf Millionen Menschen, so rechnet man in San Giovanni Rotondo, werden bis dahin an dem Heiligen vorbeigezogen sein.

Doch zurück in die Gruft. Wer sich beim langsamen Voranschreiten in der Menschenschlange über Treppen und Gänge des Heiligtums fragt, welcher Anblick ihn wohl erwartet – vierzig Jahre, nachdem man den wohl beliebtesten Volksheiligen Italiens zu Grabe getragen hat – ist beim Betreten der Krypta zunächst erstaunt: Da liegt Pater Pio, genau so, wie man ihn zu Lebzeiten kannte.

Nur das Gesicht ist zu erkennen, leicht zur Seite geneigt, mit dem vollen Bart. Das Kapuzinergewand verbirgt alle übrigen Teile des Körpers. Selbst die Hände sind nicht zu sehen. Doch dann, wenn man direkt vor dem Glassarg steht, fällt es einem auf – während im Hintergrund Ordensfrauen laut den Rosenkranz beten und die Menschen links und rechts seufzen, weinen oder das Foto-Handy auf den Heiligen richten. Eine Maske bedeckt das Gesicht, die erstaunlich genau die Züge des Paters wiedergibt, so wie man sie von Fotos kennt. Künstler des Wachsfigurenkabinetts Madame Tussauds in London haben sie angefertigt.

Erzbischof D'Ambrosio, der Obere der Kapuziner-Provinz und die gesamte Experten-Kommission, die die Konservierung des Leichnams begleitete, waren am Donnerstag in San Giovanni Rotondo versammelt, um über die Ausstellung Pater Pios Auskunft zu geben. Unter den Fachleuten auch der Biochemiker Nazzareno Gabrielli, der im Auftrag der Kirche schon vierzig Ordensgründer oder -gründerinnen und andere Personen im Rufe der Heiligkeit exhumiert und konserviert hat.

Exakt berichtet er über das Verhältnis von Temperatur und Feuchtigkeit im Grabe Pater Pios, die dazu geführt hätten, dass sich Wasser im Sarg gebildet habe. Erzbischof DAmbrosio erklärte dazu, es sei eine eigenartige Atmosphäre gewesen, als man Anfang März den Sarg hochzog und ihn schließlich öffnete. Der Körper des Heiligen war erhalten geblieben, das Fleisch sogar noch rosa.

Die Hände des Heiligen hätten „so glatt ausgesehen, als kämen sie frisch von der Maniküre“, sagte er damals zu Journalisten. Aber man habe Pater Pio nicht mehr erkennen können, ein Phänomen, das der Biochemiker Gabrielli von anderen Exhumierungen kennt, wenn die Angehörigen eines Ordens feststellen müssen, dass sich bei der Öffnung des Sargs ihres geliebten Gründers oder ihrer geliebten Gründerin – meistens im Zuge des Selig- oder Heiligsprechungsverfahrens – Gesichtszüge zum Vorschein kommen, die der Erinnerung nicht mehr entsprechen.

So habe man sich im Fall Pater Pios entschlossen, die Silikonmaske anfertigen zu lassen, um, wie der Erzbischof hinzufügte, „das Gesicht zu zeigen, das wir kennen“. Es sei übliche Praxis der Kirche, meinte DAmbrosio, dass die Kirche große Gestalten exhumiert und dauerhaft konserviert, meistens im Zuge des Verfahrens der Selig- oder Heiligsprechung.

Bei Pater Pio sei es das Besondere, dass dies nun erst nach der Heiligsprechung der Fall gewesen sei – sozusagen im letzten Augenblick, um den Leichnam vor dem Verfall wegen der hohen Feuchtigkeit im Sarg zu bewahren. Doch warum das Ganze? Zumal dies im Falle Pater Pios nun dazu führt, dass Millionen Menschen in das Heiligtum aufbrechen werden – um ihren Heiligen zu sehen, aber auch, um einiges an Geld in San Giovanni Rotondo zu lassen.

Die Skepsis, die es in Italien angesichts der Ausstellung der sterblichen Überreste Pater Pios gibt, macht sich an zweierlei fest: An der Glut und der Inbrunst, mit der das einfache Volk diesen Heiligen liebt, worüber ein intellektueller Dünkel eher die Nase rümpft. Dass sich am Rande der Pater Pio-Verehrung reichlich Kommerz und ein blühender Handel mit teilweise abstoßendem Kitsch abspielt, verstärkt diesen Vorbehalt.

Der erste Zehn-Euro-Schein lag am Donnerstag bereits vor dem Sarg aus Glas. Und dann der heilige Kapuziner selbst, der mit einer Selbstverständlichkeit vom Himmel, vom Teufel und der Hölle sprach, die sich für aufgeklärt haltende Menschen eher verschreckt. „Von der christlichen Heiligkeit zu sprechen, verlangt auch einen Bezug zu den Heiligen, die die lebendigste Inkarnation dieser Heiligkeit sind“, hatte Kardinal Saraiva Martins bei seiner Predigt auf dem Platz vor Basilika des heiligen Pio gesagt.

Gerade der Leib des Paters gehöre zu den materiellen Spuren, in denen sich Gottes Gnade gezeigt habe, fügte später Erzbischof D'Ambrosio hinzu, deshalb wolle man diese erhalten. Das sei auch der Wunsch der „weltweiten Klientel“, die der Pater nun einmal habe.

Und diese Klientel scheut sich nicht, den intellektuellen Dünkel dieser Welt kräftig herauszufordern. An einer besonders hohen Stelle des Gargano-Gebirges, in der Nähe der Gemeinde Rignano Garganico, zwanzig Minuten von San Giovanni Rotondo entfernt, soll eine riesige Statue des heiligen Pio entstehen, mit ausgebreiteten Armen, die an Höhe selbst den Christus von Rio de Janeiro überragen wird. Dann kann man den wundertätigen Mönch von überall in der ganzen Provinz sehen, von der Provinzhauptstadt Foggia wie auch von den Schiffen aus, die an der Küste Apuliens vorüberziehen.

Foto: (c) SIR

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