Es gibt keine Alternative zum Dialog mit dem Islam

1. Oktober 2010 in Aktuelles


Das zweite Vatikanum und die Päpste weisen den Weg - Ein Grundsatzaufsatz von Prof. Rudolf Grulich / Die Tagespost


München (kath.net/DieTagespost)
Wer oft islamische Länder besucht und dort für deutsche Gruppen Kontakte in Kirchen und Moscheen knüpft, hat es heute nach einigen Rückschlägen schwer. Ich kannte den Priester Andrea Santoro, der am 5. Februar 2005 in Trabzon in seiner Kirche erschossen wurde. Im Oktober zuvor hatte er unserer Gruppe in seiner Kirche berichtet, dass seine kleine katholische Gemeinde in der rein islamischen Umgebung der Stadt am Schwarzen Meer gute Nachbarschaft mit den muslimischen Anwohnern pflege. Europa war über den Mord an diesem italienischen Priester ebenso betroffen, wie im April 2007, als drei Protestanten im türkischen Malatya brutal ermordet wurden.

Als ich 2008 mein Buch „Christen unter dem Halbmond“ schrieb, schloss ich mit einem Hinweis auf „Zeichen der Hoffnung“ und zitierte dabei den Apostolischen Vikar von Anatolien und Vorsitzenden der Türkischen Bischofskonferenz, Bischof Luigi Padovese, der mir das Geleitwort geschrieben hatte. Ich wollte ihn auch in diesem Jahr wieder in seinem Tagungshaus in Iskenderun mit einer Gruppe besuchen. Nun ist er tot, von seinem Fahrer ermordet. Sind nach solchen Verbrechen in der Zwischenzeit die Hoffnungen auf einen Dialog mit dem Islam zu Ende?

Die Überfälle und Morde in der Türkei sind natürlich Wasser auf die Mühlen aller Islamgegner, und ich habe nicht alle Briefe beantworten können, die mir Bekannte, darunter notorische Leserbriefschreiber unserer katholischen und evangelischen Zeitungen schrieben, die dabei aus dem Koran alle mir bekannten gewalttätigen Zitate gegen Christen und Juden zitierten. Mir war es zu billig, dagegen aus dem Alten Testament manche Stellen zu zitieren und darauf hinzuweisen, was der jüdische Gott den Feinden Israels antun hieß, und ich weigere mich auch, die Fluchpsalmen wörtlich zu nehmen.

Als Katholik halte ich mich an die Aussage des Zweiten Vatikanums, das im Dekret über die nichtchristlichen Religionen besagt: „Mit Hochachtung betrachtet die Kirche auch die Muslime, die den alleinigen Gott anbeten, den lebendigen und in sich seienden, barmherzigen und allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde, der zu den Menschen gesprochen hat. Sie mühen sich, auch seinen verborgenen Ratschlüssen sich mit ganzer Seele zu unterwerfen, so wie Abraham sich Gott unterworfen hat, auf den der islamische Glaube sich gerne beruft. Jesus, den sie allerdings nicht als Gott anerkennen, verehren sie doch als Propheten, und sie ehren seine jungfräuliche Mutter Maria, die sie bisweilen auch in Frömmigkeit anrufen.

Überdies erwarten sie den Tag des Gerichtes, an dem Gott alle Menschen auferweckt und ihnen vergibt. Deshalb legen sie Wert auf sittliche Lebenshaltung und verehren Gott besonders durch Gebet, Almosen und Fasten.“ Im Konzilsdekret heißt es dann weiter: „Da es jedoch im Laufe der Jahrhunderte zu manchen Zwistigkeiten und Feindschaften zwischen Christen und Muslimen kam, ermahnt die Heilige Synode alle, das Vergangene beiseite zu lassen, sich aufrichtig um gegenseitiges Verstehen zu bemühen und gemeinsam einzutreten für Schutz und Förderung der sozialen Gerechtigkeit, der sittlichen Güter und nicht zuletzt des Friedens und der Freiheit für alle Menschen.“

Aus diesem Geist heraus betete der verstorbene polnische Papst bei seinem Besuch in Syrien mit dem syrischen Großmufti in der Omayaden-Moschee in Damaskus am Grabe Johannes des Täufers gemeinsam. Leider haben wir kaum zur Kenntnis genommen, dass Papst Joannes Paul II. damals bei seinem Syrienbesuch in Damaskus von politischen und kirchlichen Vertretern herzlicher aufgenommen wurde als bei der Zwischenlandung im europäischen und christlichen Athen, und dass der Nachfolger des inzwischen verstorbenen Scheichs Ahmed Kaftaro, der heutige höchste muslimische Würdenträger Syriens, Scheich Ahmed Badr al Din Hassun, im Straßburger Europaparlament die Linie seines Vorgängers fortführte. Aber wie viele katholische und protestantische Kirchenblätter haben außer der Tagespost diese seine Ausführungen gebracht? „Menschen sollten niemals die Religion missbrauchen, um andere Menschen zu töten“, erklärte er. „Es gibt keine heiligen Kriege, nur der Frieden ist heilig.“ Das Leben eines Kindes sei heiliger als alle so genannten heiligen Stätten.

Bei der uns bewegenden Frage über die heutigen Möglichkeiten eines Dialogs mit dem Islam geht es um vier entscheidende Gesichtspunkte:

1. Ist der Islam wirklich eine grundsätzlich intolerante Religion?

2. Warum unterscheiden wir nicht die äußerst verschiedene Praxis in mehrheitlich muslimische Staaten?

3. Gab es in der Geschichte Modelle des friedlichen Zusammenlebens?

4. Was tun wir, um den Dialog zu fördern?

In Glaubensdingen darf es keinen Zwang geben

Immer wieder werden die tatsächlich vorhandenen krassen Aussagen des Korans gegen Christen und Muslime zitiert. Warum aber werden nicht auch die tiefen toleranten und immer noch gültigen positiven Aussagen im Koran mehr und konsequent ernst genommen? Wie zum Beispiel Sure 2,275, wo es heißt: „In Glaubensdingen darf es keinen Zwang geben.“ Natürlich müsste dann auch aus muslimischen Kreisen danach gehandelt und klar betont werden, dass die in manchen islamischen Staaten im Gesetz verankerte Meinung, die Abwendung vom Islam sei mit dem Tode zu bestrafen, eine spätere Entwicklung ist, die erst lange nach Mohammeds Tod einsetzte.

Sonst gäbe es im Koran keine Verse, wie man die Reuigen aufnehmen solle, die nach dem Übertritt zu einer anderen Religion wieder zum Islam zurückkehren wollten. Hätte damals schon die Todesstrafe für den Abfall vom Islam bestanden, dann wäre die Sure 4,198 ebenso überflüssig gewesen wie Sure 3,90, wo es heißt, dass die Reue dessen, der sich vom Islam abwandte, dann aber zurückkehrt, von Gott angenommen werde. Und wenn der Koran befiehlt, den Abtrünnigen auch ein zweites oder drittes Mal aufzunehmen – wie wäre das möglich, wenn er schon beim ersten Mal einen Kopf kürzer gemacht worden wäre? Schon vor zwölf Jahren hat 1998 auf einem Kongress im malaysischen Kuala Lumpur der Professor der Kairoer Al-Azar-Universität, Scheich Muhammed Sayyed Tanlawi klar darauf hingewiesen und als angesehener Theologe bekräftigt, dass der Islam keine Sanktionen für Abtrünnige vorsieht.

Differenzierung tut not

Bei den Diskussionen über die Aufnahme der Türkei in die Europäische Union hören wir immer wieder in schöner Regelmäßigkeit vieles an Vorbehalten und Vorurteilen gegen den Islam und gegen die Türkei. Es ist aber dabei falsch, die islamische Welt als einen Block aufzufassen und deshalb himmelschreiendes Unrecht, das in Ländern wie Saudi-Arabien oder dem Iran geschieht, allen Muslimen vorzuwerfen. Es ist ärgerlich und ein Zeichen von Heuchelei, wenn man großzügig die völlige Rechtlosigkeit der Christen in Saudi-Arabien um des Erdöles willen verschweigt und die dortige Unterdrückung, ja das Verbot der Christen übersieht, wenn aber dann ein Politiker wie der Vorgänger des amerikanischen Präsidenten von Syrien als einem Land des Bösen sprach und Maßnahmen androhte, die wir von Afghanistan und dem Irak her kennen. Natürlich wissen wir, dass in Syrien keine Demokratie herrscht, aber wir müssen auch ehrlich zugeben, dass die Lage der dortigen Christen noch besser ist als in der Türkei, Nato-Mitgliedschaft her und EU-Beitrittswunsch hin.

Es gibt islamische Länder wie die Türkei und Tunesien, in der die Einehe von der Verfassung vorgeschrieben ist. Zwar war Saddam Hussein ein brutaler Diktator, aber unter ihm wurden nicht nur in Bagdad Kirchen gebaut, sondern es gab auch ein katholisches Priesterseminar der Chaldäer in der Hauptstadt. Nach dem Einmarsch der Amerikaner hat sich die Zahl der Christen im Irak halbiert. Ihr Überleben ist sogar in den Gebieten wie der Ninive-Ebene, wo sie einst die Mehrheit der Bevölkerung stellten, nicht mehr garantiert.

Fragen über Fragen, die heute kaum gestellt werden! Was können wir gegen die fast allgemeine gewollte und ungewollte Ignoranz tun? Immer wieder werden in Deutschland die touristischen Möglichkeiten auf den Malediven angepriesen, ohne darauf hinzuweisen, dass diese Islamische Republik in der Rangfolge der Staaten, in denen es Christen am schlechtesten geht, unter den ersten Zehn rangiert. Wo ziehen wir die Grenze zwischen ungewollter und dadurch manchmal entschuldbarer und böswilliger Ignoranz?

Wie oft wird darauf hingewiesen, dass die Türken bei uns Moscheen bauen, dass es aber in der Türkei keine neuen Kirchen gäbe. Dass dort keine Glocken läuten dürfen. Dass auf den Kirchen in der Türkei keine Kreuze erlaubt sind.

Das sind tatsächlich Märchen, die man wirklich glauben will! Es ist schwer, unseren Mitchristen klar zu machen, dass es heute oft ein Unding ist, Kirchenbau zu fordern, wenn in der Türkei viele Kirchen leer stehen. Wenn der Erzbischof von Izmir in seiner Erzdiözese nur 1200 Katholiken hat, aber acht Kirchen – wie kann er an Kirchenbau denken? Er überließ sogar eine seiner Kirchen den Protestanten, die in Izmir heute wegen des NATO-Hauptquartier Südost zahlreich sind wenige Tausend Griechen in Istanbul haben noch über 40 Kirchen, die vielen Ayazma-Kapellen nicht mit gerechnet.

Was das angebliche Verbot des Glockenläutens angeht: Ich freute mich jedes Mal, wenn ich im katholischen Tagungshaus des Bischofs in Iskenderun mit Gruppen übernachtete, morgens Glockengeläut hörte und beim Frühstück Teilnehmer glaubten, die Glocken der nahen Schule hätten geläutet, denn Glocken sind ja angeblich an Kirchen verboten.

Und die Kreuze? Ich kenne keine Kirche in der Türkei ohne Kreuz, selbst in Konya, wo es keine Christen mehr gibt, aber zwei Nonnen aus Italien, die die dortige neogotische St. Pauls-Kirche betreuen und regelmäßig in der Woche Tage der offenen Tür abhalten. Die Kreuze auf der Kirche aus dem Jahre 1910 sind sichtbar und führen auch interessierte junge Leute, die nie eine Kirche sahen, hinein. Aber es empört mich, erfahren zu müssen, dass auf der alten renovierten Kirche auf der Insel Ağtamar im Vansee kein Kreuz auf dem Turm stehen sollte. Die offizielle Begründung der Behörden, das Bauwerk sei heute keine Kirche mehr, war für mich fadenscheinig.

Sie mag einfacher laizistischer Argumentation genügen, war aber nicht nur Christen, sondern auch Kunsthistorikern und echten Denkmalsschützern ein Ärgernis, das nach letzten Meldungen zurückgenommen sein soll.

Religionsfreiheit im 19. Jahrhundert

Bei der Frage, wo und wann es in der Geschichte ein friedliches Miteinander von Christen und Muslimen gab, braucht man nicht nur auf das Modell Spaniens unter arabischer Herrschaft zurückgreifen. Gerade angesichts der Diskussion um den EU-Beitritt der Türkei sollte wieder ins Gedächtnis gerufen werden, dass die Türkei im 19. Jahrhundert weiter war als heute, obwohl damals der Sultan auch Kalif war, also Stellvertreter Mohammeds auf Erden. Das ganze 18. Jahrhundert hatte dem Osmanischen Reich eine Niederlage sichtbar gemacht. Die Kriege mit Venedig und Österreich in der ersten Hälfte jenes Jahrhunderts, in der zweiten Hälfte auch mit Rußland, hatten den Verlust reicher Provinzen nach sich gezogen und schließlich gar die ersten Stimmen nach einer Teilung des Reiches oder gar einer Vertreibung der Türken aus Europa laut werden lassen. Selim III., ein aufgeklärter Absolutist, der seit 1789 den Thron innehatte, hatte schon vor, dieses sich langsam auflösende Reich in das 19. Jahrhundert zu führen und im Stile Kaiser Josefs II von oben her zu reformieren und modernisieren, aber er hatte alle religiösen und konservativen Kräfte gegen sich.

Erst seinem Neffen und Nachfolger Mahmud II. sollte es gelingen, im Jahre 1826 mit brutaler Gewalt die Janitscharen in der Hauptstadt zu vernichten und damit die destruktivste Kraft des Reiches auszuschalten, die sich als ein Staat im Staate gebärdete. So leitete Mahmut II. die Epoche der Tanzimat ein, der Reformen. Sein Vermächtnis war der Hatt-i Şerif von Gülhane, in dem 1839 von seinem Sohn und Nachfolger Abdulmecit formal die Feudalstruktur des Reiches aufgehoben und die Gleichheit aller Bürger proklamiert wurde.

Der Sultan garantierte in diesem Motuproprio, das in Anwesenheit der Würdenträger des Reiches, der christlichen Patriarchen und des Volkes am 2. November 1839 im Park von Gülhane verlesen wurde, Sicherheit des Lebens und der Habe, Freiheit des Glaubensbekenntnisses, Gleichheit in der Besteuerung und andere bürgerliche Freiheiten. „Diese kaiserlichen Konzessionen erstreckten sich auf alle Unsere Untertanen, von welcher Religion oder Sekte sie sein mögen; sie alle ohne Ausnahme sollen derselben teilhaftig werden. Eine vollkommene Sicherheit wird demnach von Uns den Bewohnern des Reiches für ihr Leben, für ihre Ehre und ihr Vermögen gewährt, wie es der geheiligte Wortlaut unseres Gesetztes erheischt.“

Trotz des Hatt-i Şerif von Gülhane schritten aber die Reformen nur langsam voran, nicht nur die Bemühungen um die Modernisierung des Staates. Vor allem die rechtliche Gleichstellung der Christen stand immer noch nur auf dem Papier und der Übertritt eines Muslimen zum Christentum wurde trotz des Hatt-i Şerif von Gülhane, trotz der Versicherung, dass sich dessen Konzessionen auf alle kaiserlichen Untertanen erstreckten, noch mit dem Tode bestraft. So wurde am 25. August 1845 das Todesurteil an einem muslimischen Armenier vollstreckt, der sich wieder mit seiner Kirche ausgesöhnt hatte und zu ihr zurückgekehrt war. Da seine Verurteilung vor einem offenen Tribunal der Ulemas stattfand, erregte das Urteil Empörung in der westlichen Welt und zog lebhafte Proteste der westlichen Botschafter bei der Pforte nach sich. Vor allem England, das eine eben begonnene protestantische Mission begünstigte, schlug harte Töne an. Da England und Frankreich im Krimkrieg seit 1853 als Verbündete des Sultans gegen Rußland kämpften, konnten sie solche entschiedene Forderungen stellen, um „bemerklich zu machen, daß die großen Mächte niemals darin einwilligen können, daß durch die Triumphe ihrer Flotten und Armeen in der Türkei die Gültigkeit eines Gesetzes befestigt werde, welches nicht nur für sie ein beständiger Schimpf, sondern für ihre Mitchristen eine Quelle grausamer Verfolgung ist. Sie sind berechtigt zu verlangen und die britische Regierung verlangt ausdrücklich, daß der zum Christentum übergehende Mohammedaner dieses wegen ebenso frei von jeder Art Strafe sein soll, wie der zum Mohammedismus übergehende Christ“.

Der Druck der westlichen Mächte zeigte angesichts der Verhandlungen über eine Beendigung des Krimkrieges noch weitere diplomatische Erfolge. Am 18. Februar 1856 wurde ein neuer Erlass des Sultans, der Hatt-i Hümayun veröffentlicht, der in 20 Paragraphen die Stellung der osmanischen Untertanen bestimmte und dessen Ausführung über die freie Ausübung der Religion auch ihren Niederschlag im Pariser Friedensvertrag fand, der im gleichen Jahr geschlossen wurde und den Krimkrieg beendete. Die uns interessierenden Punkte sind folgende:

Paragraph 1 betont und erneuert die Garantien des Hatt-i Şerifs von Gülhane, also Sicherheit der Person und der Habe eines jeden ohne Unterschied des Standes und der Religion. Um dies tatsächlich zu gewährleisten, sollten geeignete Maßnahmen ergriffen werden.

Paragraph 2 erneuert alle Privilegien und Immunitäten, die von den Vorgängern des Sultans christlichen Gemeinschaften und anderen nichtmuslimischen Riten gewährt wurden.

Am wichtigsten aber ist Paragraph 5, der die freie Religionsausübung für jeden Bürger gewährt: „Kein Unterthan meines Reiches darf in der Ausübung seiner Religion, die er bekennt, gehindert werden“. Um willkürlichen Auslegungen osmanischer Richter, die sich darauf berufen könnten, das alte Gesetz sei nicht ausdrücklich genug aufgehoben worden, entgegenzutreten, erzwang Lord Stratford am 12. Februar 1856 die Zusage, durch die dem Paragraphen 5 des Hatt-i Hümayun die Auslegung voller Religionsfreiheit zukommt: „Demgemäß werden die früher der britischen und französischen Regierung in Bezug auf die Renegaten-Frage gegebenen Zusicherungen jetzt erneuert und abermals bestätigt, während in Zufügung einer weiteren Zusicherung erklärt und bekanntgemacht wird, dass die bei der damals getroffenen Entscheidung gebrauchten Ausdrücke in dem Sinne sollen verstanden werden, dass sie alle Renegaten umfassen.“

Obwohl Rußland im Krimkrieg der Unterlegene war, betonte der Zar in seinem Manifest vom 31. März 1856, dass „der ursprüngliche und hauptsächliche Zwecke des Krieges“ von Rußland erreicht worden sei: „Das künftige Los und die Rechte aller Christen im Orient sind von nun an sichergestellt. Der Sultan erkennt sie feierlich an, und in der Folge dieses Aktes der Gerechtigkeit tritt das Osmanische Reich in den allgemeinen Verband der europäischen Staaten ein! Russen! Eure Anstrengung und Eure Opfer waren nicht vergeblich. Das große Werk ist vollendet.“ Diese Gewährung von Religionsfreiheit ist heute noch in der Türkei in Resten sichtbar. Damals wurden hunderte von Kirchen aller christlichen Konfessionen gebaut, von denen noch Dutzende in Istanbul nicht nur zu sehen sind, sondern auch als Kirchen benutzt werden, während in Kleinasien der Völkermord an den Armeniern und Aramäern sowie die Umsiedlung der anatolischen Griechen aus diesen Kirchen meist Ruinen machte.

Bedenken wir, dass damals der Sultan auch Kalif war und dass damals Kirchen gebaut wurden und neue katholische Diözesen entstanden, in einer Zeit als in Rom noch keine protestantische Kirche erlaubt war und Protestanten wie der Sohn Goethes noch außerhalb der Stadt bestattet wurden. Entscheidend war aber damals, dass sich die Europäer, allen voran Frankreich und England, dann auch Piemont für die Christen in der Türkei eingesetzt hatten. Ein Beispiel, das heute die EU, nicht nur gegen die Türkei, nachahmen sollte.

Solidarität mit den Christen

Was tun wir heute gemeinsam? Was können wir tun? Welche christlichen Gemeinden besuchen auch einmal eine Moschee? Oder laden Muslime ein? Welche Religionslehrer tun das?
Ich denke an meine vielen positiven Erfahrungen bei Gesprächen mit deutschen Studenten in vielen Moscheen Deutschlands und in der Türkei. Und noch mehr an die Besuche in Kirchen der Türkei, vor allem wenn Priester in der Gruppe waren und dort in Istanbul oder Izmir, Adana, Mersin, Iskenderun oder anderen Orten mit uns Eucharistie feierten.

Werden wir in Zukunft auf dieser Grundlage unser Verhältnis zum Islam gestalten können? Im Geiste des Dialoges, wie ihn das Zweite Vatikanum will, oder nur in Auseinandersetzung und in Abwehr eines militanten Fundamentalismus? Papst Johannes Paul II. hat sich bereits am 17. November 1980 bei seinem ersten Deutschland-Besuch in Mainz auch an die Muslime gewandt, die in Deutschland unter uns leben, und erklärt:
„Auch euch gilt mein herzlicher Segensgruß! Wenn ihr mit aufrichtigem Herzen euren Gottesglauben aus eurer Heimat hierher in ein fremdes Land getragen habt und hier zu Gott als eurem Schöpfer und Herrn betet, dann gehört auch ihr zu der großen Pilgerschar von Menschen, die seit Abraham immer wieder aufgebrochen sind, um den wahren Gott zu suchen und zu finden. Wenn ihr euch in der Öffentlichkeit nicht scheut zu beten, gebt ihr uns Christen dadurch ein Beispiel, das Hochachtung verdient. Lebt euren Glauben auch in der Fremde und lasst euch von keinen menschlichen oder politischen Interessen missbrauchen.“ Das ist eine schwerwiegende Aussage, denn wenn Muslime in Deutschland in der Öffentlichkeit ihren Glauben leben und beten sollen, brauchen sie auch Moscheen, gegen deren Bau sich immer wieder deutsche Stellen sträuben.

Hier stellt sich die Frage: Was wissen die Christen in Deutschland, die nur die Gefahr sehen, eigentlich über diese Religion? Brauchen wir nach dem Ende des Kommunismus ein neues Feindbild, weil unser christlicher Glaube zu schwach ist? Die Muslime glauben an den einen Gott, an Gottes Engel und Gottes Bücher, an die Propheten, zu denen sie Jesus zählen, den Sohn Marias. Sie glauben sogar an Jesu jungfräuliche Geburt. Sind sie damit nicht viel gläubiger als unsere modernen Theologen, die Zweifel an der Göttlichkeit Jesu haben, seine leibliche Auferstehung uminterpretieren und die Jungfrauengeburt leugnen?
Was die nur noch wenigen Christen in den islamischen Ländern, insbesondere in der Türkei brauchen und was wir ihnen schulden, ist die christliche Solidarität. Millionen von Besuchern kommen Jahr für Jahr aus christlichen Ländern in die Türkei, nach Tunesien, Ägypten oder Marokko. Wer von ihnen fragt nach den Christen, wer besucht die Kirchen? 2008 schrieb dazu Bischof Padovese: „Den meisten genügt es, die Sonne, das Meer und die Naturschönheiten und Bauwerke der Antike und des Orients zu genießen. Nur wenige denken an die Bedeutung Kleinasiens für das Christentum. Dann denken Sie meist an die Paulusreisen und die Antike, ohne auch die wenigen heute verbliebenen christlichen Gemeinden aufzusuchen“.

Als Apostolischer Vikar von Anatolien wünschte er sich damals, „dass das von Papst Benedikt XVI ausgerufene Paulusjahr zu einer Neubesinnung über das Christentum in der Türkei führt. Das ist nur möglich, wenn wir mit Kenntnissen des leidvollen Vergangenen über die tatsächliche Situation objektiv informieren.“

Was sich der ermordete Bischof für die Türkei erhoffte, sollte für alle islamischen Ländern gelten. Eine große Aufgabe, der sich die Tagespost weiter stellen wird.

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