Organspende: Hat ein Toter lebendige Organe?

9. Jänner 2012 in Interview


Der Freiburger Theologieprofessor Joseph Schumacher im KATH.NET-Interview über die Problematik der Organspende. Von Petra Lorleberg


Freiburg (kath.net/pl) „Wie will man… von toten Menschen lebendige Organe erhalten?“ Dies fragte der Freiburger Theologieprofessor Joseph Schumacher im KATH.NET-Interview über die Problematik der Organspende. „Hirntote, deren Vitalfunktionen künstlich aufrechterhalten werden, kann man nicht als tot ansehen.“ Daraus ergebe sich aber, dass es sich bei der Organentnehme um „aktive Euthanasie“ handle, diese sei jedoch „niemals moralisch zu rechtfertigen“.


kath.net: Herr Professor, die öffentliche Meinung über Organspende scheint eindeutig zu sein, es gibt eine sehr breite Befürwortung. Medien, Ärzte, Politiker, die christlichen Konfessionen – alle loben die selbstlose Abgabe von Organen Toter. Abweichende Stimmen hört man kaum bis überhaupt nicht. Spricht man allerdings mit einzelnen Menschen, dann artikuliert sich doch auch ein inneres Unbehagen, dessen Ursachen zwar nicht unbedingt benannt werden können, das aber trotzdem belastet. Um was geht es bei diesem abwehrenden Eindruck?

In Frage steht hier die sogenannte postmortale Spende von lebensnotwendigen Organen. Von ihr ist die Lebendspende zu unterscheiden, in der es um die Spende von paarigen Organen geht, die nicht den Tod des Spenders herbeiführen.

Die breite Befürwortung der Organspende und der Organtransplantation resultiert zum einen aus der Begeisterung für den Fortschritt der medizinischen Wissenschaft und ihrer Anwendung, zum anderen aus der exzessiven medialen Propagierung dieser Errungenschaft. Zudem: Wer ist nicht an der Verlängerung des Lebens interessiert? Unbehagen stellt sich jedoch häufiger dort ein, wo man auch nur ein wenig informiert ist über das, was bei der Organspende und der Organtransplantation konkret geschieht. Bezeichnend ist, dass bei der Werbung für die Organspende davon kaum die Rede ist. Die Akzeptanz der Organtransplantation in der Öffentlichkeit beruht weithin darauf, dass es an der nötigen Aufklärung über die Organspende und die Organtransplantation und ihre ethischen, sozialen und wirtschaftlichen Implikationen mangelt. Nach einem Vortrag, den ich vor einem Auditorium von etwa 40 Hörern über die Organspende und die Organtransplantation und ihre Wertung im Licht der christlichen Ethik gehalten hatte, kam ein emeritierter Chefarzt (Internist) auf mich zu und erklärte mir, er sei an diesem Abend zum ersten Mal mit der vielschichtigen Problematik der Organtransplantation konfrontiert worden.

Von Anfang an gab es jedoch auch eine kritische Sicht unseres Problemkreises. In den letzten Jahren scheint die Zahl derer auffallend zu wachsen, die im Blick auf die Organtransplantation massiv ethische, aber auch anthropologische Bedenken geltend machen. Unter ihnen sind auch Mediziner, wenngleich sie, das sei zugegeben, in der Minderheit sind. Jenen, die das Problem kritisch angehen, fehlt indessen die Lobby und die Unterstützung durch die Massenmedien, weshalb sie nicht so in Erscheinung treten.

Die Bedenken gegen die Organspende und gegen die Organtransplantation nehmen ihren Ausgang von der Tatsache, dass man tote Organe nicht verwenden kann für eine Transplantation, dass aber die Organe eines Leichnams nicht mehr lebendig sind. Das Problem ist, mit anderen Worten, dass ein totes Organ nicht transplantiert werden kann, dass also das zu implantierende Organ noch leben muss. Wie will man aber von toten Menschen lebendige Organe erhalten?

kath.net: Hier im Übergangsbereich zwischen Leben und Tod ist demnach die Definition des Todes eine entscheidende Frage. Einem Toten Organe zu entnehmen kann man durchaus als ethisch verantwortbar verstehen – doch wann ist ein Mensch wirklich tot?

Ein totes Organ ist unbrauchbar für eine Transplantation. Die zu transplantierenden Organe müssen vor der Transplantation noch Lebenszeichen geben, sie können nur dann transplantiert werden, wenn sie bis zur Entnahme durchblutet geblieben sind. Verwendet werden können daher für Transplantationen de facto nur die Organe eines für tot erklärten Menschen. Die Basis dieser Todeserklärung ist der Hirntod. Er tritt an die Stelle des traditionellen Kennzeichens für den Tod eines Menschen, an die Stelle des definitiven Aufhörens der Herz- und Kreislauftätigkeit. Mit ihm kann man Menschen, bei denen keine Gehirnströme mehr zu messen sind, für tot erklären, auch wenn das Herz noch schlägt. Das Hirntodkriterium hat in Deutschland, aber auch in den meisten anderen Ländern rechtliche Relevanz. Damit er nun sicher ist, der Hirntod, muss die Hirntod-Untersuchung gemäß der Gesetzgebung im Allgemeinen jeweils in einem standardisierten Protokoll festgehalten werden. Als Todeszeitpunkt gilt dabei der Zeitpunkt der abgeschlossenen Hirntod-Untersuchung. Für den Hirntod hat sich im Jahre 1968 eine Kommission der „Havard Medical School“ in Boston in der so genannten Havard-Erklärung ausgesprochen und damit die Empfehlung verbunden, in Zukunft den Tod des Gehirns als Kriterium für den Tod eines Menschen zu verwenden, weshalb man das Hirntodkriterium auch als Harvard-Kriterium bezeichnet.

kath.net: Das Hirntodkriterium, welchem der Begriff des „irreversiblen Komas“ zugrunde liegt, ist bisher wissenschaftlich mehrheitlich anerkannt. Überzeugt Sie dieses Kriterium?

Der Hirntod beruht auf dem Faktum, dass das Gehirn vor den anderen Organen des Menschen abstirbt, dass der Tod des Gehirns und der Tod des übrigen Organismus zeitlich stärker differieren können, bis zu Monaten, und dass die Intensivmedizin grundlegende Lebensfunktionen, wie Atmung und Kreislauf künstlich über längere Zeit aufrechterhalten kann.

Der Hirntod ist eine pragmatische Feststellung, eine juridische Festlegung, eine Konvention im Dienst der Organtransplantation. Die Entnahme von lebensnotwendigen Organen aus einem noch lebenden Menschen stellt nämlich juristisch eine strafbare Tötung dar. Durch das Hirntodkriterium soll die Entnahme lebensfrischer vitaler Organe aus irreversibel komatösen Patienten gerechtfertigt werden.

Das Hirntodkriterium soll aber nicht nur die Organentnahme für Transplantationen ermöglichen, es soll auch bei Sterbenden das Ausschalten von lebenserhaltenden Maschinen rechtfertigen. Im einen Fall richtet sich das Interesse auf das Sterben eines Sterbenden, im anderen Fall auf die Überlistung des Todes mit Hilfe der Organe des Sterbenden, die einem anderen Patienten eingepflanzt werden, der sonst sterben würde.

Man definiert den Hirntod - man spricht bei ihm auch von einem „irreversiblen Koma“ oder von einem „cerebralen Tod“ - als den irreversiblen Ausfall aller Hirnfunktionen, womit Bewusstlosigkeit und Atemlosigkeit verbunden sind. Normalerweise fällt der Herztod mit dem Hirntod zusammen. Das Aussetzen des Herzschlags und das Versagen der Atmung zwingen den Arzt heute jedoch nicht mehr wie früher zum resignierenden Einstellen seiner Bemühungen. Durch gezieltes Unterstützen der Herztätigkeit, durch maschinelle Dauerbeatmung und durch Anwendung künstlicher Nieren kann der Funktionsausfall lebensnotwendiger Organe oft so lange überbrückt werden, bis sich die geschädigten Organe wieder erholt haben oder ein chirurgischer Eingriff möglich geworden ist. Das gilt vor allem bei Schädel-Hirnverletzungen, Narkosezwischenfällen, Vergiftungen, Herzinfarkten und Lungenembolien. Der Herzschlag und die Atmung funktionieren noch, aber die Regelfunktionen des Gehirns sind irreversibel erloschen.

Es stellt sich hier jedoch die Frage, ob der Hirntod der wirkliche Tod des Menschen ist. Wie kann man einen Menschen für tot erklären, in dem noch das Herz schlägt, der noch atmet und dessen Blutkreislauf noch die Organe versorgt, der also noch lebt? Das aber tut man, weil das Gehirn irreversibel geschädigt ist. Man sagt: Tot ist der Mensch, wenn sein Gehirn tot ist. Allein, reduziert man da nicht den Menschen auf sein Gehirn?

Kann man das Menschenleben als solches wirklich auf messbare Hirnströme reduzieren oder auf den irreversiblen Ausfall eines Organs, etwa des Herzens? Der Mensch ist mehr als sein Gehirn. Er besteht aus dem Leib und der Geistseele. Die Geistseele äußert sich im Gehirn, aber nicht nur in ihm, sie manifestiert sich in der ganzen Leiblichkeit des Menschen. Wird hier nicht der Geist des Menschen zu einer Funktion des Gehirns gemacht oder gar mit ihm identifiziert? Der 2005 verstorbene Neurophysiologe und Neurochirurg Detlef Bernhard Linke fragt: „Kann ein Mensch für tot angesehen werden, wenn 97 % seiner Körperzellen noch funktionieren, aber nur die 3 %, die sein Gehirn ausmachen, ausgefallen sind?“

Nüchtern betrachtet sind Hirntote Sterbende, nicht Gestorbene. Sie befinden sich im Prozess des Sterbens, in den man angesichts der Würde des Menschen und angesichts der allgemeinen Menschenrechte, die sich aus der Sonderstellung des Menschen im Kosmos ergeben, nicht aktiv eingreifen darf, den man nicht definitiv zu Ende führen darf. Hirntote, deren Vitalfunktionen künstlich aufrechterhalten werden, kann man nicht als tot ansehen. Das ist ein Konstrukt. In ethischer Perspektive kann man eine Explantation von lebenswichtigen Organen aus einem lebendigen Menschen auch dann nicht rechtfertigen, wenn er selber oder die Angehörigen ihre Zustimmung dazu gegeben haben, denn aktive Euthanasie ist niemals moralisch zu rechtfertigen, niemand kann zu keiner Zeit über den Abschluss seines Lebens verfügen.

Der Eintritt des Todes ist nicht eine rein medizinische Frage, es sei denn man versteht den Menschen allein von seiner Biologie her. Etwas anderes ist es hingegen, wenn man der Medizin das Recht und die Aufgabe zuerkennt, den Beginn des irreversiblen Sterbeprozesses eines Menschen zu konstatieren.

In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass die Meinungen darüber, wie man den Hirntod diagnostizieren kann, auseinander gehen. Zwischen 1968 und 1978 wurden mindestens dreißig verschiedene Folgen von Kriterien veröffentlicht. Seither kamen noch viele weitere hinzu. Daraus wird ersichtlich wird, dass in verschiedenen Ländern verschiedene Regelungen für die Organentnahme gelten. Verschieden sind darüber hinaus - auch daran ist hier zu erinnern - die Methoden der Feststellung des Hirntodes. Nicht ohne Grund hat man auch gefragt, wie weit die Apparate, die da verwendet werden, sichere Auskunft geben oder ob morgen nicht besser entwickelte Apparate bessere Ergebnisse bringen werden. Immerhin wird von Hirntoten berichtet, die unerwartet wieder zum Leben erwacht sind, und von solchen, die Kinder zur Welt gebracht haben.

Würde man alle Argumente gegen den Tod der Hirntoten ignorieren, müsste man zumindest zugeben, dass es nicht sicher ist, dass der Hirntod der wirkliche Tod ist. Wenn aber nur ein geringfügiger vernünftiger Zweifel besteht, dass man durch die Explantation eines lebenswichtigen Organs eine lebende menschliche Person töten könnte, ist es ethisch geboten, eine solche Handlung zu unterlassen. So sollte man meinen.

Wenn das Hirntod-Kriterium eine so breite Akzeptanz findet, beruht das, so könnte man sagen, auf dem blinden Vertrauen in eine Definition, deren tatsächliche Bedeutung für medizinische Laien aber auch für viele Ärzte unbegreiflich bleiben muss. Der Philosoph Hans Jonas (+ 1993) führt den Erfolg des Hirntodkriteriums auf „die Lähmung selbstkritischen Denkens“ zurück und auf „die Einschläferung der Gewissen“.

Allgemein anerkannt wurde das Hirntodkriterium im Übrigen zu keiner Zeit, auch nicht von den Medizinern. Seit einigen Jahren wachsen hier auch die Zweifel der Mediziner unverkennbar, vor allem seitdem die US-amerikanischen Ärzte Robert D. Truog und Franklin G. Miller in aller Form erklärt haben, der Hirntod sei nicht der Tod des Menschen, Hirntote seien Sterbende, weil wir aber Organe brauchten, solle man an dem Hirntodkriterium festhalten. Sie und viele andere fordern inzwischen „gerechtfertigtes Töten“, „justified killing“ von Menschen, damit man an ihre Organe herankommen kann, stellen damit jedoch explizit das Grundrecht auf die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens in Frage.

Wenn Weihbischof Losinger von Augsburg im Kölner Domradio am 25. November 2011 als „Experte“ behauptet, der Hirntod sei der Tod des Menschen, kann ich das nur als leichtfertig bezeichnen. Da tritt im Grunde die Politik an die Stelle der Wahrheit. Das ist allerdings ein Phänomen, das heute auch sonst nicht selten den Auftrag der Kirche verdunkelt und ihre Glaubwürdigkeit in Frage stellt.

kath.net: Wie muss man sich das Geschehen der Organentnahme konkret vorstellen? Angehörige verabschieden sich von einem Menschen, der seine normale Körpertemperatur hat, den man gefühlsmäßig als „lebendig“ (wenn auch schwer krank) empfindet. Wenn das Sterben unmittelbar bevorsteht, versammeln sich normalerweise die Verwandten um den Sterbenden – hier verlassen sie ihn. Was geschieht dann?

Existentiell wird der zu Explantierende als Sterbender erlebt, nicht als Toter. Das ist sicher. Wenn er aus dem Krankenzimmer herausgefahren wird, verabschieden sich die Angehörigen nicht von einem Verstorbenen. Mit dem Verlegen des Sterbens in den Operationssaal und der Organentnahme wird der Sterbende der Möglichkeit eines menschenwürdigen Sterbens beraubt, was freilich dem modernen Menschen im Allgemeinen weniger als Problem erscheint, denn wir müssen heute eine wachsende Akzeptanz der aktiven Sterbehilfe konstatieren, zuweilen wird sie schon als ein Beitrag zur Sanierung unseres Gesundheitssystems propagiert. Die christliche Vorstellung vom Hinscheiden eines Menschen ist indessen eine andere. Im Grunde sehnt sich der Mensch nach einem anderen Tod als jenem technisierten auf dem Operationstisch. Wichtiger als die Prolongation des Lebens um jeden Preis ist eine gute Sterbestunde, das Sterben in der Gemeinschaft von Freunden und Angehörigen, begleitet durch das Gebet der Kirche, in einer Atmosphäre gläubiger Zuversicht.

Man könnte hier auch darauf verweisen, dass es eigentlich zur Würde des Menschen gehört, dass seine Integrität auch in physischer Hinsicht respektiert wird, auch im Tod und über den Tod hinaus, dass das aber vereitelt wird durch die „Ausschlachtung und Wiederverwertung der Organe sterbender Menschen“, die man als eine „tiefe Missachtung der unverwechselbaren Würde des Einzelnen“ verstehen kann, als eine Missachtung, „die unserem Verhältnis zum anderen Menschen auf Dauer irreparablen Schaden zufügen“ kann.

Man könnte auch fragen, ob hier nicht die Pietät verletzt wird: Da wartet bei der Organtransplantation ein Mensch, vielleicht gar ungeduldig, auf den Tod eines anderen und wünscht ihn herbei, um selber davon zu profitieren. Und dem Arzt geht es dann nicht mehr um die Interessen des dem Tod geweihten Patienten, sondern um die Interessen dessen, dem ein Organ implantiert werden soll. In diesem Zusammenhang sollten wir uns auch fragen: Was bedeutet die Entnahme der Organe konkret für den Betroffenen, für die Angehörigen und nicht zuletzt auch für die Mediziner?

kath.net: Herr Professor, stellen Sie sich vor, ein Arzt würde Ihnen eröffnen, dass Sie nur noch überleben könnten, wenn Sie ein Spenderherz oder eine Spenderleber annehmen. Wie würden Sie reagieren?

Es ist aufschlussreich, dass die Zahl derer, die bereit sind, ein Organ zu spenden, weitaus geringer ist als die Zahl derer, die ein solches empfangen möchten, wenn eine Implantation die „ultima ratio“ für sie ist. Faktisch ist die Zahl derer, die der Organentnahme intellektuell zustimmen, sehr viel größer als die Zahl derer, die bereit sind, selber Organspender zu sein. Offenbar ahnen nicht wenige, dass, wenn einem Hirntoten ein lebenswichtiges Organ entnommen wird, in sein Sterben eingegriffen wird.

Um Ihre konkrete Frage zu beantworten: Da ich weiß, was die Organtransplantation de facto bedeutet, wenn es sich um ein unpaariges lebenswichtiges Organ handelt, und da mir die ethischen, aber auch die anthropologischen Implikationen einer solchen Aktion bewusst sind, bedarf die negative Antwort keiner langen Überlegung. Zudem frage ich mich und so müssten sich auch alle Betroffenen fragen: Was ist das für ein Weiterleben, das nur ermöglicht wurde dadurch, dass ein anderer getötet wurde?

kath.net: Gibt es eine „Pflicht der christlichen Nächstenliebe“ zur Organspende?

Wenn die Explantation eines Hirntoten als aktive Euthanasie verstanden werden muss, dann kann man auch die Worte Jesu von der Hingabe des Lebens für seine Freunde als Ausdruck grenzenloser Liebe (Joh 15, 13) und sein diesbezügliches Beispiel nicht auf die Organspende anwenden, denn eine direkte Tötungshandlung an einem Menschen kann niemals legitim sein. Darum aber würde es sich hier handeln. Die Hingabe des Lebens durch Jesus legitimierte nicht das Tun seiner Peiniger. Die Behauptung, die Organspende sei eine christliche Tat, wird von daher in keiner Weise dem Problem der Organspende gerecht.

Bedauerlicherweise vermochte auch die gemeinsame Erklärung des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz von 1990 die hier notwendige Differenzierung nicht zu vollziehen, wenn sie die Organspende mit der christlichen Liebestat der Hingabe des Lebens für einen anderen gleichsetzt. Sie war offenbar allzu sehr von politischen Aspekten geleitet. De facto hat sie bis heute nicht wenige Kritiker gefunden, nicht zuletzt auch deshalb, weil sie sich bedenkenlos in den Dienst des Hirntod-Kriteriums gestellt hat, ohne dieses aus tieferer medizinischer, philosophischer und theologischer Sicht zu reflektieren, weil sie ohne tiefere Reflexion das Menschsein des Menschen an das funktionierende Gehirn bindet und dabei in keiner Weise auf die darin enthaltenen Probleme eingeht, vor allem aber auch, weil sie den Blick einseitig auf die potentiellen Organempfänger und die Transplanteure richtet. Die Kirche muss den Fortschritt bejahen und ihm dienen, das ist keine Frage, allerdings nicht undifferenziert. Nur dann bleibt sie sich selber treu, wenn sie dem wahren Fortschritt dient.

kath.net: Worin sehen Sie die eigentlichen Ursachen für die breite Kampagne zugunsten der Organspende?

Die Gründe sind vielfältig. Zunächst ist hier zu konstatieren, dass die Politiker die Förderung und die positive Regelung der Organtransplantation im Allgemeinen für den Ausdruck einer positiven Einstellung zur Wissenschaft und zu ihren Möglichkeiten halten und dass sie damit dem „bonum commune“ dienen. Dabei richten sie den Blick weniger auf die der Organtransplantation innewohnenden ethischen Prinzipien und anthropologischen Aspekte und meinen, wenn sie die Möglichkeiten des Menschen irgendwie kanalisieren würden, hätten sie ihre Aufgabe erfüllt.

Sodann ist hier an das Interesse der Pharma-Industrie zu erinnern, an den Ehrgeiz der Mediziner, an die Faszination der Machbarkeit und an die erheblichen materiellen Gewinne, die die Ausweitung der Organtransplantation begleiten.

Zu bedenken ist hier aber auch, dass moralische Überlegungen generell bei uns nicht gerade hoch im Kurs stehen. Vielfach herrscht die Meinung: Was der Mensch tun kann, das darf er auch tun. Wie man immer wieder vernimmt, spielt auch in der Ausbildung der Mediziner die medizinische Ethik nur eine geringe Rolle. Wenn man heute überhaupt noch ethisch argumentiert, tut man das utilitaristisch oder teleologisch, vom Subjekt her, nicht essentiell. In unserem Fall etwa so: Der eine muss sowieso sterben, während der andere weiterleben kann, wenn ihm ein lebenswichtiges Organ implantiert wird. Da wird der Mensch indessen instrumentalisiert und in seiner unantastbaren Würde in Frage gestellt, da wird im Grunde das fundamentale ethische Prinzip verlassen, dass das Leben eines Menschen niemals zur Disposition stehen darf.

Die Ablehnung des Naturrechtes und der daraus folgende Rechtspositivismus verstellen uns weithin den Blick auf die ethische Beurteilung der Organtransplantation, die ihre eigene Dynamik entwickelt. Es geht hier jedoch nicht nur um die Organtransplantation, es geht hier allgemein um die Mikrobiologie. Sie führt uns in Abgründe, sie ist weit folgenreicher und zerstörerischer als die Mikrophysik. Die Aufgaben, die der Kirche daraus erwachsen, sind von größter Tragweite.

Zu bedenken ist hier auch, dass nicht alles, was theoretisch möglich ist, auch praktikabel ist. Das ist zwar ein pragmatisches Argument gegen die Organtransplantation, aber auch vor solchen Argumenten sollte man in diesem Kontext die Augen nicht verschließen. Darum ist in diesem Zusammenhang - unabhängig von der Frage, ob die Hirntoten wirklich tot sind - auch zu bedenken, dass Transplantationen den Organismus des Empfängers des Transplantates schwer belasten, dass die Übertragung des Organs in vielen Fällen nicht gelingt, dass sie oftmals nur von kurzer Dauer ist und dann wiederholt werden muss und dass die Unterdrückung des Immunsystems unter Umständen neue Krankheiten, oftmals auch todbringende Krankheiten hervorbringt. Zudem wird der Transplantierte niemals wieder ein normales Leben führen können wie ein Gesunder. Die bleibende ärztliche Betreuung nach der Organtransplantation ist zeitaufwändig und kostspielig und aufs Äußerste belastend für den Transplantierten. Das sind pragmatische Überlegungen, aber sie untermauern doch auch die Gültigkeit der prinzipiellen Überlegungen.

Mit der Organtransplantation wird eine Therapie entwickelt - auch daran muss hier erinnert werden -, die von den unvorstellbar hohen Kosten her schon auf die Dauer nicht durchzuhalten ist, zumal wenn sie nicht selektiv sein will, wenn alle daran partizipieren sollen. Schon heute machen die Krankenkassen und die Politiker immer wieder auf die Explosion der Krankheitskosten aufmerksam. Zudem kann von einer Wiederherstellung der Gesundheit bei den Transplantierten durchweg nicht die Rede sein. Fast ausnahmslos sind sie auf Hilfe und Betreuung angewiesen, physisch und psychisch. Vielfach begleiten sie Ängste vor neuen, durch die Transplantation bedingten Krankheiten und gar auch Schuldgefühle, nicht nur im Falle einer Herzimplantation. Des Öfteren wird das neue Organ wieder abgestoßen durch die körpereigene Abwehr, so dass eine erneute Transplantation nötig wird, wenn sie dann überhaupt noch einmal möglich ist. Das alles bedeutet für den Patienten eine vielfältige Anspannung, um nicht zu sagen, eine außergewöhnliche Schinderei, die in keinem Verhältnis steht zu der zeitweiligen Verlängerung des Lebens.

Die Organtransplantationen wachsen dem Menschen über den Kopf. Sie lassen letzten Endes erkennen, dass man das personale Wesen des Menschen und die damit gegebene Würde verkennt oder nicht genügend präsent hat. Es ist im Grunde das gleiche Problem, das sich bei der Bejahung der embryonalen Stammzellen-Forschung, bei der Abtreibung, bei der In-vitro-Fertilisation und bei der Euthanasie stellt.

kath.net: Herzlichen Dank für dieses Gespräch, Herr Professor.

Professor Joseph Schumacher ist Priester der Diözese Münster, seit 1971 in der Erzdiözese Freiburg und im Hochschuldienst tätig.

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Foto Joseph Schumacher: © kath.net/Petra Lorleberg


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