Israel sperrt Zugang: Neuer Streit um den Tempelberg

15. Dezember 2011 in Aktuelles


Tempelberg von Jerusalem wird wieder zum Politikum. Wegen Baufälligkeit schließt Israel den einzigen Zugang für Nicht-Muslime. Der deutsche Botschafter warnt vor Eskalation. Droht neue Intifada? Ein KATH.NET-Hintergrundbericht von Michael Hesemann


Jerusalem (kath.net) Der Tempelberg ist Juden und Moslems heilig. Den Juden, weil hier Abraham seinen Sohn zur Opferung führte und der Tempel Salomos stand, den König Herodes seit 19 v.Chr. zum prachtvollsten Bauwerk der antiken Welt ausbaute. Hierher, so schrieb das jüdische Gesetz vor, hatte jeder gläubige Jude zu den drei Tempelfesten, zumindest aber einmal im Jahr, zu pilgern. Das jedenfalls galt, bevor die Römer 70 n.Chr. einen Aufstand der Juden blutig niederschlugen, Jerusalem eroberten und der Tempel in Flammen aufging. Danach zeugte nur noch eine leere Plattform von seiner einstigen Größe. Die Römer errichteten auf ihr einen Jupitertempel, die Byzantiner eine Marienkirche, den Juden dagegen war der Zutritt verboten. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als jedes Jahr an jene Westmauer der Plattform zu pilgern, die dem einstigen Allerheiligsten am nächsten lag; man nennt sie seitdem die „Klagemauer“. Erst im 7. Jahrhundert beanspruchten die Muslime den Tempelberg. Den Felsen, auf dem einst die Bundeslade stand, so behaupteten sie, habe ihr Prophet Mohammed eines Nachts auf einem „himmlischen Pferd“ besucht. Zum Beweis verwiesen sie auf einen Hufabdruck, den das Reittier in dem Gestein hinterlassen hätte. So errichteten sie über ihm den Felsendom, zudem weiter südlich die al-Aqsa-Moschee – eben dort, wo zur Zeit Jesu die Markthalle des Tempels stand, in der die Geldwechsler und Opfertierhändler zum Leidwesen des Herrn und frommer Juden ihre Stände hatten. Seitdem gelten der Felsendom und die benachbarte Moschee als die drittheiligste Stätte der islamischen Welt, gleich nach Mekka und Medina.

Seit Jerusalem 1967 von den Israelis eingenommen wurde, fürchten die Muslime um dieses Heiligtum. Nicht ganz zu Unrecht, denn es gibt tatsächlich ultraorthodoxe Juden, die von der Errichtung eines neuen, des dritten, Tempels träumen. Die jüdische Tradition weiß seit jeher, dass der dritte Tempel erbaut wird, wenn der Messias kommt. Deshalb wehren sich die Juden, den Tempel des Herodes als solchen anzuerkennen, obwohl er, streng genommen, der dritte Tempel war, nach dem des Salomo und dem Neubau nach der Rückkehr aus dem babylonischen Exil. Gläubige Christen dagegen halten es für keinen Zufall, dass der herodianische Tempelneubau zeitlich mit der Geburt Mariens zusammenfiel, die zum neuen Gnadensitz Gottes auf Erden, zur „neuen Bundeslade“ wurde. Die Juden dagegen hoffen auf einen Messias, der in näherer Zukunft erscheint. So gründeten jüdische Traditionalisten schon einmal das „Tempel-Institut“ mitten im jüdischen Viertel der Altstadt, in dem bereits ein Architektenmodell des Dritten Tempels steht. Auch die heiligen Gerätschaften, vom goldenen siebenarmigen Leuchter und dem Schaubrottisch bis hin zu den Kohleschaufeln für den Brandopferaltar, sind schon fertig und stehen bereit. Natürlich nur für den Fall, dass ein Wunder geschieht, und der Felsendom ganz von selbst von seinem Standort verschwindet.

Jedenfalls wurde die Tempelplattform, mit 14,5 Hektar so groß wie 20 Fußballfelder, aber auch dreimal so groß wie die Akropolis von Athen, zur umstrittensten Parzelle des Planeten. Und oft genug nahm der Streit um sie geradezu groteske Züge an:

• Nach der Eroberung der Stadt 1967 legten israelische Archäologen einen imposanten Tunnel unter dem muslimischen Teil der Stadt frei, der schon im Altertum die Fundamente des Tempelberges umgab. Daraufhin behauptete die muslimische Verwaltung, die Waqf, die Israelis wollten auf diese Weise die Steinplattform mit ihren Heiligtümern zum Einsturz bringen. Als Benjamin Netanjahu den Tunnel 1996 für Besucher öffnen ließ, brach eine Revolte aus, die 14 Israelis und 54 Palästinensern das Leben kostete.

• Um die Gemüter zu beruhigen, erlaubte Israel im Gegenzug der Waqf, im Bereich der al-Aqsa-Moschee „Restaurierungsmaßnahmen“ durchzuführen. Die Muslime nutzten die Gelegenheit, um eine riesige unterirdische Moschee in dem uralten Gemäuer anzulegen. Als die Israelis darauf hinwiesen, dass ein Notausgang fehlte, wurde zudem eine gewaltige Freitreppe hin zur Moschee gebaut. Obwohl das israelische Gesetz vorschreibt, dass vor allen Bauarbeiten zunächst ein Archäologe das Gelände begutachten muss, untersagte die Waqf Repräsentanten der Israelischen Altertümerverwaltung den Zutritt. Bei den Bauarbeiten wurden archäologische und historische Zeugnisse von unschätzbarem Wert zerstört. Nur mühsam konnten Archäologen zumindest den Abräumschutt, von den Bauarbeitern achtlos im Ostteil Jerusalems und im Kidrontal abgeladen, ausfindig machen und ihn nach Fragmenten aus der Zeit des Ersten und Zweiten Tempels durchsuchen.

• Als der israelische Oppositionspolitiker Ariel Scharon im September 2000 in Begleitung von bewaffnetem Personenschutz den Tempelberg besuchte, kam es zu heftigen Protesten der muslimischen Palästinenser, aus denen sich schließlich die „zweite Intifada“ entwickelte. Dem in Oslo und Camp David so hoffnungsvoll begonnenen Friedensprozess wurde durch eine Reihe palästinensischer Terrorakte und israelischer Vergeltungsschläge ein blutiges Ende gesetzt. Sie kostete 5000 Menschen, Juden und Palästinensern, das Leben.

• Drei Monate später behauptete der neue Großmufti von Jerusalem, Scheich Ikrima Sabri, allen Ernstes: „Es gibt keinen einzigen Stein in der Klagemauer, der etwas mit der jüdischen Geschichte zu tun hat.“ Archäologische Grabungen lehnte er deshalb kategorisch ab; sie gefährdeten nur die historischen Gebäude auf dem Gelände. Für seine Bauarbeiten schien das nicht zu gelten.

Jetzt droht ein neuer Streit um den Zugang zum Tempelberg durch das Mugrabi-Tor, durch das Ariel Scharon, aber auch die Päpste Johannes Paul II. (2000) und Benedikt XVI. das Heiligtum betreten hatten. Die irdene Rampe, die zunächst zu ihm hinauf geführt hatte, aufgeschüttet über Ruinen aus der Zeit Jesu, war 2004 nach einem Erdbeben und schweren Regenfällen eingestürzt. Als Ersatz wurde eine Holzbrücke auf dünnen Eisenrohren errichtet, die eigentlich nur als Provisorium gedacht war, bis zum Bau einer festen Brücke.

Doch als die Israelis dort, wo die Betonpfeiler der künftigen Brücke stehen sollten, zuerst nach archäologischen Hinterlassenschaften gruben, brach ein internationaler Sturm der Entrüstung aus. Jugendliche Muslime warfen vom Tempelberg aus Steine auf betende Juden an der Klagemauer, hunderte schwerbewaffneter Polizisten stürmten daraufhin den Heiligen Berg. Arabische Staaten drohten mit Krieg, die UNESCO schickte internationale Inspektoren, um Israel zu hindern, den „Status quo“ in den besetzten Gebieten zu verändern. Palästinenser demonstrierten, mal friedlich, mal mit Krawallen, und die Waqf unterstellte Israel, mit dem Bau der Brücke in Wirklichkeit die rund 400 Meter entfernte Al-Aqsa-Moschee zum Einsturz bringen zu wollen. Waqf-Sprecher Taleb el-Sana: „Wir sind dagegen, dass die Juden durch Ausgrabungen ihre historische Verbindung zu Jerusalem beweisen und verwischen, dass Jerusalem eine islamische Stadt ist.“

Aus Angst vor einer weiteren Eskalation brach Israel die Arbeiten kurzerhand ab und beließ es bei dem Provisorium. Stattdessen bat Staatspräsident Schimon Peres den jordanischen König Abdullah II. um eine Lösung. Doch angesichts der Unruhen in der arabischen Welt wagte es auch der offizielle „Hüter der muslimischen Heiligen Stätten“ nicht, dieses „heiße Eisen“ anzupacken. Erst eine jüngste Inspektion nach heftigeren Regenfällen im November 2011 machte eine Schließung des Zugangs wegen erhöhter Einsturzgefahr erforderlich. „Wir wollen keine Menschenleben gefährden“, erklärte ein Sprecher der Jerusalemer Stadtverwaltung den Schritt.

Wieder hagelte es Proteste. Fromme Juden warfen der israelischen Regierung vor, dass sie jetzt überhaupt nicht mehr den Tempelberg betreten konnten. Die Muslime beklagten das zukünftige Ausbleiben der Eintrittsgelder von Touristen, warnten aber erneut die Israelis vor jeder Veränderung des Status quo und drohten mit Protestaktionen.

Gläubigen Muslimen, die ihre Heiligtümer besuchen wollen, stehen nach wie vor zehn offene Zugänge zum Tempelberg zur Verfügung. Aber auch nur einen davon für „Ungläubige“ zu öffnen, ist wohl zu viel verlangt. Tatsächlich hatte die Waqf schon während der Zweiten Intifada den Zugang durch das Mugrabi-Tor geschlossen. Später war Christen und Juden nur der Besuch des Berges, nicht aber das Betreten der Gebäude gestattet. Zudem war das Mitbringen von Büchern und „Kultgegenständen“ oder das Rezitieren nichtislamischer Gebete strengstens verboten, wurde jeder Besucher strikten Kontrollen unterzogen. So scheint die Waqf auch jetzt kein echtes Interesse daran zu haben, das Weltkulturerbe Tempelberg nichtmuslimischen Besuchern weiterhin zugänglich zu machen.

Besorgt über die Situation zeigt sich zumindest der deutsche Botschafter in Tel Aviv, Andreas Michaelis. In einem Gespräch mit dem Nachrichtensender NTV warnte er vor einer „möglichen
Eskalation“ und riet zu Zurückhaltung und Vorsicht.

Womit er recht hat. Denn der Tempelberg ist ein politischer Vulkan, der jeden Moment ausbrechen kann – und dann mehr als bloß einen Zugang zum Einsturz bringt. Seine Explosion könnte eine ganze Region, ja vielleicht die Welt in den Abgrund stürzen. Schließlich steht mehr auf dem Spiel als die Statik einer jahrtausendealten Plattform. Mit jedem Spatenstich eines Archäologen droht das palästinensische Selbstverständnis einzustürzen, das den Israelis jedes Recht auf ihre Heimat, den Juden ihre Geschichte, ja sogar das Herzstück ihres Glaubens abspricht und den Christen jenen Ort, an dem Jesus und die ersten Christen noch gebetet haben. Auf dem Felsen, auf dem Abraham seinen Sohn nicht opfern durfte, wollen die neuen Hüter des Tempels jetzt die historische Wahrheit opfern. Und sei es um den Preis der selbstgewählten Isolation.

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kathTube-Foto: Jerusalem im Winter, Blick auf den Tempelberg


Foto: (c) M.Hesemann


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