Das Phänomen Merkel

3. September 2009 in Deutschland


Deutschland, die CDU und die beste Ich-AG - Von Martin Lohmann


Berlin (kath.net)
Weckruf? Warnschuss? Könnte das schlechte Abschneiden der CDU bei den Landtagswahlen im Saarland und in Thüringen ein Grund für Angela Merkel sein, im Bundestagswahlkampf nun mehr Profil und – wie manche sagen – Kante zu zeigen? Haben selbst innerparteiliche Kritiker Recht, die jetzt weniger Unverbindlichkeit und mehr Verbindlichkeit von der CDU-Chefin verlangen?

Es wäre zu einfach, mit einer einfachen Erklärung zu kommen. Doch die Zeit ist nun da, um einen Monat vor dem entscheidenden Urnengang zu fragen: wer ist eigentlich diese Angela Merkel? Wofür steht sie? Hat das C unter und mit ihr eine Chance? Wie christlich ist die Union noch? Wie christlich könnte und dürfte sie denn sein?

Um keine Missverständnisse zu schaffen: Die Ohrfeige für die Union an der Saar und im Freistaat Thüringen hat viele Gründe. Einer davon, über dessen Gewicht man trefflich streiten kann, könnte aber eben auch sein, dass manche Wähler woanders ihr Wahlglück suchen, weil, ja weil die Union unter ihrer amtierenden Chefin das C hat verkümmern lassen. Worin liegt denn der Mehrwert dieser Partei noch? Worin unterscheidet sie sich?

Man sagt, Angela Merkel sei der beste Grund, CDU zu wählen. Mag sein. Tatsächlich sind für viele heute Merkel und Union Synonyma. Austauschbegriffe. Viele wählen die Union, weil es Merkel gibt. Was aber passiert mit dieser Partei, wenn es eines Tages Merkel nicht mehr geben wird? Wenn heute das „System Merkel“ die Union ist, was ist die Union denn an jenem Tag, da es das System Merkel nicht mehr geben wird? Warum sollte man sie dann wählen, wenn heute Merkel der Grund ist, CDU zu wählen? Frisst das Karrieremodell Merkel das Profil einer Partei? Könnte längerfristig ein Schaden für die Partei entstehen?

Es gibt also schon Gründe, dem Phänomen Merkel nachzuspüren. Wer ist sie? Was will sie? Wer oder was prägt sie?
Es besteht kein Zweifel: Sie weiß, was Macht ist. Und sie weiß, mit der Macht zu spielen. Sie hat gerne Macht. Es wird sie freuen, wenn sie zur mächtigsten Frau der Welt erklärt wird. Angela Merkel ist gerne Kanzlerin. Sie ist gerne mächtig. Aber: Wer ist eigentlich Angela Merkel? Vor der Bundestagswahl stellen vor allem viele Christen diese Frage, denn diese Frau ist auch noch Vorsitzende der Christlich Demokratischen Union. Sie ist Chefin der CDU, jener Partei Deutschlands, die vom katholischen Konrad Adenauer einmal sehr geprägt wurde. Dieser Vater der modernen deutschen Demokratie stand für Freiheit in Verantwortung, für christliche Werte und für eine Politik mit klaren Koordinaten. Doch wofür steht Angela Merkel? Was verbindet sie mit dem C der CDU?

Eine Frage, die schon häufig gestellt wurde – und nicht wirklich beantwortet werden kann. Denn wofür sie steht, welche Beziehung sie zum C hat, was sie wirklich über Familie denkt und was ihr beispielsweise die Soziale Marktwirtschaft bedeutet, das kann wohl niemand endgültig sagen. Sie selbst hat sich zwar schon häufiger auch zu diesen Fragen geäußert, doch richtig prägnante und belastbare Aussagen lassen sich nicht finden. Es sind eher Umschreibungen, Formulierungen, denen – so bemängeln Kritiker – das letzte Quäntchen Unverbindlichkeit nicht genommen wurde.

Die protestantische Pastorentochter ist zwar die Vorsitzende der Christlich-Demokratischen Partei Deutschlands und prägt wie keine andere das neue Gesicht der ehemaligen Adenauer-Partei, doch selbst in der Union könnte man sie sich auch als Vorsitzende einer anderen Partei vorstellen. Ein unverwechselbares Identitätsmerkmal wie das C – so wie einst bei Konrad Adenauer, Rainer Barzel oder Helmut Kohl – will ihr niemand so ohne Weiteres aufdrücken. Als erste Beschreibung für sie wird einem wohl nicht das Christliche einfallen. Eher schon: Sie ist pragmatisch, machtbewusst, clever, zielstrebig, cool und selbstbewusst. Das C stört an ihr zwar nicht, aber es macht sie auch nicht aus. Richtig zum Glänzen und Strahlen hat sie es bislang nicht gebracht. Als eine aus christlichem Geist geformte Sozialpolitikerin würde sie einem wohl auch nicht in den Sinn kommen. Ist sie eine Bekennerin? Oder eher eine geschmeidige Wendekanzlerin? Eine gnadenlose Ich-AG?

Merkel hat zweifellos, was jeder gute Machtmensch haben muss: einen „unbedingten Willen zur Macht“. Auch Helmut Kohl und Gerhard Schröder hatten den. Und wer Merkel aus der Nähe kennt, weiß nur zu gut, wie diese zunächst scheue und unscheinbare junge Ost-frau von Helmut Kohl gelernt hat. Ihr Gespür für Macht, wozu das Nutzen des richtigen Augenblicks gehört, bewies sie 1999, als sie sich ebenso berechnend wie kaltschnäuzig von der Generalsekretärin der CDU unter dem Parteivorsitzenden Schäuble zu dessen Nachfolgerin während der Parteispendenaffäre katapultierte.

Die Tatsache, dass ihr Förderer und Alt-Kanzler Helmut Kohl angeschlagen war, nutzte sie zielgenau für sich aus. Mit einem Namensartikel in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ hatte sie einerseits die CDU von Helmut Kohl abgerückt, und indem sie einen Konflikt zwischen Kohl und Schäuble inszenierte, gelang ihr als lachender Dritter der Gewinn der Macht. Sie wusste, dass man sie immer wieder unterschätzt, und sie nutzte dieses Wissen, in dem sie genau den nächsten Schritt plante und dann konsequent gegangen ist. Wenn es sein muss, entscheidet sie hart und konsequent. Und dabei hat sie als machtbewusste Frau stets sich selbst im Blick.

Angela Merkel strebte früh nach Macht, und sie gibt das auch gerne zu. Aber ihren Biografen fällt auf, dass sie die Frage, wozu denn eigentlich Macht, niemals wirklich beantwortet hat. Auch für ihre Weigerung, sich wirklich dauerhaft festzulegen, klar und deutlich Position zu beziehen, gibt es Erklärungen in ihrer Lebensgeschichte. Sie habe als Teil der Gefahrenabwehr in der DDR-Diktatur gelernt, nie zu zeigen, was sie wirklich denkt, heißt es. Tatsächlich musste sie ja mehr als drei Jahrzehnte in einem Unrechtssystem zurechtkommen. Und sie kam sehr gut zurecht, schaffte es sogar bis in die Bildungselite der DDR. Dabei half ihr sicherlich die angelernte Fähigkeit, niemals zu zeigen, was man wirklich denkt, wofür man wirklich steht, welche Überzeugungen einen im Innersten prägen und bewegen. Wie jeder andere Mensch ist sie durch ihre Biografie geformt. Und diese Biografie fand in entscheidenden Jahren in der DDR statt. Abgeordnete in Berlin und andere, die Angela Merkel kennen, führen darauf noch heute ihr erkennbares und geradezu notorisches Misstrauen gegenüber fast jedermann zurück.

Angela Merkel gilt nicht als Ideologin. Sie kann, wie man in der Wirtschafts- und Finanzkrise beobachten konnte, selbst grundsätzliche Positionen um 180 Grad drehen. Begriffe wie „Soziale Marktwirtschaft“ und notfalls auch „Verstaatlichung“ gehen ihr gleichermaßen locker über die Lippen. Es ist daher schwer zu klären, inwieweit sie christdemokratisch oder/und konservativ ist. Dies sei, so analysiert ein Politikwissenschaftler, eine generelle Frage: Was ist eigentlich heute in einer Zeit der Säkularisierung noch typisch christdemokratisch oder typisch sozialdemokratisch? Merkel entspreche in ihren politischen Grundüberzeugungen eigentlich sogar sehr viel stärker dem normalen Typus des Wechselwählers, der auch in vielen Punkten gar nicht so sehr festgelegt sei. Sie kann sehr schnell, wenn es sein muss, inhaltlich die Positionen wechseln. Sie ist unideologisch und sie ist pragmatisch.

Das ist ein Vorteil, aber auch zugleich ein Nachteil. Denn natürlich muss sie auch als Parteivorsitzende einer christlich-demokratischen Partei dieser ein prägnantes christlich-demokratisches Profil geben. Müsste sie, wenn sie denn wollte – möchte man ergänzen. Der Politikwissenschaftler nennt Anfang 2009 Angela Merkel in einem Zeitungsbeitrag eine „gefesselte Kanzlerin“, der es in den Bankenkrise auf beeindruckende Weise gelungen sei, in der Bevölkerung hohes Ansehen zu genießen. Sie sei kein Populist, doch habe sie eine „seherische Fähigkeit zum Erkennen des Populären entwickelt“. Merkel sei „flink in der Analyse der politischen Situation, die sie jeweils machtpolitisch prüft“.

Merkel kann man als „gelernte“ Christdemokratin bezeichnen. Dabei weiß sie zwar um die tradierten Werte dieser Partei, doch es fehlen ihr die inneren Bezüge. Auch deshalb hat die mächtigste Frau der Welt in ihrer Partei keine eigene Hausmacht. Sie ersetzt diesen Mangel durch Misstrauen und knallharten Charme. Große Visionen werden ihr nicht nachgesagt. Große Durchsetzungskraft hingegen schon. Innerhalb der Partei herrscht bis hinunter in die Ortsverbände eine Atmosphäre des Duckens und auch der Ängstlichkeit. Selbst gestandene Volksvertreter im Deutschen Bundestag sagen mit fast schon trotziger Bewunderung geradezu selbstenthauptend: „Mutti kritisiert man nicht.“ Das System Merkel ist – solange sie wie in diesen Monaten in Umfragewerten ganz oben ist und weiter Kanzlerin bleiben kann – stabil.

Wegen der fehlenden Hausmacht und dem Ersatz durch charmante Härte könnte es aber irgendwann sehr schnell zusammenbrechen. Churchill soll einmal gesagt, dass starke Persönlichkeiten starke Persönlichkeiten um sich herum haben wollen – und schwache nur schwache. Im System Merkel haben starke Querdenker und loyale Kritiker bislang keinen Platz. Widerspruchsgeist ist nicht ihr Ding. Kritik lässt eher das ohnehin reichlich vorhandene Misstrauen bei ihr wachsen denn das Interesse an anderen und gegebenenfalls besseren Argumenten.

Merkel hat Köpfe mit liberal-konservativem Profil systematisch verdrängt. Aber nicht aus ideologischen Gründen, sondern aus reinem Machtinstinkt. Denn Profil nebenan kann störend wirken. Sie ist keine Ideologin. Ihre Ideologielosigkeit könnte – so ein politikwissenschaftlicher Experte – in der politischen Welt der Gegenwart „auch als ihre Stärke interpretiert werden, weil die Zeit der ideologischen Überhöhung der Politik vorbei und politische Beweglichkeit gefordert“ sei. Merkel sei nicht nur eine „Virtuosin des eigenen Machterhalts“. Mit ihrem Politikstil zeige sie zugleich, dass ihr die alten Kämpfe der Bundesrepublik (West) fremd seien. Eine große politische Vision hat Angela Merkel nicht. Sie arbeitet. Sie erhält ihre Macht. Sie will die Tagesaufgaben lösen. Sie ist nüchtern. Aber nicht zuletzt deshalb wächst mit ihr und durch sie die Gefahr, dass viele Wähler ihre Partei eines Tages als zweite sozialdemokratische Partei ansehen und Stammwähler nicht wählen gehen.

Das mag sich wegen einer gerade in diesen Kreisen noch vorhandenen Loyalität der Treue vielleicht nicht sofort zeigen, aber es wird zunehmend zu einem Problem für die Union. Schon jetzt gibt es bei den ehemaligen Stammwählern starke Einbrüche. Und weil es bei den Konservativen häufig so ist, dass sich dieser Protest durch stille Resignation zeigt, wird er in Berlin zu wenig wahrgenommen und das Schweigen regelrecht überhört. Es scheint auch so, als nehme man diesen Verlust in Kauf. Jedenfalls unter Merkel, die machtbewusst eiskalt rechnet und lieber nach neuen Wählerschichten sucht, als treue Freunde zu halten.

Genau das könnte einmal ein Problem für die Partei sein. Denn wofür steht sie noch, wenn sie sich von anderen sozialdemokratischen Parteien nicht unterscheidet? Freilich: Das Original, nämlich die SPD, steht heute – immer noch – viel schwächer da als die CDU. Denn diese hat eine geschickte und wendige Kanzlerin mit hohem Ansehen in der Bevölkerung. Doch worin liegt eines Tages der Mehrwert dieser einmal einzigartigen C-Partei, wenn dieser „Pluspunkt“ Merkel nicht mehr zieht? Wird man dann nicht sagen müssen, Merkel habe das C entleert und das Profil „ihrer“ Partei kantenlos abgeschmirgelt? Die Sphinx im Kanzleramt, wie sie bereits genannt wurde, die durch ihren unübertroffenen Machtinstinkt womöglich länger regieren könnte als Helmut Kohl, darf das Enttäuschungspotential bei denen, die ihr wegen der Überzeugung nicht besonders nahe am Herzen liegen, nicht leichtsinnig unterschätzen.

Die deutsche Kanzlerin verfügt über eine hohe Anpassungsintelligenz und ist eine brillante Amtsinhaberin im Kanzleramt. Mit ihr gibt es erstmals einen neuen Typ des Kanzlers in Deutschland. Im Kanzleramt gab es Staatsmänner – und Kanzler. Konrad Adenauer, Willy Brandt, Helmut Schmidt und Helmut Kohl waren Persönlichkeiten, sie waren profilierte Staatsmänner, die Deutschland regierten. Ludwig Erhard, Kurt Georg Kiesinger und Gerhard Schröder waren „nur“ Kanzler. Die Nachfolgerin des letzten Kanzlers aber ist lediglich noch Amtsinhaberin. Eine clevere und sehr machtbewusste dazu. Sie ist als Bundeskanzlerin eher eine Bundesmanagerin. Eine machtbewusste und misstrauische dazu. Sie ist ein „Karrieremodell“ ohne klares Profil. Und ein Modell, welches das Profil „ihrer“ Partei geradezu schluckt.

Dabei kann auch Angela Merkel klare Worte sagen, die man allerdings suchen muss und die – leider – nicht zu jenem Repertoire gehören, das viele mit ihr verbinden. Jetzt im Wahlkampf zum Beispiel findet sie vor katholischem Publikum sehr katholische Worte und kann reden wie jemand, der christliches oder gar christkatholisches Denken und Fühlen im Blut hat. Sie hat eben – das wird auch hier deutlich – eine hohe Begabung zur Situationserfassung und jeweiligen Anpassung an das Publikum. Doch es fragt sich, wie belastbar solche Reden sind und ob sie ein Verfallsdatum jenseits des Wahlabends Ende September haben. Vor allem viele katholische Wähler sind da – aus der über Jahre gewachsenen und sicher auch weiter wachsenden Erfahrung mit der Parteivorsitzenden – mehr als skeptisch.

Angela Merkel ist als CDU-Vorsitzende in der Rolle der Amtsinhaberin im Kanzleramt irgendwie auch eine Gefangene. Aber wer genau hinschaut, entdeckt in der Weise, wie sie Kanzlerin ist, auch den Kern ihres Wesens als CDU-Vorsitzende. Denn zur Wahrheit gehört nicht nur, dass sie keine wirkliche Kompetenz in Wirtschaftsfragen hat, sondern auch letztlich keine große Kompetenz für Freiheit. Sie ist eine durch ihre DDR-Biografie selbstverständlich geprägte Machtfrau, die in einem Kontrollstaat leben musste und damit erfolgreich zurechtkam. Sie ist, anders als etwa Adenauer und Kohl, keine Kanzlerin der Freiheit und der Sicherheit. Sie ist lediglich eine Kanzlerin der Sicherheit – und der Gleichheit. Unter ihrer Verantwortung kam es zum sogenannten Antidiskriminierungsgesetz, was als Gleichbehandlungsgesetz letztlich ein Gleichheitsgesetz ist. Auch deshalb, weil sie keine wirkliche Kompetenz zur Freiheit verkörpert, fehlt mit und durch diese Vorsitzende der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands Wesentliches vom C.

Das kann man ihr nicht vorwerfen, aber man kann es erklären. Wie Adenauer durch seine Biografie ein Kanzler der Freiheit in Sicherheit aus christlicher Verantwortung für ein ganzes Volk wurde, so prägt seine späte Nachfolgerin ebenfalls die eigene Biografie, in der eine gewisse Wendigkeit als Anpassungsintelligenz zum persönlichen Erfolg führte. Die pragmatische, anpassungsfähige wie anpassungsstarke und visionsfreie Bundesmanagerin hat viele Fähigkeiten. Leider aber wohl nicht wirklich eine im C verankerte Kompetenz zur Freiheit.

Angela Merkel spricht gelegentlich gerne von den drei Wurzeln der CDU: christlich-sozial, konservativ und liberal. Doch eine CDU-Chefin, die allen Ernstes in einer Sonntagabend-Talk-Sendung über sich verrät, dass sie „mal liberal, mal konservativ und mal christlich-sozial“ sei, offenbart leider auch, dass sie die Kern-Identität der Union nicht verstanden hat. Denn aus den drei Wurzeln sind nicht drei verschiedene Bäume entstanden, auf die man je nach Thema hüpfen kann. Entstanden ist ein einziger, kräftiger und bestens verwurzelter Baum mit großer Krone, der sich aus eben jenen drei Wurzeln speist. Man kann nicht „mal liberal, mal konservativ und mal christlich-sozial“ sein, jedenfalls nicht als Parteiführerin dieser Union.

Aus den Wurzeln ist nicht nur ein einziges, sondern auch ein einzigartiges starkes Gewächs geworden. Adenauer und Kohl hätten noch gewusst, dass es nicht um ein „oder“, sondern um ein „und“ geht. Liberal und konservativ und christlich-sozial – das macht die Einzigartigkeit der Union aus. Wer an der Spitze meint, aus dem Und ein Oder machen zu können, verrät nicht nur etwas über die eigene Wandlungsfähigkeit im Umgang mit Teilprofilen, sondern offenbart auch machtvolle Defizite im
Kern-Verständnis der „eigenen“ Partei. Auch ein Vorsitz kann auf Dauer nicht darüber hinwegtäuschen, dass die eigene Partei möglicherweise weniger die eigene ist, als das auf den ersten Blick zu vermuten wäre. Denn wer das Profil aufsplitten will in verschiedene, voneinander getrennte Nebeneinander, macht die Frage nach dem C und dem modernen Konservatismus – gewollt oder nicht – zur Gretchenfrage der Union.

Ein langjähriges Mitglied des Parteipräsidiums, jemand, der die derzeitige CDU-Chefin lange genug erleben und beobachten konnte, hat die Erkenntnis gewonnen, dass die Vorsitzende die Partei und ihren Kern bis heute nicht verinnerlicht hat. Für Merkel sei „die Partei nichts als ein Instrument“. Und dieses Instrument benutze „sie lediglich für sich“. Ist Gretchen vielleicht selbst die Gretchenfrage?

Es bleiben auch und gerade in diesem Wahlkampf offene Fragen: Wofür steht Angela Merkel – außer für sich selbst? Was verbindet die C-Chefin mit dem C? Welche Grundsätze hat sie wirklich? Es sieht alles danach aus, dass sie wieder Kanzlerin wird. Dann stehen diese Fragen zunächst einmal nicht mehr auf der Tagesordnung. Doch irgendwann werden diese Fragen wieder da sein, weil es die CDU auch nach einer Angela Merkel geben wird und geben sollte. Und bis dahin hat sie, von der man gelegentlich den Eindruck haben kann, sie lebe konsequent in einem Überzeugungsnirwana, selbst die Chance, der inhaltlichen Entleerung entgegenzuwirken und den lange vorhandenen Mehrwert einer einzigartigen politischen Partei nicht zu verspielen.

Martin Lohmann (52) ist katholischer Publizist, Fernsehmoderator und Journalist. Soeben erschienen ist sein Buch „Das Kreuz mit dem C. Wie christlich ist die Union?“.


© 2009 www.kath.net