11. März 2011 in Aktuelles
Das neue, anspruchsvolle Jesus-Buch Papst Benedikts XVI. legt im tiefen Dickicht der theologischen Deutungen wieder die einfache Wahrheit des Gottessohnes frei. Von Paul Badde / Die Welt
Rom (kath.net/DieWelt)
Der zweite Band des Papstes über Jesus von Nazareth beginnt mit einer "Aliya". Das ist die Pilgerreise nach Jerusalem, wie die jüdische Einwanderung nach Israel heute noch heißt. Jesus beginnt diesen "Aufstieg" allerdings nicht an der Mittelmeerküste wie heutige Pilger, sondern rund 400 Meter unter dem Meeresspiegel, am Toten Meer, wo er von Jericho, dem tiefsten Ort der Erde, zum Tempelberg von Jerusalem aufsteigt, und noch höher, zum Golgatha - bevor er dort, am Kreuz, als "König der Juden", zum einflussreichsten Menschen der Erde wird.
Vierzig Jahre später, im Jahr 70, sah es an dem gleichen Ort - nach Alexander Mittelstaedt - so aus: "Tausende Pilger strömten in die Stadt. Johannes von Gischala, einer der rivalisierenden Führer des Aufstands gegen Rom, schmuggelte bewaffnete Kämpfer, als Pilger verkleidet, in den Tempel, wo sie ein Gemetzel mit den Anhängern des Gegenspielers Eleazar ben Simon begannen und so ein weiteres Mal das Heiligtum mit dem Blut Unschuldiger besudelt wurde."
Es war nur ein Vorgeschmack der unvorstellbaren Grausamkeiten, führt Benedikt XVI. aus, "die sich nun mit einer wachsenden Brutalität entwickelten, in der der Fanatismus der einen und die zunehmende Wut der anderen sich gegenseitig hochsteigerten." Es war das Vorspiel der Zerstörung des Tempels und Jerusalems durch den Römer Titus, der traumatischen Katastrophe, die Matthäus, Markus, Lukas und Johannes vor Augen hatten, als sie ihre Berichte der Passion und Auferstehung Jesu abfassten.
Sie bedeutete das Ende des antiken Judentums mit mindestens 80 000 Toten, einem unerhörten Ausmaß an Mord, Massakern, Plünderungen, Brandschatzungen, Hunger und Leichenschändungen. In einem Umkreis von 18 Kilometern wurde jeder Baum um Jerusalem gefällt, um Holz für die Kreuze der unzähligen Opfer herbeizuschaffen, die Titus nach der Niederlage kreuzigen ließ. Historisch gesehen, war die Hinrichtung Jesu nur ein unbedeutendes Vorspiel der Urkatastrophe des Judentums, doch für Christen bleibt sie der Höhepunkt der Weltgeschichte.
Deshalb lässt Benedikt XVI. sein Buch zum Beginn der Fastenzeit erscheinen, die den "Aufstieg" Jesu zu diesem Höhepunkt in der christlichen Tradition bis Ostern 40 Tage lang liturgisch nachwandert. Er hat aber kein missionarisches Buch geschrieben. Der Papst ist Petrus, nicht Paulus. Petrus ist der Vorsteher der christlichen Gemeinde zuerst Jerusalems, dann Roms, Paulus hingegen trägt die Nachricht vom Tod und der Auferstehung Jesu zu allen Völkern. Der Papst will hier aber keine Atheisten oder Hindus bekehren; sein Buch richtet sich an Christen (und Juden). Es ist exklusiv, auch wenn man sich diese Exklusivität - bei rund 1,2 Milliarden Katholiken und über 2 Milliarden Christen - nicht allzu eng vorstellen darf. Kleiner wird der Kreis der Adressaten allerdings dadurch, dass er bei seinen Lesern viel Fachwissen voraussetzt - im Grunde ein theologisches Diplom.
Literarisch ist dieser Voraussetzungsreichtum problematisch. Doch richtet sich dieses Buch auch an die alten Kollegen, die Theologen, die das Wort, das in Jesus von Nazareth einmal "Fleisch" geworden ist, überaus oft wieder in Millionen von Worten zurückverwandelt haben. Der Papst unternimmt eine Quadratur des Kreises, indem er sich sowohl an Fachleute als auch an theologische Laien richtet.
Deshalb darf in diesem Buch auch keiner einen Reporterblick auf die Ereignisse rings um die Hinrichtung Jesu erwarten. Benedikt XVI. ist nüchtern. Wir hören keine Hammerschläge. Wir sehen Jesus nicht wirklich am Kreuz vor uns (blutüberströmt, und wie sein letzter Blick vom Kreuz hinüber zum Tempel geht, dem "Haus seines Vaters", in dem er schon mit zwölf Jahren die Gelehrten in Staunen versetzte). Vielmehr sehen wir auch hier jedes seiner letzten Worte eingeflochten in die jüdischen Schriften.
Bei Benedikt XVI. "thront" der König der Juden am Kreuz auf den Schultern aller Propheten und über aller Weisheit der antiken Welt. "Künftiges wird angesagt", heißt es da an einer Stelle, "das unsere Kategorien sprengt, aber doch nur mit Modellen aus unseren Erfahrungen dargestellt werden kann, die dem zu Sagenden gegenüber notwendig inadäquat sind. So erklärt es sich, dass Jesus, der grundsätzlich immer in der Kontinuität von Gesetz und Propheten spricht, das Ganze in einem Gewebe von Schriftworten darstellt, in das er die Neuheit seiner Sendung, die Sendung des Menschensohnes einträgt." In diesem Gewebe zeichnet der Papst Jesus von Nazareth als die neue "lebendige Bundeslade" des alten jüdischen Tempelkultes.
Mit Jesu Tod und der Zerstörung des Tempels hat sich das Judentum aber nicht nur radikal verändert, sondern in zwei Strömungen gespalten. In den talmudischen Pharisäismus auf der einen Seite, dessen Rabbiner seit damals eine neue Weise entwickelten, "in der Zeit ohne Tempel das Alte Testament von der Tora als Zentrum her zu lesen und zu deuten".
Und auf der anderen Seite das Christentum, in deren Evangelien die auferstandene Gestalt Christi den alten Tempel als Ort der Versöhnung mit Gott ersetzt hatte. Es ist der Ur-Herausforderung der Ökumene, die Joseph Ratzinger da skizziert, von der er als Papst nun schreibt, dass "nach Jahrhunderten des Gegeneinanders diese beiden Weisen der neuen Lektüre der biblischen Schriften - die christliche und die jüdische - miteinander in Dialog treten müssen, um Gottes Willen und Wort recht zu verstehen". Offensichtlich hofft der Papst von dieser Konversion eine Art Schubumkehr im Prozess der Ökumene, der er dieses Buch in immer neuem Werben vor allem widmet. Denn in Jesus hätten alle apokalyptischen Worte der Propheten "eine personalistische Mitte." Das eigentliche Ereignis der Bibel sei "die Person, in der im Vergehen der Zeit wirklich Gegenwart bleibt. In dieser Person ist das Künftige jetzt da." Selbst der reuige Schächer am Kreuz neben Jesus habe gesehen, "dass dieser Mitgekreuzigte wirklich das Antlitz Gottes sichtbar macht, Gottes Sohn ist".
Danach wird dennoch keiner weder von Joseph Ratzinger noch von Benedikt XVI. eine Erscheinung oder Visionen erwarten. Ob am Kreuz oder in der leeren Grabkammer sucht er weniger zu sehen, was hier war, sondern immer neu die Schrift über diese Ereignisse zu ergründen, und dazu die Argumente eines Disputs von zweitausend Jahren gegeneinander abzuwägen.
Sein spätes "Opus Magnum" versteht er daher auch nicht als das epochale und ultimative Jesus-Buch, sondern nur als letzten Beitrag zu einer anhaltenden Debatte, in dem er fast testamentarisch darauf drängt, den Büchern und Zeugnissen des Evangeliums und den Schriften der Väter und Heiligen in der Summe mindestens so sehr zu trauen wie allen Anstrengungen von Generationen von Theologen, die sich daran abgemüht haben.
"Wenn die wissenschaftliche Schriftauslegung sich nicht in immer neuen Hypothesen erschöpfen und theologisch belanglos werden soll," sagt er im Vorwort, "muss sie einen methodisch neuen Schritt tun und sich neu als theologische Disziplin erkennen, ohne auf ihren historischen Charakter zu verzichten. Sie muss lernen, dass die positivistische Hermeneutik, von der sie ausgeht, nicht Ausdruck der allein gültigen und endgültig zu sich selbst gekommenen Vernunft ist, sondern eine bestimmte und historisch bedingte Art von Vernünftigkeit darstellt, die der Korrektur und der Ergänzungen fähig und bedürftig ist."
Natürlich übersetzt er danach keinen Fachbegriff und kein Fremdwort - weil sie für ihn schon seit rund 70 Jahren keine Fremdworte mehr sind. Selbstverständlich redet er deshalb von den "Synoptikern" unter den vier Evangelisten, die er einzeln jedoch alle einzeln als "heiligen Matthäus", "heiligen Lukas" oder "heiligen Markus" bezeichnet. Der brillanteste Theologe seiner Generation nimmt die Bibel hier wieder ganz und gar als "heilige Schrift" zur Hand, deren Worte zu kostbar sind, um sie einfach dem Shredder modischer wissenschaftlicher Strömungen zu überlassen, deren Verfallsdatum das von Joghurt oft nur unwesentlich übertrifft - gemessen an der Ewigkeit als hier gültigem Parameter. Natürlich ist das alles höchst aufreizend. Und es ist sensationell, ihn auf gleicher Augenhöhe im Kreis der Theologen aller Konfessionen sitzen zu sehen, wo er in einem ökumenischen Rigorosum sehr unerschrocken den Glauben seiner Kindheit und den Glauben seiner Eltern wieder ins Recht zu setzen versucht.
Fast gleicht er darin einem Dorfpfarrer, der den Gläubigen am Aschermittwoch ein kleines Kreuz aus Asche mit den Worten auf die Stirn zeichnet: "Gedenke, Mensch, dass Du Staub bist und zu Staub zurückkehren wirst." In Rom hingegen spendet der Priester diesen Aschensegen meist mit den Worten: "Kehre um und glaube an das Evangelium".
Diesen Satz, vor allem, spricht Benedikt XVI. als Papst und Wissenschaftler mit 573 500 Zeichen in diesem Buch noch einmal über die stolze und hermetische Welt der Theologen. Es ist Asche auf die Häupter der Schriftgelehrten, bei denen die Gotteskrise der Moderne und Postmoderne ihren Anfang genommen hat.
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