16. September 2010 in Aktuelles
Jeden Tag diese Woche auf kath.net: Exklusive Leseproben von "Apologia pro vita sua" von John Henry Kardinal Newman.
Linz (kath.net)
Man beachte, dass ich hier nicht von einem Zusammenstoß der kirchlichen Autorität mit der Wissenschaft sprechen muss, aus dem einfachen Grunde, weil es keinen solchen gegeben hat, da die weltlichen Wissenschaften nach ihrem heutigen Stande eine Neuheit in der Welt sind. Die Beziehungen zwischen der Theologie und diesen neuen Methoden der Erkenntnis haben noch keine gemeinsame Vergangenheit und man kann in der Tat von der Kirche sagen, sie habe sich von ihnen bisher ferngehalten, wie der stets angeführte Fall Galilei beweist. In diesem Fall exceptio probat regulam (bestätigt die Ausnahme die Regel), denn dies ist der ständig wiederholte Einwand. Auch muss ich nicht auf die Beziehungen zwischen der Kirche und den neuen Wissenschaften eingehen, weil es für mich immer nur um die Frage geht, ob der Unfehlbarkeitsanspruch der zuständigen Autorität geeignet ist, mich zum Heuchler zu machen und weil sie, solange sie keine Entscheidungen über rein physikalische Fragen trifft und nicht von mir verlangt, denselben beizupflichten (was sie nie tun wird, weil sie keine Vollmacht dazu hat), sich durch ihre Maßnahmen nicht in mein Privaturteil über solche Punkte einmischen will. Die Frage lautet schlicht: Hat die Autorität auf die individuelle Vernunft in einer Weise eingewirkt, dass diese keine eigene Meinung mehr haben und nur zwischen einem sklavischen Aberglauben oder einer geheimen inneren Auflehnung wählen kann? Ich meine, dass die ganze Geschichte der Theologie eine solche Vermutung absolut verneint.
Es ist kaum nötig, auf eine so klare Sachlage noch näher einzugehen. Große Männer, nicht der Heilige Stuhl, haben die Initiative ergriffen, sind in der theologischen Forschung vorangegangen und haben der katholischen Welt in theologischen Fragen die Führung gesichert. Man wirft der katholischen Kirche neben vielem anderem allerdings Unfruchtbarkeit vor. Sie habe nur hemmend und störend auf die Entwicklung der Lehre eingewirkt. Das ist ein Einwand, den ich als wahr anerkenne, denn eben darin sehe ich den Hauptzweck dieser außerordentlichen Macht. Es wird mit Recht behauptet, dass die römische Kirche in der ganzen Zeit der Verfolgung nicht einen einzigen großen Geist aufweisen könne. Auch später konnte sie lange Zeit keinen Gelehrten vorweisen. Ihr erster, der hl. Leo, hat nur einen Glaubenssatz gelehrt. Der hl. Gregor, der ganz am Ende des ersten Zeitalters der Kirche lebte, hat keinen Platz in der Geschichte des Dogmas und der christlichen Philosophie eingenommen. Das große Licht des Abendlandes ist bekanntlich der hl. Augustinus. Er, und nicht ein unfehlbarer Lehrer der Kirche, hat dem christlichen Geist Europas Form und Gestalt gegeben. Die früheste und beste Auslegung des lateinischen Gedankengutes müssen wir tatsächlich in der afrikanischen Kirche suchen. Der geistesstarke, allerdings irrgläubige Tertullian ist der Zeit nach der erste und der nicht am wenigsten einflussreichste unter den afrikanischen Theologen. Auch der östliche Geist hat seinen eigenen Anteil an der Gestaltung der lateinischen Lehre. Die freimütigen Gedanken des Origenes sind aus den Schriften der abendländischen Kirchenlehrer Hilarius und Ambrosius ersichtlich und der unabhängige Geist des Hieronymus hat seine eigenen kraftvollen Kommentare zur Heiligen Schrift mit dem Material des kaum rechtgläubigen Eusebius bereichert. Häretische Streitfragen sind durch die lebendige Kraft der Kirche in heilsame Wahrheiten umgewandelt worden.
Dasselbe ist der Fall bei den ökumenischen Konzilien. Die Autorität, angesehene Bischöfe in ihrer imposantesten Erscheinung, befrachtet mit den Traditionen und dem Wetteifer bestimmter Völker und Länder, ließen sich bei ihren Entscheidungen durch den beherrschenden Genius einzelner Persönlichkeiten leiten, die oft noch jung und niederen Ranges waren. Nicht der uninspirierte Intellekt überstimmte die dem Konzil verliehene übernatürliche Gabe, was eine sich selbst widersprechende Behauptung wäre, sondern im Verlauf der Untersuchungen und Beratungen, die in eine unfehlbare Entscheidung mündeten, war die individuelle Vernunft vorrangig. So war Malchion, ein einfacher Priester, für die auf dem Konzil von Antiochien im dritten Jahrhundert versammelten Väter das Instrument, dem häretischen Patriarchen dieses Bischofssitzes entgegenzutreten und ihn zu widerlegen. Eine Parallele zu diesem Beispiel bildet der wohlbekannte Einfluss eines jungen Diakons, des hl. Athanasius, auf die dreihundertachtzehn Väter, die in Nicäa versammelt waren. Im Mittelalter trat der hl. Anselm auf dem Konzil von Bari als Vorkämpfer gegen die Griechen auf. Auf dem Konzil von Trient hatten die Schriften des hl. Bonaventura und, worauf es noch mehr ankommt, die Ausführungen eines Priesters und Theologen, Salmeron mit Namen, auf einzelne dogmatische Entscheidungen einen ausschlaggebenden Einfluss. In manchen Fällen handelte es sich möglicherweise zum Teil um einen moralischen Einfluss, in anderen aber beruhte er auf einer gründlichen Kenntnis der kirchlichen Schriftsteller, auf wissenschaftlicher Vertrautheit mit der Theologie und auf der Überzeugungskraft bei der Behandlung der Lehre.
APOLOGIA PRO VITA SUA
Geschichte meiner religiösen Überzeugungen
John Henry Kardinal Newman
13,5 x 20,5 cm, gebunden, 448 Seiten
Euro 25,60
Mit einem Beitrag von Joseph Kardinal Ratzinger, Papst Benedikt XVI
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