'Das älteste Dokument, das den Namen Jesu enthält'

12. Dezember 2011 in Interview


Neue Kontroverse um die Echtheit der Kreuzinschrift-Reliquie von Rom. In einem Exklusivinterview mit kath.net antwortet Michael Hesemann auf PM-Vorwürfe, er und der Vatikan hätten die entsprechende Datierung vertuscht.


Rom (kath.net)
In einem Sonderheft mit dem Titel „Jesus – Menschensohn, Erlöser und Rebell“ untersucht das deutsche Magazin „PM HISTORY“ den Wahrheitsgehalt der Evangelien und die Echtheit christlicher Reliquien. Dabei nimmt sich Chefredakteur Sascha Priester auch der Reliquie der Kreuzesinschrift an, deren Echtheit der deutsche Historiker Michael Hesemann in seinen Büchern „Die Jesus-Tafel“ und „Jesus von Nazareth“ nachzuweisen versucht. Laut „PM History“ soll es sich jedoch um eine Fälschung aus dem Mittelalter handeln, eine beweiskräftige Datierung habe der Autor geflissentlich verschwiegen. In einem Exklusivinterview mit kath.net antwortet Hesemann jetzt auf die Vorwürfe. Das Interview führte Yuliya Tkachova

kath.net: Herr Hesemann, in Ihrem Buch „Die Jesus-Tafel“ behaupten Sie, in der römischen Basilika di Santa Croce in Gerusalemme würde eine echte Reliquie, die Hälfte der Kreuzesinschrift Jesu, verwahrt werden. Auch in Ihrem Buch „Jesus von Nazareth“ gehen Sie von der Echtheit dieser Holztafel aus. Jetzt hat sich die Zeitschrift „PM History“ in ihrem Jesus-Heft dieser Reliquie angenommen und kam zu dem Ergebnis, es sei eine Fälschung aus dem Mittelalter. Sie wirft Ihnen und dem Vatikan sogar vor, die entsprechende Datierung vertuscht zu haben. Was können Sie darauf entgegnen?

Michael Hesemann: Zwei Dinge: Ich bin nach wie vor von der Echtheit der Reliquie des „Titulus Crucis“, wie sie offiziell heißt, überzeugt und ich habe nichts vertuscht. PM hat dagegen ziemlich unsauber recherchiert.

Aber lassen Sie mich kurz rekapitulieren: 1997, bei einem Aufenthalt in Rom, besuchte ich die Basilica S. Croce in Gerusalemme und ihre Seitenkapelle, in der die angeblichen Passionsreliquien verehrt werden: Einige größere Fragmente des Kreuzes Christi, einer der Kreuzigungsnägel, zwei Dornen der Dornenkrone, der Querbalken vom Kreuz des „guten Diebes“ und eben die Kreuzesinschrift. Nun tritt bei mir manchmal der Christ in mir in Widerstreit mit dem Historiker: Der eine möchte einfach glauben, der andere will es wissen, den verlangt es nach der Wahrheit! In jedem Wissenschaftler steckt halt etwas vom „ungläubigen Thomas“, dem ersten Skeptiker. Mir war klar, dass ich nie herausfinden würde, ob die Holzsplitter nun tatsächlich vom Kreuz des Herrn stammten und die Dornen von der Dornenkrone. Der Nagel entsprach zumindest von der Größe her der Nagelwunde auf dem Abbild des Turiner Grabtuchs.

Inschriften aber, das wusste ich als Historiker, kann man datieren. Zu jeder Zeit haben die Menschen anders geschrieben. Das können Sie nachprüfen, wenn Sie die Feldpostbriefe Ihres Großvaters heraussuchen oder in Archiven historische Handschriften studieren. Auch Steininschriften lassen sich mit einer Methode, die man „vergleichende Paläographie“ nennt, recht zuverlässig datieren. Man vergleicht einfach die Schreibweise ihrer Lettern mit eindeutig datierten Inschriften, die etwa einen Kaiser oder König nennen, von dem man weiß, wann er regiert hat. Die Schriftrollen vom Toten Meer wurden auf diese Weise zutreffend datiert, bevor die erste Radiokarbondatierung an ihnen vorgenommen wurde, die berüchtigte „Konstantinische Schenkung“ entlarvte man paläographisch und sprachwissenschaftlich als Fälschung aus dem Mittelalter.

Zunächst fragte ich den Abt des Klosters von Santa Croce, ob schon einmal eine solche Datierung des Titulus versucht wurde und als er dieses verneinte, beschloss ich, die Sache selber in die Hand zu nehmen. Da ich dazu gute Fotos der Holztafel brauchte und man sie dafür aus ihrem silbernen Reliquiar herausholen musste, beantragte ich die Erlaubnis dazu beim Vatikanischen Staatssekretariat. Mein Anliegen wurde der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften vorgelegt, die „grünes Licht“ gab. Nun ließ mich der Abt wissen, dass die von mir gewünschten Fotos bereits vorlagen, und so wurden mir Abzüge ausgehändigt, mit denen ich nach Israel flog, um die führenden Experten für die Datierung von Inschriften aus dem Heiligen Land zu konsultieren.

Ihr einhelliges Urteil: Der Titulus Crucis stammte aus dem 1. Jahrhundert, der Zeit Jesu. Dieses Ergebnis übersandte ich dem Staatssekretariat und überreichte es im Dezember 1998 in einer Privataudienz Papst Johannes Paul II. Daraufhin wurde ich eingeladen, es im Mai 1999 auf einer Konferenz an der Päpstlichen Lateranuniversität der Fachwelt zu präsentieren, danach erlaubte man mir die Veröffentlichung in meinem Buch „Die Jesus-Tafel“, das im September 1999 auf Deutsch und ein Jahr später auf Italienisch erschien.

Als ich 1998 anfragte, ob ich ein Fragment der Tafel für eine Radiokarbondatierung haben könnte, wurde mein Gesuch zunächst mit Verweis auf die Fehldatierung des Turiner Grabtuchs mit dieser Methode abgelehnt. Erst als 2001 die römische Kirchengeschichtlerin Maria-Luisa Rigato für ihre Dissertation an der päpstlichen Universität Gregoriana darum bat, wurde ihr diese genehmigt. Das Ergebnis lag 2002 vor, Frau Rigato veröffentlichte es 2005, ich berichtete darüber 2009 in meinem Buch „Jesus von Nazareth“. Es wurde also nie etwas „unter den Teppich gekehrt“, im Gegenteil. Es ist strikt nach dem wissenschaftlichen Protokoll vorgegangen worden, dass zuerst der Untersucher selbst seine Ergebnisse in einer Fachzeitschrift veröffentlichte, dann die Auftraggeberin in ihrer Dissertation und schließlich ich als ausländischer Titulus-Forscher in meinem nächsten thematisch ähnlich liegenden Buch. Doch als 1999 „Die Jesus-Tafel“ erschien, hatte es diese Datierung einfach noch nicht gegeben!

kath.net: Und wie gehen Sie damit um, dass nach der C14-Datierung durch den römischen Physiker Francesco Bella der „Titulus Crucis“ aus dem 10.-12. Jahrhundert stammt?

Ich nehme das mit einiger Skepsis zur Kenntnis und suche nach möglichen Gründen dafür - ganz wie im Fall des Turiner Grabtuchs, das sogar in das 14. Jahrhundert datiert wurde, obwohl seine früheste Abbildung aus dem 11. und seine früheste Erwähnung außerhalb des Neuen Testaments aus dem 7. Jahrhundert stammt.

Nun könnte ich, wie der Karlsruher Chemiker Prof. Eberhard Lindner, annehmen, dass die Strahlung, die im Moment der Auferstehung Jesu freigesetzt wurde und das Abbild des Gekreuzigten in das Leinentuch „brannte“, auch verantwortlich für die mysteriöse „Verjüngung“ der Reliquien ist. Das ist natürlich durchaus möglich, doch es lässt sich leider nicht beweisen. So gehe ich eher von einer anderen Ursache aus.

Über tausend Jahre lang, vom 5. Jahrhundert bis zu seiner Wiederentdeckung 1492, steckte der Titulus in einer dicken Bleikassette, die in eine Wand der Basilika eingemauert war. Nur einmal, im 12. Jahrhundert, war sie bei Umbauarbeiten entnommen und neu versiegelt worden. Im Frühmittelalter, der Zeit der Völkerwanderungen, war es üblich, Reliquien einzumauern, um sie vor Raub zu schützen, etwa bei einer Plünderung der Stadt durch die Barbaren. Nun wissen wir, dass Blei vor Strahlung schützt. Die C14-Methode basiert darauf, dass Kohlenstoffatome allmählich zerfallen, wenn sie der allgegenwärtigen kosmischen Strahlung ausgesetzt sind. Aber was geschieht, wenn diese Strahlung durch eine Bleiwand abgeschirmt wird? Das müsste einmal experimentell untersucht werden; es könnte jedenfalls durchaus erklären, weshalb hier die C14-Methode versagte.

kath.net: Eine Fälschung schließen Sie also kategorisch aus?

Die einzige Alternative wäre, dass es sich bei der Tafel um eine exakte Kopie eines Originals aus dem 1. Jahrhundert handelt. Das glaube ich aber nicht, aus einem ganz einfachen Grund. Der Überlieferung nach wurde die Tafel im 4. Jahrhundert zusammen mit den anderen Reliquien in einer alten Zisterne in unmittelbarer Nähe des Golgota-Hügels gefunden. Das geschah, als die hl. Helena, die Mutter Konstantins des Großen, Jerusalem besuchte, um bei der Suche nach dem Grab Jesu dabei zu sein, über dem der Kaiser die Grabeskirche errichten wollte. Der damalige Bischof von Jerusalem wusste, dass Kaiser Hadrian um 135 über dem Heiligen Grab einen Aphroditetempel errichten ließ, als er alle christlichen und jüdischen Heiligtümer in Palästina in heidnische umwandelte. Dieser Tempel und seine Plattform auf dem sog. Westforum mussten zuerst entfernt werden, bevor die Suche beginnen konnten. Tatsächlich wurde man fündig, legte das Grab Christi, die Kuppe von Golgota und die besagte Zisterne frei, die vielleicht den frühen Christen als Versteck oder geheimer Kultraum gedient hatte. Nach ihrer Bergung ließ Helena die Reliquien aufteilen; ein Teil kam mit nach Rom, ein Teil wurde ihrem Sohn, dem Kaiser, nach Nikomedia übersandt, ein dritter blieb in Jerusalem. Pilgerberichte aus dem 4. bis 6. Jahrhundert schildern die Verehrung des Tafelfragmentes, auf dem die Worte „REX IUDAEORUM“ („König der Juden“) zu lesen waren, in der Grabeskirche. Das römische Fragment dagegen enthält den Anfang der Aufschrift, „I. NAZARINUS“, in spiegelverkehrter Schrift. Ihr oberer, unterer und rechter Rand sind stark verwittert, offenbar weil sie drei Jahrhunderte lang ungeschützt den Elementen ausgesetzt waren. Der linke Rand dagegen ist sauber geschnitten, als sei dies auf Befehl Helenas geschehen. Das hätte kein mittelalterlicher Fälscher so gut hinbekommen.

Vor allem aber wäre es keinem Fälscher des 10.-12. Jahrhunderts je gelungen, so überzeugend eine Inschrift aus dem 1. Jahrhunderts nachzuahmen. Selbst die besten Dokumentenfälscher der päpstlichen Kanzlei, von denen die Urkunde der „Konstantinischen Schenkung“ stammt, hatten nicht die geringste Ahnung von Epigraphik und Paläographie; sie wussten einfach nicht, dass man im 4. Jahrhundert (der Zeit, aus der die Urkunde stammen sollte) anders schrieb als im 8. Jahrhundert. Es gab weder in Rom noch anderswo jemanden, und das gilt für das gesamte Mittelalter bis in die frühe Neuzeit hinein, der wissen konnte, wie man in Judäa zur Zeit Jesu schrieb. Erst im 18. Jahrhundert begann man allmählich, bei Inschriften auch auf formelle Aspekte zu achten, im 19. Jahrhundert entwickelte sich daraus eine Hilfswissenschaft und erst im dritten Drittel des 20. Jahrhunderts lagen überhaupt genügend datierte Inschriften aus dem Heiligen Land vor, um zuverlässig arbeiten zu können. So konnte etwa die führende Expertin für die Datierung griechischer Inschriften aus dem Heiligen Land ihre Dissertation zu dem Thema, die seither als Standardwerk gilt, erst 1997 abschließen. Sie war übrigens eine der sieben Experten, die ich bei der Datierung des Titulus Crucis konsultierte: Prof. Dr. Leah di Segni , die heute an der Hebräischen Universität Jerusalem lehrt!

kath.net: Auch das bestreitet „PM History“. Die Zeitschrift ziert einen namhaften Experten, Armin Stylow, der die Inschrift sehr viel später datiert. Ihr „OU“ sei frühestens im 3. Jahrhundert verwendet worden, ihr „E“ habe es in dieser Form erst im Mittelalter gegeben.

Stylow ist ein hervorragender Experte für lateinische Inschriften von der Iberischen Halbinsel, keine Frage. Aber er ist weder ein Fachmann für griechische Epigraphik noch für Inschriften aus dem Heiligen Land. Das ist also so, als würde man einen Romanisten zu Fragen der Hebräischen Rechtschreibung konsultieren. Was noch bedauerlicher ist: Er hat offenbar nur auf eine PM-Anfrage geantwortet, ohne je mein Buch gelesen zu haben. Dort nämlich sind Beispiele, dass diese Buchstaben sehr wohl in griechischen Inschriften des 1. Jahrhunderts verwendet wurden, nicht nur aufgelistet, sondern, um es für jeden Leser nachvollziehbar zu machen, sogar reproduziert! So zeigte mir Frau Di Segni das fragliche „Eta“ (E) in Ossuarieninschriften des 1. Jahrhunderts, und stellte zum „Omikron-Ypsilon“ (OU) fest: „Es taucht nicht zwischen dem 2. und dem 5. Jahrhundert auf, aber wir finden es in der römischen Periode“. Das belegte sie dann noch mit zwei Beispielen aus der Literatur (beide von Avi Yonah veröffentlicht, nämlich 1940 und 1966, dort 69-96 und 70-90 n.Chr. datiert). Hier stehen also die Gutachten von sieben Experten israelischer Hochschulen, die wirklich auf dem aktuellen Stand der Forschung sind, gegen das eines deutschen Fachmanns für römische Inschriften in Spanien. Dass man sich gar nicht die Mühe macht, auf meine Argumentation einzugehen, zeigt doch, wie schlecht „PM History“ recherchiert hat! Offenbar haben weder der verantwortliche Redakteur noch der konsultierte Experte mein Buch gelesen!

kath.net: Wen haben Sie denn neben Frau Di Segni noch befragt?

Was die Fragmente der hebräischen Zeile betrifft: Dr. Gabriel Barkay von der Israel Antiquity Authority, einen renommierten Experten für jüdische Epigraphie, und das Professorenehepaar Dr. Ester und Dr. Hanan Eshel, die an der Hebräischen Universität Jerusalem und in Harvard lehrte und bereits die Schriftrollen vom Toten Meer zutreffend datiert hatte. Zur griechischen Zeile neben Dr. Di Segni noch den Papyrologen Prof. Thiede, der an der Universität Beer-Sheeva lehrte und sogar über den Titulus ein Jahr später sein eigenes Buch schrieb. Und zur lateinischen Zeile die Professoren Dr. Israel Roll und Dr. Ben Isaac von der Universität Tel Aviv. Sie wiesen mich übrigens auf die vielleicht wichtigste Vergleichsinschrift hin, die sogenannte „Pilatus-Inschrift“ aus Caesarea, die Weiheinschrift für ein „Tiberieum“. Sie ist das früheste Zeugnis, das den Richter Jesu erwähnt, älter noch als Philo von Alexandria oder die Evangelien. Die Schreibweise der Buchstaben in der lateinischen Zeile des Titulus gleicht ihr so stark, dass man versucht ist, zu spekulieren, ob nicht beide Inschriften auf eine handschriftliche Vorgabe des Statthalters zurückgehen. Übrigens wurde die Pilatus-Inschrift erst 1962 entdeckt; der Stein, auf dem sie stand, war schon im 3. Jahrhundert beim Bau des Theaters von Caesarea umgedreht und wiederverwertet worden.

kath.net: Trotzdem führt „PM“ acht „gute Gründe“ auf, weshalb die Titulus-Inschrift nicht authentisch sein soll. Können Sie diese alle widerlegen?

Das denke ich schon. Wir können sie ja gerne einmal durchgehen:

kath.net: Erstens: Weshalb hätte man die Hölzer 300 Jahre lang achtlos auf Golgota herumliegen lassen, statt sie auf die eine oder andere Weise wiederzuverwerten?

Sie lagen ja nicht auf Golgota herum, sondern waren in einer alten Zisterne versteckt. Es ist natürlich richtig, dass die Römer ihre Kreuze weiter verwendeten. In Judäa aber war alles immer ein wenig anders, weil die Besatzer darauf achteten, die religiösen Gefühle der Juden nicht zu verletzen und daher ihre Gesetze peinlich genau einhielten. Die Hinrichtung Jesu fand am Vortag des Paschafestes statt, einem Freitag. Da bei den Juden alles, was mit einem Leichnam in Berührung gekommen war, als unrein galt, ist wahrscheinlich, dass die Kreuze noch vor der Abenddämmerung beseitigt worden, um die Pilger nicht zu provozieren. Im Judentum wurde und wird alles, was mit dem Blut eines Sterbenden in Berührung kam, mit bestattet. Dieses Blut, „Lebensblut“ genannt, gilt quasi als Teil des Leichnams. Da den Jüngern Jesu von Pilatus ausdrücklich gestattet worden war, Jesus nach jüdischer Sitte zu bestatten, werden sie auch sein Kreuz, seine Dornenkrone und die Nägel, die von seinem Blut durchtränkt waren, mit ins Grab gelegt haben. Erst als das Grab Jesu leer aufgefunden wurde, mag man diese Zeugen seines Leidens nicht „entsorgt“, sondern sorgfältig versteckt haben. Aber wo? Innerhalb der Stadt bestimmt nicht, denn dann hätten die anderen Juden den Jüngern vorwerfen können, Jerusalem verunreinigt zu haben. So bot sich ein nahegelegenes Versteck wie die genannte alte Zisterne geradezu an.

kath.net: Zweitens: Warum wurde der Sensationsfund aus dem Jahre 325 erst nach 60 Jahren in einer Kirchengeschichte erwähnt, warum nicht von Zeitgenossen?

Das ist nicht richtig. Der Kirchengeschichtler Eusebius, ein Zeitgenosse, zitiert schon einen Brief des Kaisers Konstantin aus dem Jahr 325, also dem Jahr der Kreuzauffindung, in dem von dem „Zeugnis Seiner (Jesu) allerheiligsten Passion, das so lange unter der Erde begraben lag“, die Rede ist. Das Heilige Grab, das Zeugnis der Auferstehung und nicht der Passion ist, wird er damit kaum gemeint haben. Im September 335 wurde die Grabeskirche eingeweiht, nur 13 Jahre später erwähnt der Bischof von Jerusalem, Cyrillus, in seinen Katechesen die Verbreitung von Kreuzreliquien, 351 in einem Brief an den Kaiser auch die Kreuzauffindung unter Konstantin. 13-16 Jahre und keine 60 Jahre! 383 beschreibt die Pilgerin Egeria die Verehrung der Kreuzesinschrift in der Grabeskirche. All das geschah, bevor Gelasius von Caesarea 388 seine Kirchengeschichte als Fortsetzung des Eusebius-Werkes verfasste!

kath.net: Drittens: Trotzdem dauert es tausend Jahre, bevor die Kreuzesinschrift in Rom wieder auftaucht!

Auch falsch. Man legte sie zwar 1492 frei, aber die Bleikassette trug das Siegel von Kardinal Gerardus, dem späteren Papst Lucius II. (1144-45), dessen Titelkirche S. Croce in Gerusalemme war. Selbst die Skeptiker, die sich auf die C14-Datierung berufen, müssen glauben, dass Gerardus die Reliquie als Fälschung in Auftrag gegeben hätte und sie dann einmauerte, in der Hoffnung, dass sie 350 Jahre später wieder entdeckt und für echt gehalten wird. Eine seltsame Logik, denn niemand fertigt eine aufwändige Fälschung an, um sie dann doch niemandem zu zeigen! Nun sind unsere Quellen natürlich generell unvollständig und hinzu kommt, dass Reliquien ganz allgemein von der frühen Kirche eingemauert wurden; erst im Hochmittelalter begann man damit, sie zu „erheben“ und der öffentlichen Verehrung preiszugeben. Doch schon um 440 erwähnte der Kirchengeschichtler Theodoret von Cyrus, Helena habe „Teile des Kreuzes unseres Erlöser“ zu sich „in den Palast“ bringen lassen. Ihr Palast war nun mal das Sessorianum in Rom, das sie der Kirche vererbte, die den Palast dann zur Basilica di Santa Croce umbauen ließ!

kath.net: Viertens: Das Griechisch in der Inschrift ist nicht korrekt: Statt „Nazoraios“ wird Jesus „Nazarenous“ genannt!

Gerade das aber ist doch ein Indiz für die Echtheit! Denn jeder Fälscher hätte nur eine griechische Version des Johannes-Evangeliums konsultieren brauchen und dort das Wort „Nazoraios“ gefunden. Stattdessen schreibt der Urheber des Titulus „Nazarenous“ in der griechischen und „Nazarinus“ in der lateinischen Zeile, obgleich es im Kirchenlatein „Nazarenus“ heißt. Warum wohl? Nun, wenn ein schreibkundiges Truppenmitglied im Auftrag des Pilatus diese Tafel angefertigt hat, wird dieses gewiss nicht Wert auf Feinheiten der Übersetzung gelegt haben, noch gab es festgesetzte Normen für die Schreibung des Herrennamens. Auf Hebräisch lautete sein Beiname „ha-Nazari“, was nun einmal latinisiert am ehesten „Nazarinus“ ergibt. Und da Pilatus die Amtssprache Latein auch als Muttersprache benutzte, wird er ohnehin nur die lateinische Zeile „I. Nazarinus Rex Iudaeorum“ diktiert oder vorgeschrieben haben. Jede Form der Graezisierung stand dem Schreiber frei, und der hat eben das Naheliegende gewählt: die Transkription! Ein Fälscher hätte sich dagegen so genau wie möglich an die Vorgabe im Evangelium gehalten.

kath.net: Fünftens: Die Namensabkürzung, also Jesus als „I.“ zu schreiben, sei unsinnig.

Ist sie nicht! Jesus war im Judäa des 1. Jahrhunderts einer der häufigsten männlichen Vornamen überhaupt. Das belegen Ossuarieninschriften, das sehen wir bei Flavius Josephus, dem Chronisten dieser Zeit, der gleich 14 Träger dieses Namens erwähnt. Hätte man damals in Jerusalem von „Jesus“ gesprochen, hätte also jeder geantwortet: „Welcher Jesus?“ Jesus von Nazareth war bei seinen Anhängern wie bei seinen Gegnern als der „Nazarener“ bekannt. Auch später wurden bei den Juden wie in allen semitischen Sprachen die Christen „Nozrim“, also Anhänger des Nazareners, genannt!

kath.net: Sechstens: Römische Holztafeln wurden nur bemalt, bei der Reliquie sind die Buchstaben eingeritzt!

Aber der Titulus ist mit Sicherheit nicht von einem Römer, sondern von einem Semiten angefertigt worden, der zwar Griechisch und Latein schreiben konnte, aber gewiss nicht über römische Normen zur Tafelanfertigung informiert war, wenn es denn je solche gegeben haben sollte!

kath.net: Und last but not least: Warum sollte der Urheber auch die griechische und lateinische Zeile spiegelverkehrt geschrieben haben? Das, so PM, deutet eher auf eine magische Nutzung der Tafel hin!

Mit Verlaub: Ich habe lange keinen größeren Unsinn gelesen. Die Kreuzesinschrift hing in Judäa, die erste Zeile ist in hebräischer Schrift verfasst, der Schreiber muss also ein Semit, vielleicht sogar ein Jude gewesen sein, denn welcher Römer beherrschte schon die hebräische Schrift und Sprache? Hebräisch wird, wie alle semitischen Sprachen, von rechts nach links geschrieben. Genau wie es uns schwer fällt, von rechts nach links zu schreiben, muss er sich schwer getan haben, für die griechische und lateinische Zeile seine Schreibweise zu verändern, und weshalb auch: Die meisten, die an der Tafel vorbei kamen, waren Jerusalem-Pilger zum Paschafest und damit Juden, die es gewohnt waren, von rechts nach links zu lesen! Dass sich der Schreiber aber gerade solche „Schlampigkeiten“ erlaubt hat, dass er den Namen Jesu, der erst bei den Christen einzigartige Bedeutung bekam, bei den Juden aber ein Allerweltsname war, abkürzte, dass er im Griechischen das lateinische „Nazarinus“ (und nicht, wie es später in den lateinischen Evangelienübersetzungen hieß: Nazarenus!) einfach nur transkribierte und dabei von der Darstellung in den Evangelien abwich – all das spricht dafür, dass dieser Schreiber die Evangelien eben nicht kannte, sondern nur schnell seinen „Job“ machte und auf Anweisung des Pilatus diese Tafel anfertigte, weniger sorgfältig und schön, dafür aber zweckmäßig!

kath.net: Sollte die Kreuzesinschrift also doch echt sein – was bedeutet das für den Christen von heute?

Sehr viel! Dann nämlich ist sie das früheste schriftliche Dokument, das Jesus von Nazareth erwähnt! Als Schuldtafel (titulus damnationis) ist sie noch mehr, nämlich zugleich ein juristisches Dokument vom bedeutungsschwersten Prozess der Weltgeschichte, denn sie gab den Grund für die Verurteilung Jesu zum Tod am Kreuz bekannt: Dass er sich als der Messias, der König der Juden, offenbart hatte, auch wenn er versicherte, dass sein Reich nicht von dieser Welt sei. Immerhin stammte er aus dem Hause Davids, der alten Königsfamilie, und stellte schon daher ein politisches Risiko dar. Und schließlich beweist der Titulus die Tradition, dass nämlich das vierte Evangelium, das einzige, das sie korrekt zitiert, von einem Augenzeugen stammt: Johannes, dem Lieblingsjünger Jesu! Eben damit lehrt sie uns, den Evangelien wieder zu vertrauen! Vielleicht ist aber genau das der Grund, weshalb man sie um jeden Preis als Fälschung diskreditieren will ...

kath.net: Danke für dieses Gespräch!

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Michael Hesemann spricht im Interview über: "Auf den Spuren des Erlösers", Teil 1/4 (Ausschnitt)



Foto: Die Kreuzesinschrift Jesu, © kath.net/Michael Hesemann


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