Versöhnung in letzter Minute

18. Dezember 2008 in Spirituelles


Eine 85-Jährige liegt in Hannover vier Tage hilflos vor ihrem Bett - Eine ungewöhnliche Geschichte aus Deutschland - Von Stephan Weddig


Hannover (kath.net/idea)
Die merkwürdige Freundschaft beginnt 1977. Eine Sekretärin der Pressestelle der hannoverschen Landeskirche – Anneliese K. – hat eine Frage an einen Journalisten im fernen Hessen. Die Telefonate werden häufiger. Der junge Journalist ist bewegt vom Schicksal der Kirchensekretärin, das er nach Wochen erfährt: 1945 ist die damals 22-jährige Danzigerin von sowjetischen Soldaten viele Male vergewaltigt worden. Danach flüchtete sie mit ihrer Mutter (der Vater starb in den Kriegswirren) in die Wälder.

Aus Zweigen und Blättern bastelten sie sich eine Bleibe. Nachts wagten sie sich in die Vororte Danzigs, um von dem zu leben, was die ohnehin hungernde Bevölkerung übrig ließ. Erst Ende 1946 kamen sie in einem verplompten Viehwaggon bis an die Grenze der Sowjetischen Besatzungszone in Thüringen. Mit gefälschten Papieren gelangten sie schließlich bei Nacht und Nebel bis Hannover, wo sie seither lebt. Sie hat einen Bruder, dessen Sohn sie zusammen mit ihrer Mutter jahrelang aufzog. Später kam es zum Bruch mit Bruder und Neffen.

Bruder und Schwester begannen sich zu hassen. Der Journalist versucht immer wieder eine Versöhnung. Er ruft – ohne ihr Wissen – an Heiligabenden den Bruder in Düsseldorf an, er möge doch bitte mit seiner Schwester wenigstens an diesem Tage einmal telefonieren. Er hat es nie getan. Sie selbst lehnt auch nur einen Gedanken daran ab. Sie sind beide Dickschädel.

Anneliese K. pflegt ihre Mutter bis zu deren Tode 1987 im Alter von 99 Jahren. Der Journalist beerdigt sie in Hannover. Frau K. isoliert sich fortan immer mehr.

Sie wird noch misstrauischer. So gut wie niemand darf in ihre kleine Wohnung. Der Journalist ruft sie jeden Sonntagabend an. Zu den Feiern seiner Familie kommt sie gern. 1998 reist er mit ihr nach Danzig. Denn einmal will die inzwischen 75-Jährige noch ihre geliebte Heimatstadt sehen.

Es ist ein Besuch mit vielen Tränen – war doch das Elternhaus und anderes Vertrautes von den neuen Herren der alten, berühmten Hansestadt zerstört worden.

Am Ewigkeitssonntag dieses Jahres ruft der Journalist wieder abends an. Niemand geht ans Telefon. Er versucht es Montag und Dienstag. Schließlich verständigt er die Polizei. Sie bricht die Tür auf und findet die 85-Jährige vor ihrem Bett liegend, aus dem sie gefallen ist. Vier Tage hat sie dort gelegen und keine Kraft mehr gehabt, sich ans Telefon zu bewegen. Sie kommt auf die Intensivstation eines nahe gelegenen Krankenhauses. Da der Journalist weit weg wohnt, besucht sie sein Sohn aus dem näheren Braunschweig. Bevor er wieder geht, fragt er: „Darf ich mit Ihnen beten?“ „Nein, bete allein zu Hause. Ich kann nicht.“

Bei einem der weiteren Besuche darf er beten. Sie bedankt sich sogar.Zehn Tage, nachdem sie gefunden wurde – am Vorabend des 2. Advents –, wird der Journalist von einer Ärztin der Intensivstation angerufen: Frau K. gehe es sehr schlecht. Ob sie wirklich lebensverlängernde, aber dauerhaft schmerzhafte Maßnahmen einleiten sollten? Der Journalist bittet für seine Entscheidung um Aufschub. Er komme so schnell wie möglich. An ihrem Bett auf der Intensivstation am Sonntagnachmittag versucht er noch eine Versöhnung zumindest mit ihrem Neffen zu erreichen.

Frau K. ist so schwach, dass sie nicht mehr sprechen kann. Deshalb schreibt er auf einen Zettel: „Darf Ihr Neffe kommen?“ Links steht „Ja“, rechts „Nein“. Sie tippt auf „Ja“, nachdem sie dem Journalisten jahrelang untersagt hat, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Der Neffe – ein Topmann in der Wirtschaft – aus der Nähe von Hamburg ist tatsächlich zwei Stunden später an ihrem Bett. Der Journalist lässt die beiden allein. Nach einer Stunde kommt er dazu, schreibt auf einem Zettel: „Ist jetzt Frieden mit Ihrem Neffen?“ Links „Ja“, rechts „Nein“. Sie legt den Finger auf „Ja“. Dann betet der Journalist das Vaterunser. Der Neffe spricht die zweite Hälfte mit. Die Totgeweihte versucht, ein Ja zu hauchen. Kurze Zeit später stirbt sie.


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