Experimentieren Sie – auch mit dem Mut, dass nicht alles gelingt

7. Juni 2011 in Deutschland


Die Krise des Ordenslebens gründet nach Erzbischof Zollitsch in Übereinstimmung mit der Einschätzung durch die Würzburger Synode in der zu groß gewordenen „Kluft zwischen einer klösterlichen Eigenwelt und der neuzeitlichen Gesellschaft“


Vallendar (kath.net) Robert Zollitsch, Erzbischof von Freiburg und Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, betonte in seiner Rede bei der Mitgliederversammlung der Deutschen Ordensobernkonferenz in Vallendar den Gemeinschaftsaspekt des Ordenslebens: „Die Herausforderung für die Orden liegt dann darin, erfahrbar und nachvollziehbar zu machen, wie Beziehung zwischen sehr verschiedenen Individuen möglich ist; wie wechselseitige Anerkennung und gegenseitiger Dienst gelingen kann; wie persönlicher Austausch im Glauben und Verantwortung für den Nächsten gehen kann; wie Gottes Wort Menschen zusammenführt und wie man gemeinsam sich zum Gottesdienst und Gebet einfindet.“
Die Krise des Ordenslebens, die man an den Symptomen „Nachwuchsmangel, Austritte, Überalterung und Arbeitsüberlastung“, gründet nach Zollitsch in Übereinstimmung mit der Einschätzung durch die Würzburger Synode in der zu groß gewordenen „Kluft zwischen einer klösterlichen Eigenwelt und der neuzeitlichen Gesellschaft“. Der Freiburger Erzbischof ermutigte die Ordensoberen: „Experimentieren Sie – auch mit dem Mut, dass nicht alles gelingen wird –, wie die Sendung Ihres Ordens unter den heutigen gesellschaftlichen Bedingungen gehen kann.“

kath.net dokumentiert den Vortrag des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Dr. Robert Zollitsch, bei der Mitgliederversammlung der Deutschen Ordensobernkonferenz am 6. Juni 2011 in Vallendar,zum Thema: „Ekklesiologischer Standort der Orden“


Sehr geehrter Abt Hermann-Josef, sehr geehrte Provinzoberin Sr. Miriam, sehr geehrte Äbtissinnen und Äbte, sehr geehrte Oberinnen und Obere, liebe Schwestern und Brüder!

Ich danke Ihnen sehr herzlich für die Einladung, zu Ihnen, den Verantwortlichen in den Ordensgemeinschaften in Deutschland, zu sprechen. Das Leitwort, unter das Sie Ihre Mitgliederversammlung gestellt haben, lädt geradezu ein, sich mit Tiefgang und Weitblick den Herausforderungen zu stellen: „Gebt Zeugnis von der Hoffnung, die euch erfüllt (1 Petr 3,15) – Ordensleben in Übergängen“. Die Erfahrungen mit den gesellschaftlichen Umbrüchen, mit den unterschiedlich bedingten Abbrüchen des kirchlichen Lebens, aber auch mit neuen Aufbrüchen in der Kirche und in den Orden teilen wir, Sie als Ordensoberinnen und Ordensobere und ich bzw. wir als die Bischöfe in Deutschland. Meine Aufgabe ist es heute nicht, die Zeitdiagnostik zu vertiefen. Über den gesellschaftlichen und kirchlichen Kontext der vielfältigen Wandlungsprozesse in den Orden haben Sie bereits so manches gehört und diskutiert. Die Generalsekretärin, Sr. Walburga, hat mich gebeten, über das Thema „Ekklesiologischer Standort der Orden“ zu sprechen.

Gestatten Sie mir, dies in vier Schritten zu tun.
Zunächst möchte ich
1. über das Zweite Vatikanisches Konzil sprechen, das erstmals den ekklesiologischen Standort des Ordenslebens überhaupt thematisiert hat;
2. daran anknüpfend geht es mir um eine Einschätzung der nachkonziliaren Bemühungen im Hinblick auf die Erneuerung des Ordenslebens und schließlich möchte ich
3. kurz den Hintergrund der Entwicklung einer Ordenstheologie in Deutschland skizzieren um daran anschließend
4. einige Perspektiven für die Orden in der Kirche heute zu benennen.

1. Das Zweite Vatikanische Konzil zum ekklesiologischen Standort der Orden
Liebe Schwestern und Brüder! Einige von Ihnen werden sich noch erinnern an eine Zeit, da das Noviziat in eine bis ins Detail gehende Reglung des klösterlichen Alltags eingewiesen hat. So manche Schwester hat eine theologische und geistliche Fundierung ihres Ordenslebens vermisst und sich nach einem Ordensleben gesehnt, das aus den biblischen Quellen und den großen spirituellen Traditionen der Kirche genährt wird. Es ist das Zweite Vatikanische Konzil, das über eine moralisch-asketisch und juridisch verengte Sicht des Ordenslebens hinausführt und die Orden als Konzilsaussage erstmals in den Kontext der Ekklesiologie hineinstellt. Nicht nur in einem einzelnen Dekret, sondern in der bedeutsamen dogmatischen Konstitution über die Kirche wird das Ordensleben thematisiert. In „Lumen gentium“ folgt auf das V. Kapitel über „Die allgemeine Berufung zur Heiligkeit in der Kirche“ das VI. Kapitel, das von den Ordensleuten handelt. Zum ersten Mal in der konziliaren Lehrverkündigung der Kirche wird das Ordensleben als unerlässliches Lebensmoment der Kirche gewürdigt und ihm ein Ort innerhalb der vielen Berufungen und Charismen in der Kirche zugewiesen.

„Lumen gentium“ eröffnet das VI. Kapitel über „Die Ordensleute“ mit einer befreienden Sicht auf die evangelischen Räte: Sie werden hier nicht mehr primär als ein Mittel zur persönlichen sittlichen Vervollkommnung angesehen. Die evangelischen Räte sind vielmehr „eine göttliche Gabe, welche die Kirche von ihrem Herrn empfangen und in seiner Gnade bewahrt hat“ (LG 43,1). Die Orden verdanken sich also dem schöpferischen Wirken des Gottesgeistes. Es ist der Heilige Geist, der immer wieder neue oder erneuerte zeitgemäße geistliche Lebensformen hervorbringt. Er will das Leben Jesu Christi, sein Wort und Beispiel präsent halten und das Evangelium anschaulich machen. Die Orden sind, wie das Konzil (LG 44,4) sagt, „zwar nicht Teil der hierarchischen Struktur der Kirche“, sie gehören aber „unerschütterlich zu ihrem Leben und ihrer Heiligkeit“. Ja, die Orden gehören zur charismatischen Dimension der Kirche. Darum ist das Ordensleben, wie „Lumen gentium“ weiter ausführt, auch kein „Zwischenstand zwischen dem der Kleriker und dem der Laien. Vielmehr werden in beiden Gruppen Christgläubige von Gott gerufen, im Leben der Kirche sich einer besonderen Gabe zu erfreuen und, jeder in seiner Weise, ihrer Heilssendung zu nützen.“ (LG 43,2).

Das Ordensleben bildet also keinen eigenen Stand in der Hierarchie der Kirche; auch hat das Ordensleben kein eigenes Amt neben den anderen Ämtern und Diensten in der Kirche. Der ekklesiologische Ort der Orden gehört nach „Lumen gentium“ in den Kontext der Berufung aller zur Heiligkeit in der Kirche. Im Ordensleben wird exemplarisch anschaulich, was es mit dieser Berufung aller zum Christsein auf sich hat: Die Berufung zur Heiligkeit verdankt sich nicht einer persönlichen Anstrengung, sondern einem vorgängigen Handeln Gottes. Natürlich bedeutet unser Christsein auch eine Herausforderung! Es ist vor allem die Herausforderung, diese Berufung mit Hilfe der uns gegebenen Charismen in der Kirche und für das Heil der Menschen zu entfalten – und dies ein Leben lang. Der besondere Dienst der Orden ist damit ein Dienst an der Berufung aller zur Heiligkeit in der Kirche.

Aufgabe des Amtes in der Kirche ist es, diese geistgewirkten Lebensformen, zu denen die Orden gehören, auszulegen und durch Regelungen für deren Institutionalisierung zu sorgen (vgl. LG 43). Orden und bischöfliches Amt – beide brauchen also einander. Dabei kommt dem Amt jedoch erst eine nachgeordnete Funktion zu. Nach „Lumen gentium“ liegt der eigentliche Sinn eines Lebens nach den evangelischen Räten in der Liebe. Die Berufung zur Heiligkeit dient somit nicht primär der persönlichen Selbstvervollkommnung. Sie zielt vielmehr auf die „Fülle des christlichen Lebens“, auf die „Vollkommenheit der Liebe“. Die Heiligkeit besteht also in der Liebe, die etwas sehr Persönliches ist und zugleich hochwirksam für die Kirche und für die Gesellschaft. Von ihr gehe eine humanisierende Wirkung aus, sagt das Konzil (vgl. LG 40,2). Das Konzil macht hier übrigens keinen Unterschied zwischen den apostolisch tätigen und den monastischen oder kontemplativen Orden. Alle Ordensleute sind „in besonderer Weise mit der Kirche und ihrem Geheimnis“ (LG 44,2) verbunden. Die ganze Kirche kann in dieser Sicht ihrer Heilssendung nur gerecht werden, wenn sie von innen her belebt wird aus dem geistlichen Leben der Orden. Der geistliche Grundwasserspiegel in der Kirche, der letztlich alle Dimensionen des kirchlichen Handelns – die Verkündigung, die Diakonie, die Liturgie trägt – steht und fällt gleichsam mit dem Auf und Ab des Ordenslebens in der Kirche. Weil die Kirche so elementar auf das Ordensleben angewiesen ist, haben wir Bischöfe die Pflicht, das Leben nach den evangelischen Räten zu fördern. Dazu gehört nicht nur die Aufgabe, das Ordensleben in den Bistümern zu ordnen, sondern auch den Berufungen zu einem Leben nach den evangelischen Räten überhaupt Raum zu geben (CD 15).

Liebe Schwestern, liebe Brüder! Über die dogmatische Kirchenkonstitution hinaus hat sich das Konzil in einem Dekret aktuelle Anliegen der Orden zu Eigen gemacht. Während „Lumen gentium“ den ekklesiologischen Ort der Orden innerhalb der Ämter und Dienste, Berufungen und Charismen beschreibt, nimmt das Dekret „Perfectae caritatis“ vor allem die Praxis des Ordenslebens in den Blick. Auch hier werden theologische Akzente gesetzt und konstitutive Merkmale des Ordenslebens benannt: biblische Fundierung, evangelische Räte, Charisma, Weihe, Dienst in der Kirche und Weltbezug.

Deutlicher als es in „Lumen gentium“ geschieht, spricht „Perfectae caritatis“ nicht nur von individuellen Charismen, sondern vom gemeinsamen Charisma eines jeden Instituts. Hier scheint mir eine wichtige Orientierung auch für die Umbrüche des Ordenslebens heute zu liegen – doch dazu später. Das eigentliche Anliegen von „Perfectae caritatis“ ist die Erneuerung des Ordenslebens. Darunter versteht das Konzil eine doppelte Bewegung: „ständige Rückkehr zu den Quellen jedes christlichen Lebens und zum Geist des Ursprungs der einzelnen Institute“ und zugleich „deren Anpassung an die veränderten Zeitverhältnisse“ (PC 2). Was der gemeinsame und gemeinschaftliche Charakter des Ordenscharismas allerdings für die Gemeinschaft der Kirche insgesamt bedeutet, hat das Konzil nicht mehr entfalten können.

2. Nachkonziliare Bemühungen um die Erneuerung des Ordenslebens
Das Zweite Vatikanische Konzil hat in einmaliger und bisher nicht gekannter Weise die Orden ins Zentrum, in die Herzmitte der Kirche geholt. Die theologische Hochschätzung und ekklesiologische Aufwertung des Ordenslebens in den Konzilstexten traf jedoch auf ein Ordensleben, das sich in der Zeit nach dem Konzil – ausgehend von den westlichen Ländern – sowohl gesellschaftlich wie kirchlich zunehmend marginalisiert sah. Zurückgehende Eintrittszahlen, Arbeitsüberlastung, die Abgabe oder Umgestaltung der Werke, die deutlich gewachsenen Ansprüche an das geistliche und gemeinschaftliche Leben, an Kommunikation und Leitung in den Orden und vieles andere waren weniger das Problem selbst als Symptome für einen tiefgreifenden Wandel in der Ordenslandschaft.

Verehrte Oberinnen und Obere, viele von Ihnen werden sich an diese Zeit der großen Umbrüche in den Orden nach dem Konzil noch gut erinnern. Doch das Ausmaß des Wandels, der sowohl gesellschaftliche wie kirchliche Ursachen hatte, war in der unmittelbaren Nachkonzilszeit noch gar nicht absehbar. Viele Ordensgemeinschaften haben zunächst dankbar die Anstöße aus „Perfectae caritatis“ aufgegriffen und den „Geist des Ursprungs“ ihres Instituts wieder entdeckt. Mit beachtlichem Einsatz haben Sie die Erneuerung des geistlichen Lebens, der Formen von Gemeinschaft und Leitung, der Sendung und des Apostolates betrieben.

Unterstützung erfuhren die Orden durch die Würzburger Synode. Sie hat zehn Jahre nach „Lumen gentium“ und neun Jahre nach „Perfectae caritatis“, am 23.11.1974, den Beschluss „Die Orden und andere geistliche Gemeinschaften“ verabschiedet. Gegenüber den naturgemäß allgemeiner gehaltenen Konzilstexten gelingt es dem Synodenbeschluss, die eigentliche Krise des Ordenslebens deutlicher zu fassen: Nachwuchsmangel, Austritte, Überalterung und Arbeitsüberlastung werden als Symptome beschrieben. Als deren eigentliche Ursache wird die zu groß gewordene „Kluft zwischen einer klösterlichen Eigenwelt und der neuzeitlichen Gesellschaft“ ausgemacht (1.1). Vor diesem Hintergrund benennt die Synode konkrete Herausforderungen an die Orden: ihren geistlichen Dienst wie ihr diakonisches und pastorales Wirken zu überprüfen und neu auszurichten (Kap. I). Auf der anderen Seite nimmt die Synode auch die Ortskirchen in Pflicht und betont „die Mitsorge der Bistümer und Gemeinden für die geistlichen Gemeinschaften“ (Kap. II).

Die Anregungen der Würzburger Synode zur Erneuerung des Ordenslebens können heute vielfach als abgeschlossen angesehen werden. Dazu gehört die Neuorganisation der ordenseigenen Werke, die Erschließung neuer Möglichkeiten eines pastoralen und gesellschaftlichen Wirkens der Orden, die Hinweise auf die Beachtung der Eigenart der verschiedenen Institute, der kontemplativen Klöster, der Säkularinstitute, der Priestergemeinschaften u.a.

Die pastorale Sicht der Würzburger Synode und ihr Leitgedanke einer Kooperation zwischen Ortskirche und Orden hat das Ordensleben auf vielfache Weise zurückgeholt in das Bewusstsein der Gläubigen. Schulen, Krankenhäuser und andere Einrichtungen, die sich – selbst dann, wenn keine Ordensleute mehr in ihnen wirken – aus einer Ordenstradition heraus verstehen, erfreuen sich einer hohen Beliebtheit. Die seelsorglichen und geistlichen Gesprächs- und Exerzitienangebote der Klöster und Ordensgemeinschaften nehmen viele Menschen dankbar an. Manche Suchende haben hier eine kirchliche Heimat gefunden.

3. Die Entwicklung einer Ordenstheologie
Die Bemühungen zur Erneuerung des Ordenslebens nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil und der Würzburger Synode haben die Gestalt des Ordenslebens vielfach verändert. Aber sie haben die eigentliche Not, die viele Orden umtreibt, nicht beheben können. Vielmehr hat die Neuordnung der Werke und Tätigkeiten die eigentliche Fragestellung sogar noch verschärft. „Wer sind wir noch, wenn wir nicht mehr unsere Krankenhäuser oder Schulen haben?“ fragen sich manche Ordensleute. Oder: „Welche Bedeutung hat unsere kontemplative Lebensform noch für die Kirche, wenn der Nachwuchs ausbleibt?“ Der Umbruch in der Ordenslandschaft hat zu vielfältigen Unsicherheiten in der Frage nach der Identität von Ordensleuten und im Ordensleben geführt. Wenn wir uns heute nach dem ekklesiologischen Ort der Orden fragen, dann geht es letztlich um diese anthropologisch wie theologisch-geistlich bedeutsame Frage nach dem Sinn des Ordenslebens in der Kirche und für die Kirche.

Liebe Schwestern und Brüder, hier zeigt sich und rächt sich vielleicht sogar, dass man in einer ersten Rezeptionsphase vor allem die praktischen Anregungen der Konzilstexte zur Erneuerung des Ordenslebens aufgegriffen hat. Die eigentliche theologische und wirklich bewegende Sicht des Konzils auf das Ordensleben wurde und wird auch derzeit noch zu wenig wahrgenommen und bedacht. Denn wo hört ein Theologiestudent im Rahmen seiner Ekklesiologie-Vorlesung etwas über das Ordensleben? Oder wo erfährt die Theologiestudentin bei ihren pastoraltheologischen Studien etwas über die Kirche, die auch in den Orden lebt und wirkt? In den theologischen Standardwerken über die Kirche und ihre Pastoral tauchen die Orden auch 50 Jahre nach dem Konzil gar nicht oder höchstens in einer Anmerkung auf. Die Bedeutung des Ordenslebens für die Heiligkeit der Kirche und die Berufung aller zur Heiligkeit hat in der Rezeption des Konzils bislang – zumindest in Deutschland – kaum eine Rolle gespielt.

Auch im weltkirchlichen Kontext kommt es erst relativ spät zur Entwicklung einer Ordenstheologie. Entscheidende Impulse dazu finden sich in dem Apostolischen Schreiben „Vita consecrata“. Papst Johannes Paul II. hat es am 25.03.1996 veröffentlicht. Wie bereits in „Christifideles laici“ (1989) und in „Pastores dabo vobis“ (1993), also in den wichtigen Verlautbarungen über die Laien und die Priester, beschreibt Johannes Paul II. auch das geweihte Leben in dem Dreischritt von Mysterium, Gemeinschaft und Sendung. In diesen drei theologischen Strukturmomenten wird anschaulich, dass das Ordensleben eine konkrete Ausgestaltung der Grundstruktur des kirchlichen Lebens überhaupt und kein Sonderfall christlichen Lebens ist. Die ekklesiologische Spitzenaussage des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Orden in der Kirche führt in „Vita consecrata“ zu einer Deutung des Ordenslebens, bei der es jeweils um das Leben der ganzen Kirche geht. Im Ordensleben wird eine Hilfe für die Lebensgestaltung aller Gläubigen – der Laien wie der Priester – gesehen.

„De re nostra agitur – es geht um etwas, das uns betrifft“ (VC 3), so haben es die Bischöfe auf ihrer Synode formuliert. Und „Vita consecrata“ lässt keinen Zweifel daran: „Tatsächlich steht das geweihte Leben als entscheidendes Element für die Sendung der Kirche in deren Herz und Mitte, da es das innerste Wesen der christlichen Berufung offenbart und darstellt.“ (VC 3) Es waren theologisch hoch qualifizierte Ordensfrauen und Ordensmänner, die mehr als dreißig Jahre nach dem Konzil auch im deutschen Sprachraum eine Ordenstheologie zu entwickeln begannen. Exemplarisch nennen möchte ich die Arbeit „Ordens-Christen“ von Sr. Dr. Anneliese Herzig, die 1990 im Echter-Verlag erschien. Im Jahr 1998 hat Professor P. Dr. Joachim Schmiedl in seinem Buch „Das Konzil und die Orden“ die Krise und Erneuerung des gottgeweihten Lebens im 20. Jahrhundert nachgezeichnet. Auch das Buch von Dr. Manfred Scheuer, dem heutigen Bischof von Innsbruck, über „Die Evangelischen Räte“ (Echter-Verlag 1990) muss in diesem Zusammenhang erwähnt werden. Und seit 1998 entsteht und wirkt aus den Orden heraus eine „Arbeitsgruppe Ordenstheologie“, die durch Symposien und Veröffentlichungen eine zugleich theologische wie geistliche und praxisrelevante Reflexion des Ordenslebens voranbringt. In drei Büchern hat diese Gruppe von Ordenstheologen – auch für die ganze Kirche – wichtige Fragen zur Erneuerung (2002), zur Lebensentscheidung (2004) und zum geweihten Leben (2007) behandelt. Eine weitere Veröffentlichung zur diakonischen Dimension des Ordenslebens ist bereits in Vorbereitung. Ich bin sehr froh darüber und dankbar, dass sich in diesem Zusammenhang gerade auch promovierte und
habilitierte Ordensfrauen einbringen.

Wir deutschen Bischöfe haben uns 2005 auf einem Studientag während unserer Frühjahrs- Vollversammlung mit der „Entwicklung und gegenwärtigen Sendung der Gemeinschaften des geweihten Lebens“ befasst und im Anschluss daran einen über zwei Jahre gehenden Gesprächsprozess angestoßen, an dem viele auch von Ihnen beteiligt waren. In vier Fachgesprächen und in einem Zukunftsgespräch am 01.02.2007 haben Bischöfe und Ordensleute sich vor dem Hintergrund des dramatischen Rückgangs an Ordensberufungen mit Fragen der Kooperation zwischen Bistümern und Orden, der ordenseigenen Werke, der Berufungspastoral und der Theologie des Ordenslebens befasst. Die Ergebnisse dieses Prozesses wurden in der Schrift „Gemeinsam dem Evangelium dienen“ veröffentlicht1. In diesem Gesprächsprozess ist es uns – wie mir scheint – gelungen, sowohl die Kooperation zwischen Bistümern und Orden auf vielen Ebenen zu intensivieren wie die pastorale und theologische Bedeutung des Ordenslebens in der Kirche und für die Kirche zu entfalten. Eine Frucht dieses Gesprächsprozesses ist auch die Koordinierungskonferenz, die wir zwischen der Deutschen Bischofskonferenz und der Deutschen Ordensobernkonferenz eingerichtet und paritätisch besetzt haben, um gemeinsame Themen und Anliegen möglichst zeitnah beraten und weiter entwickeln können.

4. Perspektiven für die Orden in der Kirche heute
Es sind die Grundfragen des Ordenslebens, die die Theologinnen und Theologen aus Ihren eigenen Reihen wie die Gespräche der Bischöfe mit den Ordensverantwortlichen seit 2005 bewegen und die uns damit zur zentralen ekklesiologischen Perspektive des Zweiten Vatikanischen Konzils zurückführen. Wenn – wie es „Lumen gentium“ ausgeführt hat – der theologische Sinn des Ordenslebens darin liegt, die universale Berufung zur Heiligkeit in der Kirche zu fördern, was bedeutet das konkret für das Ordensleben in der Kirche in Deutschland? In den folgenden Perspektiven geht es mir weniger um einzelne Details. Ich will vielmehr die grundlegende Perspektive von „Lumen gentium“ anwenden und etwas über die Bedeutung der Orden nicht nur für die Berufung einzelner, sondern für den Weg der ganzen Kirche sagen. Es geht hier um einen Grundauftrag aller Institute des geweihten Lebens, ganz gleich ob sie sich apostolisch oder monastisch oder kontemplativ verstehen.

1. Liebe Schwestern und Brüder, unterschätzen Sie nicht, was Sie in der Kirche sind; denn das, was Sie in der Sicht des Zweiten Vatikanischen Konzils für die Kirche sind, sind Sie ja nicht aufgrund Ihrer Werke und Tätigkeiten oder Ihrer Leistungen und Erfolge. Die Orden sind eine „göttliche Gabe“ an die Kirche, sagt „Lumen gentium“ – und das wird weder durch die zurückgehenden Zahlen noch durch einen hohen Altersdurchschnitt, ja nicht einmal durch das Sterben einzelner Gemeinschaften aufgehoben. Die Orden halten in der Kirche den absoluten Vorrang Gottes präsent. Nicht als einzelne, sondern gerade als Gemeinschaft sind die Orden ein prophetisches Zeichen dafür, dass es auch in der Gemeinschaft der Kirche einen Vorrang der Gnade vor der menschlichen Leistung gibt. Damit muss es auch einen Vorrang der Berufung zur Heiligkeit vor der menschlichen Selbstdarstellung geben, einen Vorrang der Personen vor den Strukturen, einen Vorrang des gemeinsamen Bemühens vor dem Alleingang einzelner, einen Vorrang des Dienens vor dem Amt und allen anderen Beauftragungen, einen Vorrang des verborgenen Fruchttragens vor dem publikumswirksamen Auftritt, einen Vorrang der Armen und Bedrängten vor den Mächtigen und Reichen. Im Laufe ihrer Geschichte haben die Orden auf vielfältige Weise – durch Gebet und Apostolat – zur Heiligung vieler in der Kirche beigetragen. Auch heute wird in den Orden viel zum Heil der Menschen getan, etwa in der geistlichen Begleitung und in vielen anderen pastoralen, pädagogischen und diakonischen Feldern. Das Konzil hat es uns aber ermöglicht, deutlicher als es in der Vergangenheit vielleicht möglich war, die Bedeutung des Ordenslebens für die Heiligkeit der Kirche überhaupt in Blick zu nehmen. Das fordert nicht nur die Ordensleute ein, sondern ebenso und vielleicht mehr noch alle anderen in der Kirche, die diese prophetische Bedeutung der Orden ausblenden, vergessen oder verdrängen.

2. Die Schrift „Gemeinsam dem Evangelium dienen“, die wir deutschen Bischöfe herausgegeben und an deren Inhalten Ordensleute entscheidend mitgewirkt haben, knüpft an die konziliare Theologie des Ordenslebens an. Der zentrale Leitgedanke in „Gemeinsam dem Evangelium dienen“ ist der „Austausch von Gaben“. „Ein Geschenk“, heißt es dort, „ist nur dann ein Geschenk, wenn man es annimmt und wertschätzt. Die Gabe des geweihten Lebens fordert Diözesen und Orden, die Gemeinschaften des geweihten Lebens wie die Gemeinden in unseren Bistümern heraus, dieses Geschenk tatsächlich zu empfangen und es sich zu Eigen zu machen.“ (S. 17) Mit dieser Sicht des Ordenslebens als Charisma verbindet sich ein Bild von Kirche, die nicht nur aus Ämtern und Diensten besteht. Eine solche charismenorientierte Sicht von Kirche lenkt den oft auf die kirchlichen Strukturen und den Personalmangel fixierten Blick weg – hin auf Gemeinschaften und auf Personen in Gemeinschaften. Ohne mit einem Amt oder Dienst beauftragt zu sein, versammeln sich hier Brüder und Schwestern um das Wort Gottes: lassen sich vom Evangelium anfragen und bekehren; bilden christliche Gemeinde und übernehmen vielfältige Verantwortung für die Kirche und in der Gesellschaft. Sinkende oder gar fehlende Eintrittszahlen und eine auf den Kopf gestellte Alterspyramide haben Sie in den Orden nicht daran gehindert, neue Gemeinschaften, die zahlenmäßig oft klein sind, zu gründen. Sie haben damit deutlich gemacht, dass ein Weg der Berufung zur Heiligkeit vor allem in Gemeinschaft gehen kann. Christsein bedarf der geschwisterlichen Begleitung und der Fähigkeit zur Glaubenskommunikation. Dieser gemeinschaftliche Charakter gilt übrigens auch für die singulären Berufungen, etwa als Eremit oder als geweihte Jungfrau. Auch diese Berufungen bedürfen der Einbindung in die Gemeinschaft der Kirche und der Unterstützung durch andere Gläubige. Sie und Ihre Ordensgemeinschaften haben bei Ihren neuen Initiativen manches Mal – im guten Sinn des Wortes – auch Grenzen überschritten, Sie haben Übergänge gestaltet, indem Sie sich z.B. mit anderen Gemeinschaften zusammengetan oder sogar über die Orden hinaus die Zusammenarbeit mit anderen Organisationen innerhalb wie außerhalb der Kirche gesucht haben. Natürlich ist noch nicht überall absehbar, was aus diesen Initiativen in Zukunft werden wird. Aber in all dem machen Sie als Orden doch etwas ganz Zentrales deutlich: Kirche auch dann, wenn wir zahlenmäßig weniger werden, eine hohe Präsenz haben.

Liebe Schwestern und Brüder, Sie zeigen, dass eine neue Gestalt von Kirche möglich ist. Dabei geht es um eine Kirche, die sich nicht so sehr durch den Umbau von Strukturen als vielmehr durch die Umkehr von Personen erneuert; eine Kirche, die reich ist an Charismen und über diesen Reichtum sich freuen kann; eine Kirche, die sich quer durch alle Ämter und Dienste, Berufungen und Charismen als eine Gemeinschaft versteht; eine Kirche, die Gott und den Menschen nahe ist. Ich möchte Sie ermutigen: nehmen Sie die Impulse des Heiligen Geistes, die in ihren Gemeinschaften spürbar sind, auf. Vergessen Sie dabei nicht, was der Heilige Benedikt in seiner Regel sagt, dass Gott oft sogar einem jüngeren Bruder / einer jüngeren Schwester eingibt, was das Bessere sei. Bilden Sie mit den Ihnen zur Verfügung stehenden Charismen und Ressourcen je nach Ihrer Berufung auch neue Gemeinschaftsformen aus. Experimentieren Sie – auch mit dem Mut, dass nicht alles gelingen wird –, wie die Sendung Ihres Ordens unter den heutigen gesellschaftlichen Bedingungen gehen kann. Ja, tragen Sie dazu bei, dass viele Menschen ihre Berufung zur Heiligkeit entdecken und dann auch neue kirchliche Lebens- und Gemeinschaftsformen ausbilden, in denen sie auf einem ihnen gemäßen Weg Gott danken und antworten können für ihre Berufung.

3. Gestatten Sie mir einen dritten und letzten Aspekt: Wir erleben sowohl in der Gesellschaft wie in der Kirche einerseits eine wachsende Vereinsamung und eine leidvoll erfahrene Beziehungslosigkeit vieler, deren Ursachen sicher sehr vielfältig sind. Andererseits begegnet uns aber auch eine neue Suche nach Gemeinschaft. Gesucht wird nach Gemeinschaftsformen, die einerseits weiter sind, als es Ehe und Familie sein können, die aber zugleich auch näher und persönlicher sind als es etwa eine Pfarrgemeinde sein kann. Viele erwarten gerade von der Kirche eine Gemeinschaftsform, in der Bestätigung, Bestärkung und gegenseitige Vergewisserung im Glauben möglich ist. Gesucht wird nach einer Gemeinschaft, die sich durch authentische Kommunikation und verbindliche Beziehungen auszeichnet, die Verantwortung für die Menschen in ihrem Nahbereich übernimmt und die die eigene Lebensgestaltung mit all ihren Anforderungen wirklich prägen und frei setzen kann. Nicht zuletzt sind es viele Priester und Hauptberufliche in der Kirche, die nach neuen Formen der Vergemeinschaftung im Glauben suchen. Die Orden haben immer schon in der ganzen Kirche präsent gehalten, dass es neben der Familie noch andere Gemeinschaftsformen in der Kirche gibt, die an Verbindlichkeit und Verantwortung füreinander der Ehe keineswegs nachstehen. In diesem Kontext bekommen die Orden mit ihren alten bewährten oder auch neuen experimentellen Gemeinschaftsformen für die ganze Kirche eine neue Aktualität. Die Herausforderung für die Orden liegt dann darin, erfahrbar und nachvollziehbar zu machen, wie Beziehung zwischen sehr verschiedenen Individuen möglich ist; wie wechselseitige Anerkennung und gegenseitiger Dienst gelingen kann; wie persönlicher Austausch im Glauben und Verantwortung für den Nächsten gehen kann; wie Gottes Wort Menschen zusammenführt und wie man gemeinsam sich zum Gottesdienst und Gebet einfindet. Ausdrücklich ermutige ich Sie; Lassen Sie sich nicht durch Ihr Kleinerwerden oder durch Ihr Alter von dieser Aufgabe abbringen! „Gebt Zeugnis von der Hoffnung, die euch erfüllt!“

Verehrte Oberinnen und Obere, von ganzem Herzen sichere ich Ihnen meine Sympathie und Unterstützung für das Ordensleben in unserer Kirche zu. Ich bin dankbar für das große Engagement von Ordensleuten, das ich nicht nur als Erzbischof von Freiburg, sondern auch als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz erlebe. Ich denke dabei an das vielfältige apostolische Wirken wie an die nicht weniger bedeutsame Gebetsexistenz der Orden. Das Mitdenken und Mittragen unserer Überlegungen und Vorhaben in den Kommissionen der Bischofskonferenz durch die Beraterinnen und Berater aus Ihren Gemeinschaften weiß ich sehr zu schätzen. Für unsere weitere Zusammenarbeit erhoffe ich mir, dass wir – z.B. in der Koordinierungskonferenz – verstärkt auch die wichtigen und gemeinsam bewegenden Fragen zur Zukunft der Kirche in Deutschland angehen können. Ich weiß um Ihre Zukunftssorgen, aber ich setze auch auf die prophetische Existenz der Orden in unserer Kirche. Dazu wünsche und erbitte ich Ihnen Gottes reichen Segen!


© 2011 www.kath.net