Das Wunder von Rom

8. Mai 2011 in Weltkirche


Michael Hesemann erlebte die Seligsprechung Johannes Pauls II. - Teil 2


Rom (kath.net) Zwei Tage vor der Seligsprechung Papst Johannes Pauls II. sieht alles danach aus, als würde eines der größten Ereignisse in der Geschichte der Ewigen Stadt zu einem Fiasko werden. Immer lauter werden die Stimmen, die dem verstorbenen Papst die Seligkeit absprechen, immer unsicherer scheint es, wie viele Menschen überhaupt kommen werden – die Schätzungen schwanken zwischen 500.000 und 2.5 Millionen. Und die Meteorologen sind sich zu allem Übel noch ziemlich sicher, dass es in Strömen regnen wird.

Zum nachfolgenden Gebet des lichtreichen Rosenkranzes, den Johannes Paul II. eingeführt hat, schaltet man von Rom aus in die ganze Welt: In die Marienbasiliken von Fatima und Guadalupe /Mexiko, zu den Heiligtümern Notre Dame du Libanon in Harissa und nach Kawekamo-Bugando in Tansania, aber auch in das vom Papst selbst auf seiner letzten Polenreise 2002 eingeweihte „Heiligtum der Göttlichen Barmherzigkeit“ in Lagniewniki bei Krakau. Denn Karol Wojtyla war nicht nur der Papst Mariens, der das „Totus tuus“ auf sein Wappen schrieb, sondern auch der Botschafter der Göttlichen Barmherzigkeit, der in der Nacht vor dem von ihm eingeführten Barmherzigkeitsfest, dem Weißen Sonntag, um 21.37 Uhr in das Haus des himmlischen Vaters eintrat.

Eine Schaltung in den Vatikan, zu Papst Benedikt XVI., der den Pilgern den Apostolischen Segen erteilte, beendet die stimmungsvolle Vigil. Jetzt strömen die Menschen in die Stadt, zu den Kirchen, die zur Eucharistischen Andacht geladen haben (inklusive einer italienischen Version von „Nightfever“) oder gleich auf die vatikanische Tiberseite, über die Brücken, die bereits für den Autoverkehr gesperrt ist. Der Nieselregen hat zu Beginn der Vigil bereits aufgehört und so schlagen viele, trotz unschöner Kälte, irgendwo nahe der Zugänge ihr Nachtlager auf. Mit viel Schlaf ist ohnehin nicht zu rechnen, denn um 5.00 Uhr früh soll der Hauptzugang zum Petersplatz geöffnet werden.

Auch ich schlafe nur zwei Stunden, denn auch wir Journalisten sollen uns vor 5.30 Uhr an unserem Treffpunkt vor dem „Tor des Heiligen Offiziums“ einfinden, um ungehindert unsere Tribüne zu erreichen, das Dach des „Braccio di Carlomagno“ über dem der Basilikafassade vorgelagerten Teil des Petersplatzes. Als ich sie endlich über eine scheinbar endlose, schmale Wendeltreppe betrete, begrüßt mich Benedikt Steinschulte vom Päpstlichen Medienrat im Regenmantel.

„Na, so wenig Gottvertrauen?“, frotzel ich ihn an. „Die Meteorologen haben Regen vorhergesagt“, bestätigt er mir. Ich schaue hinauf in den noch dunklen, dabei wolkenverhangenen Himmel, der nichts Gutes verheißt. Unten, auf dem Platz, hat man Vorsorge getroffen und eine Reihe hübscher Zelte für die Kardinäle und Staatsgäste errichtet, die irgendwie an Puppenhäuser erinnern. Zwei weitere dieser „Puppenhäuser“ stehen bei uns auf der Pressetribüne. Noch kauern in ihnen frierende Helfer, in gelbe Regenhäute gehüllt, doch später sollen sie wohl den teuren TV-Kameras der hier platzierten Fernsehcrews Unterschlupf bieten.

„Ich glaube nicht, dass es Regen gibt“, erkläre ich, um schnell einen bemitleidenden Blick zu ernten. „Als ich 2000 mit dem Papst in Galiläa war, auf dem Berg der Seligpreisungen, sah es ähnlich aus. Die ganze Nacht über hatte es geregnet, am nächsten Morgen wateten wir durch den Schlamm, während über uns schwere, dunkle Regenwolken hingen. Doch kaum landete Johannes Paul II. in seinem Helikopter, hellte es auf. Als er im Papamobil auf das Gelände fuhr, kam die Sonne durch. Ich gehe jede Wette ein, dass es heute ähnlich sein wird.“

„Ihr Wort in Gottes Ohr“, meint Steinschulte. „Und, was ist mit den Staatsgästen? Wie viele sind es nun endgültig?“, will ich von ihm wissen. Jetzt ist „Benedikt XVII.“, wie wir Journalisten ihn nennen, in seinem Element. „87 offizielle Delegationen haben sich angesagt, darunter 16 Staatsoberhäupter inklusive der Präsidenten von Polen, Italien und Mexiko, drei Vizepräsidenten, sieben Premierminister, fünf Parlamentspräsidenten, fünf Königshäuser, elf Außenminister – und wissen Sie, wen Deutschland schickt? Den Innenminister, so als sei es die Seligsprechung einer Nonne aus dem Allgäu, die natürlich auf Diözesanebene gefeiert wird, und nicht die des Papstes, dem Deutschland letztendlich seine Wiedervereinigung verdankt!“

„Die sollten sich was schämen!“, erwidere ich, „da wundert sich Frau Merkel, dass sich die Beziehungen zwischen Deutschland und Polen verschlechtern, versäumt es aber, dem größten Sohn unseres Nachbarlandes ihren Tribut zu zollen. Diplomatisch wirklich höchst unklug!“ „Ja, und der doch so katholische Bundespräsident besucht stattdessen Mexiko – und wundert sich wohl, dass sein Amtskollege in Rom ist...“

Ich suche mir einen guten Platz und schaue mich um. Gegenüber, im Apostolischen Palast, im Fenster des Papstes, brennt eine Kerze. An der Fassade des Petersdomes hängt der bemalte Wandteppich mit dem noch verhüllten Bild des neuen Seligen. Unten, auf dem noch leeren Petersplatz, laufen die letzten Vorbereitungen. Dann, in der Morgendämmerung, öffnen sich langsam die Schleusen, treffen die ersten Pilger ein. Viele von ihnen haben ihre Landesflaggen dabei, die meisten davon in den Farben Polens, weiß-rot. Wieder werfe ich einen kritischen Blick gen Himmel, der einfach nicht aufhellen will. Und trotzdem gebe ich die Hoffnung nicht auf.

Vor dem Altar steht ein großes Jesus-Bild, gemalt nach den Angaben der polnischen Mystikerin Sr. Faustyna, deren Kloster der junge Karol Wojtyla einst so gerne aufsuchte. Pünktlich um 9.00 Uhr verliest ein Sprecher das von ihr verbreitete Gebet des „Barmherzigkeitsrosenkranzes“. Die Journalistentribüne füllt sich mit den Nachzüglern, auf dem Platz drängen sich die Menschenmassen, die über die Via della Conciliazione eingelassen wurden. Ein Spruchband mit der Aufschrift „Deo Gratias – Gott sei Dank“ hängt an zehn roten Luftballons über dem Platz (siehe Foto). Allmählich treffen auch die Bischöfe und Staatsoberhäupter ein.

Pünktlich um 10.00 Uhr besteigt Papst Benedikt XVI. unter dem Jubel der Menge das Papamobil, das ihn vor dem Bronzetor, dem Zugang zum Apostolischen Palast, erwartet. Während die Kardinäle in ihren golddurchwebten Messgewändern in feierlicher Prozession den Petersplatz betreten, wird der Papst, durch die winkenden Menschenmassen gefahren. Zu meiner Beruhigung stelle ich fest, dass sich das Wetter aufhellt; ich bin jetzt sicher, dass es zumindest trocken bleibt an diesem Morgen.

Am Altar angekommen, verlässt der Benedikt XVI. das Papamobil, umkreist ihn, das Weihrauchfass schwenkend, und nimmt Platz auf seinem Thron, den ein breites, rotes Dach überspannt. Er trägt Messgewänder, die einst für Johannes Paul II. gefertigt worden waren und die dieser in den letzten Jahren seines Pontifikats häufig trug. Zunächst verliest Kardinal Agostino Vallini, Generalvikar des Papstes für die Diözese Rom, die Vita des neuen Seligen, bevor der Papst die Seligsprechungsformel verliest. Dabei benutzt er das „wir“, nicht als pluralis maiestatis vergangener Zeiten, sondern um auszudrücken, dass er für die Weltkirche spricht, die in diesem Augenblick hier auf dem Petersplatz vereint ist:

„Nachdem wir die Meinung der Kongregation für die Heiligsprechungen angehört haben, erlauben wir uns nun mit unserer apostolischen Autorität, dass der verehrungswürdige Diener Gottes, Papst Johannes Paul II., von jetzt an selig genannt werden darf und dass sein Gedenktag an den Orten und nach den Weisen, die das Kirchenrecht festgesetzt hat, jährlich am 22. Oktober gefeiert wird. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.“

In diesem Moment, zu den Klängen des dreifachen „Amen“ der Versammelten, hebt sich der Vorhang vor dem Wandteppich an der Fassade der Basilika und gibt das Bild des seligen Papstes preis. Es ist ein Foto des Polen Grzegorz Galazka, 1995 aufgenommen, das einen gütig-verschmitzt lächelnden Karol Wojtyla zeigt. Die begeisterte Menge jubelt und applaudiert, schwenkt ihre Fahnen und Transparente, manche umarmen sich vor Freude. Es ist vollbracht, er ist jetzt wirklich selig gesprochen – ein Moment, den mitzuerleben uns für alle Strapazen entschädigte!

In diesem Augenblick wirkt der neue Selige sein erstes Wunder. Just in dem Augenblick, als Schwester Marie Simon-Pierre und Schwester Tobiana, die Älteste der polnischen Schwestern, die dem Papst als Haushälterinnen dienten, das Silberreliquiar mit der Blutreliquie des verstorbenen Papstes zum Papstthron tragen, wo es Benedikt XVI. küsst, bricht die Sonne durch. „Oh Du Kleingläubiger!“, frotzel ich Benedikt Steinschulte an, „hab‘ ich es nicht gesagt? Der Selige Johannes Paul II. hätte mich sehr enttäuscht, wenn es an diesem Tag geregnet hätte. Und er hat mich noch nie enttäuscht!“

Im strahlenden Sonnenschein hält sein Nachfolger eine seiner schönsten Predigten. Sie beginnt mit der Erinnerung an die Begräbnisfeier vor sechs Jahren: „Schon an jenem Tag spürten wir den Duft seiner Heiligkeit ausströmen, und das Volk Gottes hat auf viele Weisen seine Verehrung für ihn zum Ausdruck gebracht. Daher wollte ich, dass sein Seligsprechungsprozess unter entsprechender Beachtung der Vorschriften der Kirche ziemlich rasch vorangehen konnte. Und heute ist der erwartete Tag gekommen; er ist schnell gekommen, weil es dem Herrn so gefallen hat: Johannes Paul II. ist selig!“

Sie endet mit dem persönlichen Zeugnis Benedikts XVI.: „Mein Dienst wurde durch seine spirituelle Tiefe und den Reichtum seiner Intuition getragen. Sein beispielhaftes Beten hat mich immer wieder berührt und erbaut: Er tauchte ein in die Begegnung mit Gott, auch inmitten der vielfältigen Obliegenheiten seines Dienstes. Und dann sein Zeugnis im Leiden. Der Herr hat ihm allmählich alles genommen, aber er ist stets der ‚Fels‘ geblieben, wie Christus es gewollt hat... Selig bist du, geliebter Papst Johannes Paul II., weil du geglaubt hast! Wir bitten dich, stärk vom Himmel her weiter den Glauben des Volkes Gottes.“

So laut jetzt der Jubel tobt, so andächtig und mucksmäuschenstill wird es bei der Messfeier. Das befürchtete Chaos ist ausgeblieben, alles verläuft von selbst wie nach einem unsichtbaren Plan. Ja, es ist eine Freude, katholisch zu sein, an diesem Tag noch mehr als je zuvor.

Bevor ich die Journalistentribüne verlasse, werfe ich noch einen letzten Blick auf das Wetter. Am Horizont, über den Bergen, türmen sich die Wolkenberge, wie von unsichtbarer Hand aufgehalten. Einen ganzen Tag lang werden sie sich nicht über die Ewige Stadt wagen, während es in halb Italien regnet. Erst am Montagnachmittag, nachdem Kardinalstaatssekretär Bertone die Dankesmesse für die Seligsprechung gefeiert hat und sich die meisten Pilger längst auf dem Rückweg befinden, kehrt der Regen zurück.

Im Pressebüro erfahre ich die offiziellen Zahlen: Anderthalb Millionen haben an der Seligsprechungsfeier teilgenommen, die somit mit Abstand die größte in der Kirchengeschichte war. Selbst zur Seligsprechung des italienischen Nationalheiligen Pater Pio im Mai 1999 waren „nur“ 300.000 gekommen. Der „Marathonmann Gottes“ hat wieder einmal alle Rekorde gebrochen.

Vom Nachmittag an bis in die frühen Morgenstunden des nächsten Tages haben die Pilger noch einmal die Gelegenheit, sich ganz persönlich von dem neuen Seligen zu verabschieden. Wieder stehen Hunderttausende stundenlang geduldig in der Warteschlange, um an dem vor dem Apostelgrab im Petersdom aufgebahrten Holzsarg Johannes Pauls II. vorbei zu defilieren. Es ist, anders als 2005, ein heiterer Abschied. Denn der neue Selige, so sind sie jetzt sicher, wird sie eines Tages im Himmel begrüßen. Bis dahin aber können sie von ihm noch manches Wunder erwarten.

Michael Hesemann ist Autor der Papstbiografie "Johannes Paul II. - Erbe und Charisma", Augsburg 2011


Foto: (c) kath.net


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