30. November 2011 in Interview
Kardinal Marx zum Verhältnis von Kirche und Staat. Von Christoph Renzikowski (KNA)
München (kath.net/KNA) Am 25. Dezember hat nicht nur Jesus Geburtstag. Der Mainzer Bischof und Sozialreformer Wilhelm Emmanuel von Ketteler wäre am diesjährigen Weihnachtstag 200 Jahre alt geworden. Die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) sprach mit dem Münchner Kardinal Reinhard Marx, dem Sozial- und Wirtschaftsexperten der Deutschen Bischofskonferenz, über das Vermächtnis dieses großen Kirchenmanns.
KNA: Herr Kardinal, feiern Sie Weihnachten dieses Jahr intensiver als sonst?
Marx: Durch sein Geburtsdatum ist Ketteler sozusagen ein Christkind, dadurch erhält Weihnachten für mich gewiss einen besonderen Akzent. Aber das Wichtigste bleibt doch, dass Christus geboren ist, das ist das Überwältigende an Weihnachten.
KNA: Ein Theologe hat Ketteler und Sie als «Brüder im Geiste» bezeichnet. Fühlen Sie sich da richtig getroffen?
Marx: Ja, ganz klar. Als Bischofsgestalt wie als Sozialethiker ist er schon eine Leitfigur für mich.
KNA: Christ sein heißt politisch sein - auf diese Formel bringen Sie sein Vermächtnis in Ihrem neuen Buch. Wo verläuft die Grenze zwischen notwendiger politischer Einmischung und «Politisiererei»?
Marx: Die Kirche kann sich nicht an die Stelle von Politikern oder auch Wirtschaftsfachleuten setzen und Sachfragen lösen. Dafür hat sie keine Kompetenz. Aber bei den Prinzipien, die natürlich auch gut begründet sein müssen, haben wir etwas beizutragen.
Eine zentrale Einsicht Kettelers lautet: Soziale Gerechtigkeit gehört unmittelbar zum «depositum fidei», also zum Glaubenskern dazu und ist kein Anhängsel. So deutlich hat das vor ihm noch keiner gesagt. Alles, was den Menschen berührt und betrifft, sind auch Glaubensfragen. Deshalb muss sich die Kirche äußern, wenn es um die Menschenwürde und das Miteinander geht.
KNA: Wer Sie beobachtet, gewinnt den Eindruck, dass der liebe Gott Ihnen auch politisches Talent in die Wiege gelegt hat. Fällt es Ihnen manchmal schwer, das zurückzuhalten?
Marx: Ich habe mich immer für politische Fragen interessiert und hätte mir das auch beruflich vorstellen können. Aber meine Entscheidung für den Weg zum Priestertum fiel sehr frühzeitig. Manchmal, wenn ich Nachrichten sehe oder Zeitung lese, rege ich mich über bestimmte Positionen auf. Es drängt mich zu einer Wortmeldung - und dann mäßige ich mich. Ein Bischof muss nicht jedes tagespolitische Ereignis kommentieren.
KNA: Ketteler war in der Zeit des Kulturkampfes ein großer Streiter für die Freiheit der Kirche. Wo sehen Sie diese heute bedroht?
Marx: Die Kirche ist eine Wirklichkeit, die den Staat in seinen Expansionswünschen begrenzt und von daher ein Freiheitspotenzial entfaltet. Das zeigt sich durch die ganze Geschichte des Abendlandes hindurch. Von daher ist ein Wort Kettelers zentral, das auch der Papst zu meiner Freude bei seinem Deutschlandbesuch zitiert hat: «Wie die Religion der Freiheit bedarf, so bedarf auch die Freiheit der Religion.»
Bei uns in Deutschland gilt heute Religionsfreiheit. Dass diese auch den öffentlichen Raum umschließt, wird leider immer mal wieder bestritten. Dagegen wehren wir uns und wissen das Recht auf unserer Seite.
KNA: Ketteler trug den Ehrentitel «Arbeiterbischof». Seine Initiativen stehen am Beginn der Katholischen Soziallehre und der deutschen Sozialstaatlichkeit. Trotzdem konnte die Würzburger Synode knapp 100 Jahre später klagen, die Kirche habe die Arbeiterschaft verloren. Was ist da schief gelaufen?
Marx: Es stimmt jedenfalls nicht, dass die Arbeiterbewegung nur von Sozialisten und Kommunisten geprägt war. Auch Christen waren engagiert, aber der Gewerkschaftsstreit innerhalb des deutschen Katholizismus hat die katholische Arbeiterschaft in große Schwierigkeiten gebracht, im Grunde eine Tragödie. Aber das geschah alles nach Ketteler.
Und man muss sehen, dass Ketteler auch schon zu seiner Zeit nicht einfach die Stimme des deutschen Katholizismus war, ja noch nicht einmal die Mehrheit der Deutschen Bischofskonferenz repräsentierte. Insofern ist die Analyse der Würzburger Synode leider berechtigt, auch wenn in der Geschichte der Arbeiterbewegung oft ausgeblendet wird, was katholische Vereinigungen positiv zu ihr beigetragen haben.
KNA: Der Mainzer Bischof zählte beim Ersten Vatikanischen Konzil zu den Wortführern der Minderheit, die die Definition der päpstlichen Unfehlbarkeit ablehnte. Können Sie seine Bedenken nachvollziehen?
Marx: Für Ketteler war nicht die Lehre zweifelhaft, dass der Nachfolger Petri von Christus im Rahmen der Gesamtkirche mit dieser Gabe beschenkt ist. Aber er hat zu Recht gesehen: Ist es in diesem Augenblick opportun, das jetzt festzustellen, und ist es genügend theologisch abgesichert und erforscht?
Später haben die beim Konzil unterlegenen deutschen Bischöfe, Ketteler eingeschlossen, dieses Dogma verteidigt. Das zeigt: Es ist auch in der Kirche legitim über eine Entscheidung zu diskutieren, bis sie da ist. Dann muss man aber auch dazu stehen.
KNA: Zurück zu Weihnachten. Hat dieses Fest auch eine politische Botschaft?
Marx: Das schönste Wort, das mir dazu immer wieder einfällt, ist eines von Joseph Ratzinger. Weihnachten bedeutet: Es ist gut, ein Mensch zu sein. Als ich diesen schlichten Satz vor vielen Jahren zum ersten Mal las, hat er mich sehr beeindruckt. Warum ist es gut, ein Mensch zu sein? Weil Gott Mensch geworden ist. Das bedeutet auch, dass wir uns besonders um die Schwachen kümmern müssen.
Der englische Schriftsteller Gilbert Keith Chesterton hat einmal gesagt: Wer einen Gott anbetet, der als schreiendes Baby in einer Krippe liegt, der kann eigentlich nicht zum Fanatiker werden. Da können wir etwas erahnen von der Faszination des Weihnachtsfestes.
Buchhinweis: Kardinal Reinhard Marx: «Christ sein heißt politisch sein. Wilhelm Emmanuel von Ketteler für heute gelesen», Verlag Herder, Freiburg 2011, 140 Seiten, 14,95 Euro.
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