Der Segen des Brückenbauers

1. April 2011 in Chronik


Der Segen des Brückenbauers. Countdown zur Seligsprechung am 1. Mai - KATH.NET-Serie "Warum Johannes Paul II. ein Heiliger ist" – Von Paul Badde


Rom (kath.net)
Die katholische Internetzeitung KATH.NET wird zur Einstimmung auf die Seligsprechung jeden Freitag einen Gastkommentar zum Thema "Warum Johannes Paul II. ein Heiliger ist" veröffentlichten. Zu Wort kommen Bischöfe und katholischen Laien, die Papst Johannes Paul II. auf die eine oder andere Weise gut gekannt haben, diesmal Paul Badde:


Gestern [April 2005] ist Jakob nach Rom gekommen, um dem Papst die letzte Ehre zu geben. Er hat seinen Laptop dabei, damit er ein bisschen weiter arbeiten kann für seine kleine Ich-AG. Jakob ist mein Sohn, seit letztem Sommer stolzer Vater und gehörlos. Damit er nicht über zwölf Stunden in der Schlange vor dem Petersdom warten musste, hat er ein 25 Jahre altes Foto für die Carabinieri mitgebracht, das ihn, seinen Vater und „il Papa“ zeigt.

Denn mit Jakob habe ich erstmals vor einem Vierteljahrhundert den Papst getroffen. Es war November; eiskalte Stürme fegten durch Deutschland. Doch als Karol Wojtyla nach Fulda kam, war es frühlingsmild geworden. Wir kamen aus Offenbach. Menschenmassen strömten uns schon am Stadtrand entgegen. Wir drängten durch das Gewühl zum Münster, hinter dessen Türen der Papst schon mit der Messe begonnen hatte. Am Portal schien die Reise zu Ende, wo zehn Ordner dafür sorgten, dass keiner ohne Karte in den Dom kam. „Wir kommen aus Offenbach, da könnt ihr uns doch nicht hier stehen lassen“, sagte ich. "Doch, das können wir schon", entgegnete einer von ihnen. "Aber dieses Kind hört nichts. Lassen Sie ihn den Papst deshalb doch zumindest sehen ", flehte ich. „Morgen. Heute nicht. Sorry!“ sagte ein anderer. Es sei brechend voll im Dom, da gebe es einfach keinen Platz mehr. „Ich brauch' eine winzige Ecke“ bettelte ich, „nur für den Segen des Papstes. Wir sind doch nicht für ein Wunder gekommen.“ Die Männer wandten sich hilflos ab. Endlich bat mich einer zur Seite: „Ich versteh’ Sie“, begann er, „doch verstehen Sie, dass hier keine Ausnahmen gemacht werden dürfen. Wenn Sie heute Abend aber um zehn da drüben bei den Lautsprechern warten, bring ich Sie ganz nahe zum Papst."

Das ungewöhnliche Leben in Fulda hatte das Zeitgefühl aussetzen lassen, auch für Jakob, der jedes unserer Worte mit leuchtenden Augen verfolgte. Gegen zehn schlenderte ich mit ihm zum Domplatz. Es war, als warteten wir nicht. Die Turmuhr schlug. Beim letzten Schlag trat ein Fremder heran und fragte, ob ich der Vater eines taubstummen Kindes wäre; wir sollten ihm folgen. Ich nahm Jakob auf den Arm. Der Mann führte uns mit einer tanzenden Laterne um eine Straßenecke vor ein Palais, wo der Pontifex gleich den Weg zu seiner Herberge antreten sollte. Menschenmengen versperrten den Platz. Vor der Hofausfahrt hielten Polizisten mit Mühe eine Gasse frei. Hier könnten wir bleiben, meinte der Mann. Sogleich brach ein Sturm der Entrüstung unter den Frauen aus, die da gewartet hatten. „Das geht nicht“, deutete ich hinter mich, „das gibt böses Blut.“ Jakob betrachtete unseren Führer verwundert, der es da plötzlich nicht mehr vertrug, nur halbe Hilfe zu leisten. Jetzt machte er den Segen des Papstes vollends zu seiner Sache. „Es gibt nur eins: Sie müssen vor die Tür, durch die er gleich den Saal verlassen wird“. Ich spürte die Last des Kindes nicht mehr auf meinem Arm.

Wir standen im Freien neben der Pforte, halb in Büschen. Hinter einer Mauer hörte ich den Applaus der Masse. Plötzlich wurden alle von einer Bewegung erfasst. Ich wandte mich um und sah den Papst. Er stand leicht gebeugt und matt lächelnd in seinem weißen Mantel im Gang und kam zu uns herüber. Wie ein Bauer, dachte ich, wie ein Hirt: der „oberste Brückenbauer“.

Dann stand er vor mir. „Heiliger Vater", sagte ich leise, „bitte segnen Sie Jakob. Er hört nichts.“ „Ich weiß" antwortete er, ging auf Jakob zu, neigte sich, küsste ihn aufs rechte Ohr und legte ihm die Hand auf die Stirn. Ich hatte den Kopf halb geneigt und spürte, dass er auch mir die Hand auf die Stirn legte, leicht und warm. Es war hell im Hof, schwerelos. Nachher, im Auto auf den mondhellen Landstraßen der Rhön, dachte ich immer wieder: Jetzt wird alles gut. Jakob schlief auf dem Rücksitz. Ich wusste, es würde nicht leichter werden, aber auch, dass nichts mehr sein würde wie vorher. Im Licht des Feuerzeugs sah ich nach der Zeit. Doch meine Uhr war stehen geblieben. Erstmals war ihre Automatik zerbrochen; nur den 17. November 1980 zeigte sie noch an.

Genau 23 Jahre später rief mich mein ältester Bruder Karl aus Berlin in Rom an, sterbenskrank, am Abend des 17. November 2003. „Hör mal“, sagte er. „Du kennst doch den Rosenkranz. Kannst du mir sagen, wie er gebetet wird“. Ich sagte es ihm: „Gegrüßest seist Du Maria, voll der Gnaden …“ – „Und weiter?“ – „Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen.“ Ich erklärte ihm das ganze Gebet. „Kannst du mir das aufschreiben“, fragte er. Ja, natürlich.

Ob ich nicht vielleicht einen Rosenkranz hätte, den ich ihm schicken könnte. „Ja, sogar einen vom Papst. Ich schick ihn dir gleich.“ Ich schrieb also das Vaterunser und Ave Maria auf, dazu alle Gesätze, alle Zyklen: den freuden-, schmerzens-, licht- und glorreichen Rosenkranz. Dann machte ich ein kleines Päckchen fertig, legte die Perlenkette des Papstes hinein und küsste das silberne Kreuz daran, das alle Welt vom Hirtenstab Johannes Paul II. kennt. Es war mein kleiner Schatz. Wir brachten das Couvert zum Vatikan-Postamt unter dem Fenster des Papstes und machten einen kleinen Abendspaziergang. In der Nähe des Pantheons klingelte mein Handy. „Sind Sie morgen in Rom?“ fragte eine Stimme am anderen Ende der Leitung, aus dem Vatikan: „und sind Sie gesund?“ Ich war beides. „Dann kommen Sie früh um zehn mit ihrem Pass zur Bronzenen Pforte! Der Heilige Vater empfängt Sie zu einer Privataudienz.“

Der 18. November ist der Weihetag der Basiliken Peter und Paul in Rom. Für den Besuch bei Petrus zog ich diesmal meinen besten Anzug an. Meine Frau kaufte zwei schwarze Schleier, für sich und Christina, unsere Tochter. Gegen zehn warteten wir am Bronzeportal vor der „Scala Regia“, über die der Papst jetzt zur seiner letzten Reise aus dem Palast in den Petersdom getragen wurde. Die Gardisten salutierten. 15 Türen öffneten und schlossen sich von einem Vorhof des Himmels zum nächsten, über drei Treppenhäuser, von einem Festsaal in den anderen, als Traum, Raum hinter Raum. Das Fresko an einer Wand zeigte ein Boot im Sturm, ein nächstes die Kreuzigung Petri, mit dem Apostel kopfüber am Marterpfahl. In einem kleineren Saal erwartete uns schließlich der beleibte „Decano di Sala“ des Apostolischen Palastes, der am letzten Montag noch einmal die letzten Gäste zum toten Papst geführt hat. Eine Kette klirrte leise an seiner Brust. Zwei kleine Christusporträts hingen neben der nächsten Tür, eins von Dürer, ein dunkel verzücktes von El Greco. Auf einem Wandteppich erschien Christus der Maria Magdalena in einem Garten.

Ich sah den Papst sogleich, als sich die Tür öffnete. Licht flutete durch die Fenster und ergoss sich von einem Murano-Leuchter auf den Teppich, hinter dem der Nachfolger Petri in Weiß in seinem Sessel auf uns wartete. Krankheit zeichnete ihn. Aus tausendjährigen Augen schaute er uns an. „Wie gut, dass es Sie gibt!“ sagte meine Frau, als sie vor ihm das Knie beugte. Unsere Tochter strahlte ihn fassungslos an, als er seine Segenshand auf ihre Stirn legte. „Heiliger Vater!“ stammelte ich, ergriff die Hand und küsste seinen Ring. „Ich habe Ihnen Weihrauch mitgebracht, aus Jerusalem, direkt vom Zionsberg“. – „Dankeschön!“, antwortete er in seinem alten Deutsch. „Gott segne dich!“ Karol Wojtyla musterte mich mit wachen Augen, hob die Hand zum Segen und reichte mir einen Rosenkranz, wie zuvor schon meiner Frau und unserer Tochter: exakt die gleiche Perlenschnur, die mein Bruder Karl seit Weihnachten 2004 auch in Berlin in seinem Grab um die Hand gewickelt hält.

Aus „Die Welt“


Kathpedia: Paul Badde

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