21. Mai 2010 in Aktuelles
Das Grabtuch von Turin eine Bericht von der zweiten Kath.Net-Leserreise zum Grabtuch von Turin - Von Marie Czernin
Turin (kath.net)
An die 2 Million Pilger sind es bereits, die seit Anfang April nach Turin strömen, um eines der geheimnisvollsten Bilder zu betrachten, das der Forschung immer noch Rätsel aufgibt. Bis zum 23. Mai gewährt die Diözese von Turin ein Zeitfenster, das 4,40 Meter lange Leinentuch mit den verkrusteten Blutspuren und zart-rotem Abdruck eines Mannes zu sehen, davor kurz inne zu halten, es zu verehren und auf sich wirken zu lassen.
Wer ist dieser blutüberströmte Mann, dessen beiderseitiger Körperabdruck schwer aber doch deutlich erkennbar ist? Kann es wirklich ein Abbild Jesu sein, der vor 2000 Jahren seinen Jüngern versprochen hat, er werde bei ihnen bleiben bis ans Ende der Zeit?
Eine Menschenschlange bahnt sich den Weg durch den Park und die Vorhöfe bis hin zur Basilika San Giovanni in Turin. Gruppen aus aller Welt werden von freiwilligen Helfern freundlich empfangen und angewiesen, sich geduldig in die Reihe einzuordnen und zügig voran zu gehen.
Alles ist perfekt organisiert, was für zum Chaos neigende Italiener allein schon ein Wunder ist. Es gibt kein Drängeln, keine laute Beschwerde, und je mehr sich die Menschen der Basilika nähern, desto ruhiger und friedlicher scheinen nicht nur sie, sondern auch die Ordner zu werden.
Das Innere der Kirche ist in ein wohliges, dunkles Licht gehüllt, nur die Seitenaltäre sind schwach beleuchtet. Sie sollen nicht von der wichtigeren Lichtquelle ablenken, die im vorderen Altarbereich "la Sindone" - das Grabtuch - ausleuchtet. Die Pilger fühlen sich von diesem durchleuchteten Stück Stoff, das von einem roten Samtvorhang umrahmt ist, wie von einem Magnet angezogen.
Vier, fünf Minuten können sie davor verweilen, ein Vorbeter hält eine kurze Meditation, die dem Betrachter die blutüberströmten Wundmale des Gekreuzigten vor Augen führen am Vorderkopf, an der rechten Seite des Brustkorbes, an den überkreuzten Händen, am Hinterkopf, entlang des Rückens und an den Füßen bevor die Pilgergruppe gebeten wird, der nächsten Gruppe ihren Platz zu überlassen und sich durch die samtglänzende Dunkelheit dem Seitenausgang der Basilika zu nähern.
Draußen angekommen, zieht es viele wieder ins Innere der Kirche hinein, weshalb sie diesmal den Haupteingang benützen, um im hinteren Bereich der Kirche aus einer größeren Distanz noch einmal den Blick auf das beleuchtete Grabtuch zu werfen. Hier können sie verweilen, so lange sie wollen und genug Plätze frei sind.
Für diese Erfahrung kommen Menschen von Tokio bis Amerika nach Turin, Gläubige, Neugierige und Skeptiker. Und jetzt, seitdem der Eiserne Vorhang die Welt nicht mehr in Ost und West teilt, sind es vermehrt auch orthodoxe Pilger aus Russland und anderen orthodoxen Ländern, die oft zum ersten Mal vor dem Grabtuch stehen.
Gerade für orthodoxe Christen besteht kein Zweifel, dass es sich hier um die größte und bedeutendste Reliquie der Christenheit handelt, auch wenn einige Wissenschaftler immer noch behaupten, der zu Tode gefolterte Mann auf dem Leinentuch sei eine Fälschung aus dem Mittelalter.
Schwester Anastasia, eine russisch-orthodoxe Nonne aus Vladimir, ist den Tränen nahe, als sie sich andächtig dem Grabtuch nähert. Später reagiert sie jedoch etwas skeptisch, als ich ihr in einem angrenzenden Bücherladen meine Liebe zu Russland beteuere und ihr zu erklären versuche, dass ihr Gott auch unser Gott, und zwar der Gott der Katholiken sei.
Vor zwanzig Jahren ist der Eiserne Vorhang gefallen, doch ein unsichtbarer Schleier durchtrennt noch immer die Seele der Menschen und schafft eine Distanz, nicht nur zwischen Gläubigen und Atheisten, sondern auch innerhalb der Christenheit. Auch unter den Wissenschaftlern, die sich nun schon seit mehr als hundert Jahren mit dem kostbaren Grabtuch befassen, tobt ein Krieg, der die Geister entzweit.
Seitdem es 1898 dem Amateurfotografen Secondo Pia gelang, ein erstes Photo des wundersamen Antlitzes zu schießen und es in seiner primitiven Dunkelkammer zu entwickeln, zerbrechen sich die Wissenschaftler den Kopf über dieses seltsame Objekt. Secondo Pia selbst ließ vor Schreck fast die beiden belichteten Glasplatten fallen, als das Gesicht des Mannes auf dem Tuchbild darauf immer deutlicher zutage trat.
Auf dem Negativ der Glasplatten hatten sich ganz deutlich die Züge eines Positivs abgebildet, und was vorhin auf der Leinwand nur als geisterhafte Umrisse erkennbar war, sprang dem Fotografen nun wie ein lebendiges Antlitz ins Gesicht. Seit diesem Ereignis lässt dieses Tuch auch den sachlich distanziertesten Wissenschaftler nicht mehr unberührt.
Ganz im Gegenteil: Das Tuch bringt Emotionen zum Vorschein, die ganz menschlich sind: Es strahlt einen Frieden aus, bewegt Gläubige zu Mitleid mit dem zu Tode Geschundenen und führt den Betrachter zu einer tiefen Anbetung, doch bei dem Skeptiker und Agnostiker kann es aufgestaute Wut und Aggressionen auslösen.
Spiegelt die Uneinigkeit der Wissenschaftler nicht auch die Streitigkeiten in unserer Gesellschaft, ja auch in der gespaltenen Christenheit und sogar in der Kirche selbst wider? Und sagte nicht schon Jesus von sich, dass er für viele zum Stein des Anstoßes werde? Man wird den Eindruck nicht ganz los, es ergehe dem Grabtuch heute so ähnlich, wie es auch Jesus zu Lebzeiten ergangen ist: Es wird über ihn wieder Gericht gehalten.
Kein anderes Objekt der Wissenschaft ist genauer und öfter untersucht worden als dieses Stück Leinen. Und wenn auch einige Wissenschaftler immer noch meinen, sie hätten gewichtige Gründe, die gegen die Echtheit des Tuches sprechen, so geben andere Wissenschaftler mindestens so viele Gründe, wenn nicht noch viele mehr, an, die für die Echtheit sprechen.
Dass die C-14 Methode zu unpräzise war, um das Grabtuch zu datieren, darin stimmen inzwischen Gegner und Befürworter überein. Doch entzweit der Streit nicht nur die Gegner und Befürworter des Grabtuches, sondern auch die von der Echtheit des Grabtuchs überzeugte Forscher-Community.
Es wird debattiert, ob es nur ein Grabtuch bzw. Sindone oder gleich mehrere Tücher gab, die ihren Ursprung alle im Grab Jesu genommen haben und demnach der damaligen jüdischen Begräbnissitte entsprechen sollten. Lag nun das Schweißtuch von Oviedo oder das erst vor kurzer Zeit wieder entdeckte zarte Tüchlein von Manoppello an einer besonderen Stelle am Boden neben dem Grabtuch?
Entspricht die Sindone dem nicht von Menschenhand gemachten Mandylion aus Edessa, das aus antiken Quellen seit 544 n. Chr. bekannt ist? Oder ist das Edessabild doch mit dem kleineren Tüchlein von Manopello identisch, auf dem nur das Antlitz des Herrn, dafür aber klar und deutlich, zu sehen ist?
Es gibt noch immer viele unbeantwortete Fragen, doch eines scheint klar: der Mann des Grabtuches war wirklich tot. Er ist auch nicht im Grab bzw. im Grabtuch geblieben, sonst wären nicht nur Anzeichen von Verwesung auf der Sindone feststellbar, sondern das Tuch wäre schon längst mit dem Leichnam gemeinsam verwest.
Das Turiner Grabtuch ist ein Zeichen, ein Hinweis auf den, der wirklich tot war, aber nicht im Tod geblieben ist, erklärte Kardinal Schönborn bei einem Grabtuch-Kongress im Jahre 2002 in seinem Wiener Palais und fügte hinzu: In der Sicht des Glaubens bezeugt das Turiner Grabtuch den Karsamstag, den Tag der Grabesruhe Jesu.
In seiner Meditation vor dem Grabtuch in Turin am vergangenen 12. April sprach Kardinal Schönborn wiederum vom Mysterium des Karsamstags und erklärte: Zur Erlösung des Menschen gehört auch, dass Jesus Christus den Tod "koste", den Zustand des Totseins wirklich durchmacht, wie wir es so erschütternd an der Sindone sehen. Und weiter meinte er: Der Zugang zu diesem Glaubensartikel fällt heute nicht leicht. Die Glaubenswahrheit ist hier in Begriffen aus einer Vorstellungswelt formuliert, die uns heute fremd ist.
Der Gedanke an ein "Reich des Todes", eine "Unterwelt" unterhalb unseres eigenen Lebensraumes, eine "Hölle", die die toten Seelen fasst, scheint unserem modernen rationalen Bewusstsein völlig fern zu liegen. Dieser Glaubenssatz reizt "zur Entmythologisierung, die man hier gefahrlos und ohne Ärgernis scheint vollziehen zu können", wie unser Heiliger Vater in seiner Einführung ins Christentum schrieb.
Papst Benedikt XVI. sprach in seiner Homilie vor dem Grabtuch, als er vor zwei Wochen Turin besuchte, vom Mysterium des Karsamstags, das dem Grabtuch zugrunde liegt und folgerte: Nach den zwei Weltkriegen, nach den Konzentrationslagern und dem Gulag, nach Hiroschima und Nagasaki, ist unsere Zeit, ist unsere Epoche immer mehr zu einem Karsamstag geworden: Die Dunkelheit dieses Tages fordert die heraus, die nach dem Leben fragen, und besonders fordert sie uns Gläubige heraus. Auch wir müssen uns dieser Dunkelheit stellen. Der Karsamstag sei demnach der Tag des verborgenen Gottes.
Verborgen und doch enthüllt leuchtet uns das Antlitz des gekreuzigten Mannes vom Grabtuch entgegen. Ein Antlitz, Abbild des Urbildes, das zum Vorbild aller Christus-Ikonen wurde. Auch die Ikonen einer Ikonostase haben eine doppelte Funktion: sie enthüllen und verbergen gleichzeitig das Mysterium, das sich dahinter im allerheiligsten Altarraum vollzieht.
Vielleicht hilft eine längere Betrachtung des Grabtuches auch dem modernen, rastlosen Menschen, diesen verborgenen Gott wieder neu zu entdecken, sodass er mit Thomas von Aquin ausrufen kann: Jesus, den verborgen jetzt mein Auge sieht, stille mein Verlangen, dass mich heiß durchglüht: lass die Schleier fallen, einst in deinem Licht, dass ich selig schaue, Herr dein Angesicht.
kathTube: Papst Benedikt beim Grabtuch
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