Hirntoddebatte: Ein 'Mahnbrief' von Thomas von Aquin

5. November 2011 in Kommentar


Organspende, Hirntod – das waren zu Lebzeiten des Kirchenlehrers Thomas von Aquin noch keine medizinisch und ethisch diskutierten Fragen. Doch was würde er dazu sagen, wäre er unser Zeitgenosse? Von Marcus Knaup


Wien (kath.net) Organspende, Hirntoddefinition – was zur Zeit des Kirchenlehrers Thomas von Aquin (1224-1274) noch nicht denkbar war, ist heute medizinischer Alltag. Man kann sicher sein, dass sich der hl. Thomas von Aquin den dadurch entstandenen ethischen Fragen engagiert stellen würde, so er denn heute leben würde. Marcus Knaup schrieb einen „Mahnbrief“ im Originalton des größten Gelehrten der Christenheit:


An die Bischöfe
An die Priester und Ordensleute
An die christgläubigen Laien, vor allem die Ärzte und Politiker
Und an alle Menschen guten Willens

Mit wachsender Sorge habe ich die Diskussionen über den Wert menschlichen Lebens, die Spende von Organen und den so genannten Hirntod in deutschen Landen verfolgt. Als Kirchenlehrer der heiligen katholischen Kirche sehe ich es als meine Pflicht an, nun zu Euch zu sprechen und Euch eindringlich zu ermahnen.

1. Moderne Herausforderungen für Kirche und Theologie

Herausforderungen des Denkens gab es zu allen Zeiten. Ich erinnere Euch an die wichtige Frage des 13. Jahrhunderts, wie die Kirche und ihre Theologen mit dem Denken des griechischen Philosophen Aristoteles und der Rezeption durch arabische Kommentatoren umgehen sollten. Es gab solche, die ängstlich auf Abwehr drängten und solche, die begeistert alles zu übernehmen beabsichtigten und einige Glaubensvorstellungen damit zu verwerfen bereit waren. Keiner dieser Wege erschien mir letztlich als klug und ich habe einen Mittelweg eingeschlagen, den ich Euch für Eure Fragen in Theologie und Kirche ebenfalls ans Herz legen möchte. Das gilt auch für den Umgang mit den modernen Neurowissenschaften und Fragen der Medizin.

Die Daten der Hirnforscher und die Erkenntnisse der Mediziner sind faszinierend und viele ihrer Projekte überaus begrüßenswert. Sie ermöglichen es, viel mehr über den Menschen zu wissen. Das entspricht seiner Würde. Ängstlichkeit ist ebenso wenig angebracht wie ein blindes Vertrauen darauf, dass hier alles über den Menschen gesagt werden könne. Wissenschaftler aus Forschungslaboren sind keine Priester und ihre Forschungsdaten sind nicht das Evangelium. Auch heute gilt: „Prüft alles und behaltet das Gute!“ (1 Tess 5, 21)

Ein radikal naturalistisches Menschen- und Weltbild ist wohl die große Herausforderung für die Kirche und Theologie dieser Tage: Der Mensch wird auf Gehirn und Geist reduziert. Besonders greifbar wird dies in der neuen Hirntoddefinition des 20. und 21. Jahrhunderts. Hirnstrukturen sind gewiss notwendig, um gewisse Tätigkeiten zu vollziehen. Da wisst Ihr Heutigen weit mehr zu berichten als ein Mensch des 13. Jahrhunderts. Ihr Heutigen aber scheint oftmals zu vergessen, dass diese Hirnareale keineswegs hinreichend sind für unsere Lebensvollzüge. Das gilt insbesondere für den Anfang und das Ende menschlichen Lebens, also dann, wenn bestimmte Hirnstrukturen noch nicht ausgebildet sind oder nicht mehr tätig sind.

2. Der Mensch als Geschöpf Gottes ist mehr als ein einzelnes Organ

„Was ist der Mensch, dass du an ihn denkst, des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?“ (Ps 8,5), fragt der Psalmist. Wenn wir vom Menschen sprechen, meinen wir nicht einen Gegenstand, der sich vermessen und berechnen lässt. Wir meinen auch nicht ein Organ, wie z. B. das Gehirn, über das man dank fleißiger Forscher so viel Wunderbares und Schönes weiß. Es ist vielmehr so, dass wir jemanden meinen, der sich in seinem Sein von allem anderen abhebt, was sonst zur geschaffenen Welt gehört. Als menschliche Personen zeichnen uns bestimmte Vermögen aus, die nur wir haben. Es gibt aber auch viele Lebensäußerungen, die der Mensch mit anderen Lebewesen teilt. Auch Tiere und Pflanzen sind von einem Formprinzip, einer Seele, durchwaltet. Wenn Aristoteles von der „Seele“ spricht, ist damit nichts Mysteriöses gemeint. Schon gar kein „Gespenst in einer Körpermaschine“ oder etwas, das man in neuronalen Netzen einfangen könnte. Vielmehr ist mit diesem Begriff das Lebendigsein eines Organismus angesprochen, was den hohen Wert anzeigt, den der Philosoph der Seele zuspricht.

Der Mensch ist nicht eine den Körper gebrauchende Seele, da diese Sichtweise unsere körperliche Seite vergisst. Körper und Seele sind nicht vermischt (per modum mistionis), oder wie man heute gerne sagt: identisch. Sie sind verschieden, aber die Seele ist allein keine Einzelsubstanz. Unabhängig vom Körper kann sie nicht sein, weshalb wir sagen, dass sie keine Person ist. Sie teilt ihr Sein dem Körper mit. Wir sagen nicht, die Seele sei ein Körper oder ein Körperorgan. Wir sprechen davon, dass sie das Prinzip eines lebendigen Körpers ist. Sie ist die Wirklichkeit des Körpers (actus corporis). Der Körper ist nur durch die Seele in der Lage, aktuell zu existieren, so dass aus beiden eine einzige Substanz wird. Als forma corporis durchwirkt sie den Körper, der ohne sie nur der Möglichkeit nach lebendig wäre. Das bedeutet: Sie ist im ganzen Körper (in corpore toto), nicht etwa nur in einem Teil oder einem besonders wichtigen Organ. Wir sagten nämlich, dass sie als forma der actus unseres gesamten Körpers ist. Sein und Tätigsein schreiben wir dem aus Materie und Form Verbundenen zu, also nicht der Form oder der Materie allein. Anima intellectiva und sensitiva sind bei uns eine einzige Form! Der Mensch in seiner leib-seelischen Ganzheit ist Person. Und die Person ist das Vollkommenste in der ganzen Natur.

Der Mensch wurde im Bild Gottes geschaffen, wie die Genesis uns lehrt. „Weil jede Wirkung immer auch von ihrer Ursache kündet und wie der Rauch vom Feuer kündet, so leuchtet in den vernunftbegabten Geschöpfen, die sich durch Verstand und Willen auszeichnen, die Dreifaltigkeit ‚in der Art einer Spur’, eines entfernten Abbildes auf.“ (Sth Ia q. 46a7).

Dadurch, dass das Belebte einen Körper hat, unterscheidet es sich vom rein Geistigen. Die Seele ist die Ursache (aitia) und das Prinzip (archê) des Lebens. Dies bedeutet, dass aus den materiellen Prozessen nicht das Lebendigsein und die dafür charakteristischen Lebensäußerungen hervorgebracht werden können, diese also keine hinreichende Erklärung für Leben darstellen. Leben kann nicht vom Vollzug des Lebens abgelöst werden. Zu uns gehört ganz wesentlich die Leiblichkeit. Unsere verschiedenen sinnlichen Tätigkeiten finden nicht ohne den Leib statt. Denkt doch nur einmal daran, dass ein angenehmes Bad und ausreichender Schlaf unserem Leib gut tun und unsere Seele vor Traurigkeit bewahren (Sth I-II q38a5). Gerade deshalb darf man Menschsein auch nicht auf gewisse Vermögen verkleinern: nicht auf unsere Erinnerung, nicht auf das, was wir bewusst tun. Die Person ist das, was Leib und Seele umfasst. Sie entsteht nicht durch eine Bündelung von Eigenschaften, durch charakteristische Merkmale oder Hirnfunktionen. Beeinträchtigungen des Gehirns können freilich erhebliche Folgen für das Leben und Denken des Menschen haben. Es ist aber eine Irrlehre anzunehmen, unser Gehirn mache unser Personsein aus. Die leib-seelische Personeinheit besteht bis zum Tod (Ich empfehle Euch hierzu ganz besonders: Summa contra gentiles, 2. Buch, Kap. 56-90 und die quaestiones 75-89 aus meiner Summa theologiae im ersten Teil.)

3. Argumente müssen konsistent sein

Wie vor mir Alexander von Hales habe ich immer wieder versucht deutlich zu machen, dass jeder Mensch eine Würde hat. Ich stelle fest, dass es unter Euch viele ehrenwerte Bischöfe, Theologen, Politiker und Ärzte gibt, die sich für die Würde des Menschen einsetzen. Wer für die Würde des Menschseins zu Beginn des Lebens eintritt (also dann, wenn gewisse Hirnstrukturen noch nicht ausgebildet sind), kann vollwertiges Personsein im Sterbeprozess des Menschen doch nicht vom Funktionieren oder Nichtfunktionieren einzelner Hirnareale abhängig machen.

4. Hirntote sind nicht tot. Sie zeigen noch viele Lebensäußerungen

Autoren, die für das Hirntodkonzept eintreten, machen immer wieder den Gedanken stark, dass dieser Zustand irreversibel sei. Manche sprechen von einem „Zerfall des ganzmenschlichen Lebens“, was es nahelege, Organe entnehmen zu dürfen. Wenn das Hirn als „übergeordnetes Steuerorgan“ und „Sitz allen Denkens“ ausgefallen sei, hätte der menschliche Organismus seine ganzheitliche, übergeordnete Leib-Seele-Einheit verloren. Daher müsse man den Hirntod als Tod der menschlichen Person anerkennen.

Sed contra: Angesehene Vertreter aus dem medizinischen Bereich weisen darauf hin, dass bei einem Menschen, der für hirntot erklärt wird, mindestens 97 Prozent noch lebendig sind. Zahlreiche Lebensäußerungen können bei Hirntoten festgestellt werden: Dies sind z. B. Abwehrbewegungen und Wundheilung. Ihr Herz schlägt noch, Stoffwechsel findet noch statt. Tränen können noch fließen und manchmal umarmen sie Angehörige und das Pflegepersonal. Ihre Haut fühlt sich rosig und warm an. Es gibt Gelehrte, die meinen, es handle sich um eine sehr primitive Lebensform, vegetative Restfunktionen des Menschen. Aber auch sie gestehen offensichtlich zu, dass es noch eine Lebensform gibt.

Respondeo: Bei Toten gibt es derartige Lebensäußerungen nicht. Wir haben es mit Sterbenden und nicht mit Toten zu tun. Die Seele ist „das erste Prinzip des Lebens in den Dingen, die bei uns leben, beseelt nämlich nennen wir Lebendes, unbeseelt aber Dinge, die kein Leben haben“ (Sth I, qu. 75a. 1co). Warum aber werden diese Menschen für tot erklärt - oftmals sogar im Namen der christlichen Nächstenliebe? Man beabsichtigt, durch diese Umdefinition Menschenleben zu retten. Die bei Euch übliche Praxis der Organspende hat nichts mit einer „postmortalen Spende“ zu tun. Ich will es Euch ganz deutlich sagen: Es werden lebende Menschen ausgeschlachtet wie eine Weihnachtsgans. Schwingt Euch nicht auf zu Herren über das Leben und Eure Mitmenschen, was immer dann geschieht, wenn Eure Ärzte darüber entscheiden, dass Hirntote Tote sind, was in vielen Ländern dieser Welt überaus unterschiedlich gehandhabt wird. Wahrheit ist keine Frage des munteren Definierens. Gott allein ist der Herr über Leben und Tod. Er ist der Schöpfer der Welt (Gen 1; Ps 90,3).

Ich habe gelehrt, dass die Seele keinen organischen Sitz hat und im Verhältnis zum ganzen Leib steht. Wenn ich recht sehe, lokalisieren einige Befürworter des Hirntodkonzeptes seelisches Leben im Gehirn oder sie behaupten, ein Hirnprozess und ein seelischer Vorgang seien dasselbe. Gute philosophische und theologische Argumente sprechen gegen diese Sicht. Der Organismus eines Hirntoten hat offensichtlich noch Form, Struktur und Dauer. Ich will es noch einmal anders sagen: Er ist noch beseelt. Die Materie bzw. unser Hirn ist keineswegs die ontologisch hinreichende Bedingung für unsere Lebensäußerungen. Unser Leib ist die Ermöglichungsgrundlage für unsere Lebensäußerungen, deren Prinzip die anima ist. Solange noch nicht alle vegetativen Funktionen erloschen sind, haben wir es noch mit einem lebendigen Leib zu tun, dem Würde, Achtung und ein Recht auf Unversehrtheit gebührt. Ein Mensch ist tot, wenn sämtliche Lebensvollzüge seines Organismus aufgehoben sind, dieser Organismus also keine Entelechie, keine Seele, mehr hat. Eure besten Forscher können dies auch mit der modernsten Technik nicht messen und berechnen. Achtet das Leben und haltet Euch an das Tötungsverbot vom Sinai. Es ist kein Ausdruck von Liebe, der „Königin der Tugenden“, einen Menschen zu töten - auch wenn damit das Leben eines anderen Menschen verlängert werden kann. Es ist vielmehr ein beklagenswerter Verstoß gegen die Selbst- und die Nächstenliebe. In aller Dringlichkeit sage ich Euch: Kehrt um! „Seid nüchtern und wachsam! Euer Widersacher, der Teufel, geht wie ein brüllender Löwe umher und sucht, wen er verschlingen kann. Leistet ihm Widerstand in der Kraft des Glaubens!“ (1 Petr 5, 8-9)

Euer frater Thomas von Aquin, Kirchenlehrer

P.S.: Dies wurde an die Redaktion übermittelt von einem meiner jungen Schüler, dessen eigene Arbeit zu diesem Thema ich nicht unerwähnt sein lassen möchte: Marcus Knaup, Organspende als Akt der Nächstenliebe? Ein Dialogangebot an die Bischöfe Gebhard Fürst und Anton Losinger

Dr. Marcus Knaup (geb. 1979) studierte katholische Theologie (Diplom), Philosophie und Philosophie der Religion (Magister) in Paderborn und Freiburg. Er hat an der Albert-Ludwigs-Universität im Fach Philosophie über das Leib-Seele-Problem promoviert und ist Mitherausgeber des Sammelbandes Post-Physikalismus (Alber). Freiburg 2011. Seit Sept. 2011 ist er Postulant im Dominikanerorden.


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