26. Februar 2010 in Weltkirche
Der Missbrauchsskandal lastet schwer auf dem Salesianer-Orden - Von Christoph Renzikowski (KNA)
München (kath.net/KNA)
Pater Josef Grünner ist noch immer fassungslos. Mitbrüchiger Stimme und fahlem Gesicht ringt der deutsche Provinzial der Salesianer Don Boscos in seinem Münchner Büro um Worte, das Sakko hat er längst abgelegt. «Wir rotieren seit Aschermittwoch», sagt der 60-Jährige und klappt eine Aktenmappe auf. Es ist ein Sündenregister.
Via E-Mail, Telefon oder Brief haben sich in den vergangenen zwei Wochen etwa 20 Personen mit Anklagen an den Orden gewandt. Auch wenn die Fälle von Missbrauch und Misshandlung schon lange zurückliegen und einige bereits bekannt waren, stellen sie in ihrer Summe eine große Belastung dar. Grünner klingt erschöpft.
Die Salesianer Don Boscos sind nicht irgendein Orden. Sie sind die erste katholische Adresse, wenn es um die Zuwendung zu Kindern und Jugendlichen aus schwierigen Verhältnissen geht. «Damit das Leben junger Menschen gelingt», lautet das Ordensmotto. Die Vorwürfe treffen daher ins Mark. Kämen jetzt noch aktuelle Vorhaltungen hinzu, wäre das der «Super-Gau», stellt der Provinzial fest.
«Scham und Schande» empfindet Grünner nach eigenen Worten aber auch für das, was vor Jahrzehnten in seiner Gemeinschaft passierte. Von Erniedrigungen ist die Rede, von Faustschlägen und Stockhieben. vieles erinnert an die Heimkinder-Problematik; es geht aber auch um schwere sexuelle Übergriffe.
1968 wurde ein Salesianer wegen «Verführung Minderjähriger» zu vier Jahren Haft verurteilt. Er arbeitete im Knabenheim Kemperhof in Bendorf bei Koblenz und wurde umgehend von seinen Gelübden entbunden. Mitte der 1990er Jahre musste dort ein weiterer Erzieher aus demselben Grund für sieben Jahre ins Gefängnis, ein anderer erhielt drei Jahre Freiheitsstrafe.
Die Aufklärung von Vorwürfen, die sich auf Vorkommnisse vor 35 und mehr Jahren beziehen, ist schwierig. Zu Fällen im 2005 geschlossenen Lehrlings- und Schülerheim Berlin-Wannsee aus der Zeit zwischen 1960 und 1975 wurden mittlerweile zwölf Ordensangehörige und damalige Mitarbeiter befragt. Ein 2008 verstorbener Mitbruder saß nach übereinstimmenden Aussagen in Untersuchungshaft. Aber warum? Ein ehemaliger Schüler gibt dazu an, der Pater sei durch einen Racheakt von Jugendlichen der Einrichtung in Verruf geraten. Nun soll die Einsicht in Akten des Berliner Senats und des Erzbistums Berlin Klarheit schaffen. Außerdem wurde ein Jurist eingeschaltet.
Ende der 1960er Jahre hat sich wahrscheinlich ein weiterer Pater in Berlin an Jugendlichen vergangen. Einzelheiten sind nicht bekannt, doch halten Grünner und sein sieben Personen zählendes Aufklärungsteam die Vorwürfe für glaubwürdig. Der mutmaßliche Täter könne nicht mehr befragt werden. Er lebe hochgradig dement in einem Pflegeheim.
Über seine Leidensgeschichte in einem Augsburger Schülerheim der Salesianer berichtete ein Opfer der örtlichen Zeitung. Daraufhin gab ein beschuldigter Ordensmann eine eidesstattliche Erklärung ab, dass er sich nichts habe zu Schulden kommen lassen. Grünner neigt derzeit dazu, seinem Mitbruder zu glauben. Geblieben sind Vorwürfe gegen einen anderen einstigen Salesianer, der damals Praktikant in Augsburg war. Nach der Anhörung zweier weiterer damaliger
Mitarbeiter ist der Provinzial zum Schluss gekommen: Die Geschichte aus den 1960er Jahren stimmt. In den nächsten Tagen will Grünner mit dem Opfer selbst sprechen. Er erhofft sich davon auch Hinweise, wer noch betroffen sein könnte.
Der Kontakt mit den Anklägern bereitet dem Provinzial Mühe. Er will allen gerecht werden. Aber wie soll er damit umgehen, wenn bereits im zweiten Satz Entschädigungszahlungen gefordert werden für nicht mehr zweifelsfrei aufklärbare Vorkommnisse? Wenn Briefeschreiber ihren Forderungen Nachdruck verleihen, indem sie mit weiteren Enthüllungen in der Presse drohen? Wie lassen sich schuldhaft von Ordensangehörigen verletzte Menschen von Trittbrettfahrern
unterscheiden?
Vergangenheitsbewältigung und Opferhilfe sind das eine. Das andere sind Anstrengungen zur Vermeidung weiterer Übergriffe. Mit seinem Stab und den Einrichtungsleitern arbeitet der Provinzial, der selbst bei den Salesianern im Internat war, an neuen Standards zur Prävention. Geplant ist die Benennung einer Vertrauensperson an jedem Standort und die Einführung einer Meldepflicht für alles, was auf Missbrauch oder Misshandlung hindeuten könnte. Kartelle des Schweigens soll es künftig nicht mehr geben.
Wie die Ordensgemeinschaft mit den in ihren Reihen verbliebenen Tätern weiterleben kann, auch dafür muss der Provinzial noch eine Lösung finden. Durch ihre Gelübde gehören sie weiter «zur Familie», ganz gleich, was sie angerichtet haben.
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