10. Jänner 2012 in Chronik
Als die stille, betende und dienende Mitte der Ratzinger-Geschwister bezeichnete der Historiker Michael Hesemann im KATH.NET-Interview die bisher eher weniger beachtete Maria Ratzinger. Von Petra Lorleberg
Rom (kath.net/pl) Maria Ratzinger, die Schwester von Papst Benedikt XVI., war die stille, betende und auch dienende Mitte der Ratzinger-Geschwister. Das sagt der Historiker Michael Hesemann im KATH.NET-Interview über die bisher eher weniger beachtete Papstschwester. Maria Ratzinger mit ihrem offenen, neugierigen, klugen Blick einer intellektuellen Frau habe aus ihrem tiefen Glauben gelebt, dem, bei aller Intellektualität, das Ländlich-Bodenständige nie abhanden kam.
kath.net: Herr Hesemann, Maria Ratzinger ist die Schwester von Papst Benedikt XVI, doch sie ist weithin unbekannt. Warum ist das so?
Michael Hesemann: Ja, Sie haben recht, Maria Ratzinger ist zumindest auf den ersten Blick so etwas wie die stille, betende und auch dienende Mitte der Ratzinger-Geschwister, womit sie ihrer Namenspatronin, der Gottesmutter, gewiss alle Ehre macht.
Auf uns aber wirkt das zunächst einmal irritierend: Da haben die Eltern Joseph und Maria Ratzinger, ein Landgendarm und eine gelernte Köchin, nicht nur zwei Priesterbrüder, sondern auch zwei echte Genies aufgezogen, einen weltbekannten Chorleiter und den größten Theologen deutscher Sprache, der schließlich zum Nachfolger Petri gewählt wird, und zwischen diesen beiden Giganten, man möchte sie fast mit den Türmen eines gotischen Doms vergleichen, scheint sie auf den ersten Blick ganz zu verschwinden, jedenfalls im Schatten zu stehen.
Erst auf den zweiten Blick erweist sie sich, um bei meinem Bild zu bleiben, als ein echtes gotisches Glasfenster, glasklar nämlich, in herrlichen Farben, Licht durchlassend und im Zentrum, im Herzen, die Gottesmutter tragend.
Warum dem so ist? Sie hat diesen Weg gewählt, weil sie so war: bescheiden, aufopfernd, gewiss, aber auch neugierig, eine echte Herausforderung suchend. Damit unterschied sie sich nicht sehr von ihrer Mutter, die lange selbständig war, die erst mit 36 geheiratet hat und vorher alleinstehend und berufstätig war, die in Salzburg, München und Hanau gelebt hat, die also alles andere als ein naives Landmädchen war. Familienfotos zeigen die Papstmutter stets als schöne und stolze Frau, zudem war sie eine echte Alleskönnerin, die sich in jeder Lebenslage zu helfen wusste; und reichte einmal das Geld nicht, weil beide Brüder auf das Knabenseminar wollten, da nahm sie halt in einem Hotel in Reit im Winkl einen Job an, um der Familie etwas dazuzuverdienen.
Nein, am Frauenbild der Familie Ratzinger kann es nicht gelegen haben, dass die Tochter Maria im Familienorchester eher die zweite Geige spielte.
Woran aber dann? Intelligent war sie auf jeden Fall; sie wollte sogar Lehrerin werden, mag aber aus zweierlei Gründen darauf verzichtet haben. An erster Stelle waren es wohl die Zeitumstände. Maria Ratzinger wurde 1921 geboren, hätte also ihr Studium mitten im Krieg, sprich: in der Nazi-Zeit absolvieren müssen. Da wird sie erlebt haben, dass alle jungen Lehrer längst zu Helfershelfern der braunen Ideologen umfunktioniert worden waren, und ebenso wenig wie ihr Vater und ihre Brüder wollte sie den verhassten Nazis auch nur indirekt dienen.
Hinzu kam, dass der Seminareintritt der beiden Brüder, ihre Entscheidung, Priester werden zu wollen, die Familienkasse schon arg belastete. Beide Faktoren führten wohl zu der Entscheidung, stattdessen auf eine Töchterschule im Kloster Au zu gehen, wo sie neben Hauswirtschaftslehre auch eine sehr gute Ausbildung in Steno, Buchführung und Maschinenschreiben erhielt. So wurde sie nach dem Krieg zunächst Anwaltssekretärin.
kath.net: Möchten Sie uns einige lebensbiographische Daten der Papstschwester nennen?
Hesemann: Gerne. Geboren wurde Maria Ratzinger am 7. Dezember 1921 in Pleiskirchen, war also mehr als zwei Jahre älter als ihr Bruder Georg (geb. 15. Januar 1924) und fünfeinhalb Jahre älter als Joseph Ratzinger (geb. 16. April 1927), unser Papst. Zur Schule ging sie erstmals in Marktl, auf die Realschule in Tittmoning, schließlich auf die Haustöchter-Schule im Kloster Au am Inn.
Nach der Mittleren Reife absolvierte sie zunächst das damals für Mädchen vorgeschriebene landwirtschaftliche Pflichtjahr, dann nahm sie einen Bürojob in einem Traunsteiner Geschäft an. Nach dem Krieg war sie als Rechtsanwaltssekretärin für eine Münchener Kanzlei tätig, bevor ihr Bruder Joseph 1959 als Professor für Dogmatik an die Universität Bonn berufen wurde.
Damals entschied sie sich dafür, ihm den Haushalt und das Büro zu führen. Sie blieb an seiner Seite auch als er 1982 von Papst Johannes Paul II. nach Rom geholt wurde bis zu ihrem Tod am 2. November 1991 in Regensburg, wo sie zum Allerheiligenfest das Grab ihrer Eltern besuchen wollte. Sie erlitt zunächst einen Herzinfarkt und verstarb kurz darauf an einer Gehirnblutung. Sie wurde also gerade einmal 69 Jahre alt.
Damals hieß es in der Todesanzeige, die wohl von Georg Ratzinger formuliert worden war: 34 Jahre hat sie ihrem Bruder Joseph auf allen Stationen seines Weges in unermüdlicher Hingebung und mit großer Güte und Demut gedient.
kath.net: Gab es im Leben von Maria Ratzinger eine bewusste Entscheidung für die Arbeit bei und mit ihren Brüdern? Warum blieb sie eigentlich ledig?
Hesemann: Nun, es war eine Entscheidung für die Arbeit bei und mit ihrem Bruder Joseph im Singular! Diese Entscheidung fällte sie 1958. Damals erhielt Joseph Ratzinger seine Berufung nach Bonn, während Georg Ratzinger als Chorleiter nach Traunstein zurückkehrte. Hatten die Brüder ihre Eltern zunächst zu Joseph in die Professorenwohnung nach Freising geholt, erschien ein Umzug an den Rhein für sie als unzumutbar, während die Rückkehr in die geliebte Heimat als reizvoll erschien. Dort konnte ihre Mutter fortan für Georg den Haushalt führen. Maria aber bot Joseph an, mit nach Bonn zu kommen und dort seinen Haushalt zu führen, was er dankbar annahm, da er mit solch praktischen Dingen nicht gerade vertraut war. Zuvor lebte sie allein, genauer gesagt: zur Untermiete, in München.
Warum sie nie heiratete ich weiß es nicht. Vielleicht liebte sie einfach die Selbständigkeit, diente ihre Mutter ihr darin als Vorbild, die ja auch für damalige Verhältnisse recht spät heiratete, mit 36 Jahren.
Ganz offenbar sah sie sich nicht in der klassischen Frauenrolle ihrer Zeit, wie sie damals gerade auf dem Lande vorherrschend war, wo die Mädchen doch recht früh verheiratet wurden. Georg Ratzinger erzählte mir, dass sie in Traunstein auf dem Gymnasium 38 Buben und drei Mädchen waren, und die waren allesamt evangelisch und Töchter von Zugereisten. Zitat: Damals waren die meisten Menschen in unserer Region einfache Handwerker oder Bauern, bei denen es einfach nicht üblich war, eine Tochter auf eine höhere Schule zu schicken. Davon hob sich die intelligente Maria deutlich ab. Wie gesagt, sie wollte sogar Lehrerin werden, wenn auch die Zeitumstände sie dann doch in einen Sekretärinnenjob zwangen.
So sehe ich ihre Entscheidung, ihrem Bruder Joseph als Haushälterin und Sekretärin zur Seite zu stehen, keineswegs als Indiz dafür, dass sie sich nach einer traditionellen Frauenrolle sehnte, im Gegenteil. Ich denke, sie fühlte sich als Rechtsanwaltssekretärin einfach intellektuell unterfordert.
Was ihr die Arbeit bei und mit ihrem Bruder bot, war einfach verlockender: Ein Leben in einer Universitätsstadt, in einem durch und durch akademischen Milieu, an der Seite eines Professors, ohne dabei wieder in die klassische Hausfrau und Mutter-Rolle einer Professorengattin gedrängt zu werden das muss sie gereizt haben, das war für sie eine echte Herausforderung! Daneben spielte natürlich auch die enge Verbundenheit der Ratzingers eine Rolle. Sie konnte sich gewiss nicht vorstellen, den geliebten jüngeren Bruder allein in die Ferne ziehen zu lassen.
kath.net: Erschöpfte sich ihre Sorge für ihren Bruder Joseph in der Haushaltstätigkeit? Oder gab sie auch Rat und Korrektur?
Hesemann: Letztendlich war sie seine Assistentin: Sie tippte und redigierte seine Manuskripte, sie wird Quellen für ihn herausgesucht haben und saß dabei, wenn Professorenkollegen oder Studenten zu Besuch kamen. Offenbar hat sie auch gerne Vorträge und Vorlesungen besucht; es gibt jedenfalls genug Fotos, die sie in der ersten Reihe neben ihrem Bruder zeigen, stets mit diesem offenen, neugierigen, klugen Blick einer intellektuellen Frau. Es war also für sie eine in jeder Hinsicht erfüllende Tätigkeit.
Das änderte sich natürlich, als er erst Erzbischof von München und Freising wurde und dann nach Rom ging. In dieser Position wurde ihm ein Sekretär gestellt, da war Maria nur noch seine persönliche Vertraute und Haushälterin. Doch trotzdem bot sich ihr auch da noch die eine oder andere intellektuelle Herausforderung, da bin ich mir sicher. Schließlich hat er sie oft genug zu Vorträgen, Konzerten und Empfängen mitgenommen, wie Fotos aus dieser Zeit belegen. Aber natürlich: Sie hat sich auch für ihren Bruder aufgeopfert, daran besteht kein Zweifel und darin besteht auch ihre Größe.
kath.net: Welche Gesprächsthemen hatte sie mit ihren Brüdern? War das Verhältnis zu ihren Brüdern spannungsfrei? Verstand sie sich möglicherweise als stille Beterin für die Aufgaben ihrer Brüder?
Hesemann: Da beide Brüder Priester sind und sie selbst sehr gläubig war, wird es wohl oft auch um Glaubensfragen gegangen sein, aber auch um wissenschaftliche Theologie, um die Einschätzung von Kollegen und Studenten, um die gemeinsame große Liebe zur Musik, aber auch die Sorge um die Eltern, die schließlich 1959 und 1963 verstarben. Zum Glück hatten in beiden Fällen alle drei Kinder die Möglichkeit, Abschied zu nehmen.
Marias Verhältnis zu ihren Brüdern war, von kindlichen Reibereien und Rivalitäten einmal abgesehen, eigentlich immer sehr harmonisch, so wie es die ganze Stimmung in der Familie Ratzinger war; familiäre Differenzen löste man im gemeinsamen Gebet! Nur in der Kindheit war klar, dass die beiden Brüder mehr miteinander anfangen konnten, als mit der älteren Schwester, was ja ganz normal war; da orientierte sie sich nach der Mutter, mit der sie natürlich mehr Zeit verbrachte als mit den beiden Lausbuben.
kath.net: Über ihren Bruder Joseph hatte sie weltkirchliche Kontakte wie wenige andere.
Hesemann: Natürlich hatte sie die, schließlich lebten die Geschwister neun Jahre lang zusammen in Rom, während derer Joseph Ratzinger das dritthöchste Amt der Weltkirche ausübte. Zwar durfte ihr Bruder niemanden zu den vertraulichen Unterredungen mit dem Papst mitnehmen, aber es gab genug nichtamtliche Termine, an denen sie Johannes Paul II. begegnete und vielleicht auch Mutter Teresa.
kath.net: Wo und wie schöpfte die Ratzinger-Schwester Kraft und Lebensmut? Frau Ratzinger war Mitglied des Dritten Ordens des hl. Franziskus, liegen hier geistliche Quellen?
Hesemann: Die schöpfte sie aus ihrem tiefen, gelebten Glauben, dem, bei aller Intellektualität, das Ländlich-Bodenständige nie abhanden kam. Und ja, Maria Ratzinger war Mitglied des Dritten Ordens, was ihr sicher eine Möglichkeit bot, einer inneren Berufung zu einem Leben im Gebet zu folgen, aber gleichermaßen in der Welt zu leben.
Schließlich war von dem Augenblick an, als er nach Rom übersiedelte, der Dienst an ihrem Bruder auch ein Dienst an der Weltkirche!
kath.net: Papst Benedikt schrieb in seiner Lebenserinnerungen 1997 im Zusammenhang mit der Heiligsprechung des Bruders Konrad von Parzham: Später habe ich oft nachgedacht über diese merkwürdige Fügung, dass die Kirche im Jahrhundert des Fortschritts und der Wissenschaftsgläubigkeit sich selbst am meisten dargestellt fand in ganz einfachen Menschen, und er fragte weiter: Ist es ein Zeichen, dass der helle Blick für das Wesentliche gerade auch heute den Geringen gegeben ist, der den Weisen und Verständigen so oft abgeht? Hat sich Maria Ratzinger von diesem Ideal möglicherweise sogar bewusst prägen lassen?
Hesemann: Ach wissen Sie, den Blick auf das Wesentliche wird sie nie verloren haben, den hat auch der Heilige Vater nie verloren, aber als ganz so einfach wie der Bruder Konrad, ein ehemaliger Bauer, der an der Klosterpforte diente, würde ich keinen von den beiden bezeichnen.
Ich würde eher sagen, dass wir bei allen drei Geschwistern die wunderbare Mischung von Herzensreinheit, Bescheidenheit, Dienstbereitschaft und geistiger Brillanz finden. Gewiss, Maria hielt sich gerne im Hintergrund, aber auch Joseph Ratzinger hat sich nie vorgedrängt und so sind die beiden nicht nur im wörtlichen Sinne, sondern auch geistig verwandte Naturen gewesen, die sich wunderbar ergänzten.
kath.net: Auch bei Papst Benedikt selbst wird ja immer wieder seine bescheidene Art hervorgehoben. In der Ausübung des Papstamtes widersteht er der Versuchung, sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen, der Mensch Joseph Ratzinger dient der Aufgabe und Verantwortung, die er trägt. Trifft er sich in diesem Punkt mit der Einstellung seiner Schwester, auch wenn das Schicksal ihm andere Aufgaben als ihr gestellt hat? Kann man sagen, dass es in der Familie der Ratzingers eine Hinneigung zur Tugend der Bescheidenheit gibt?
Hesemann: Auf jeden Fall, ja! Da spielte natürlich auch das Vorbild des Vaters eine Rolle, der zwar als Kleinstadtgendarm eine Autoritätsperson von Rang war, aber von Zeitgenossen nie als herrisch oder rau, sondern immer als korrekt, bescheiden und höflich beschrieben wurde. Das sind einfach ganz wunderbare Menschen, diese Ratzingers, wie man heute noch an den beiden Brüdern sieht. Und was hat sie dazu gemacht? Nur ihr tiefer, gelebter Glaube, der quasi das Rückgrat ihrer ganzen Familiendynamik war. Sie sind wirklich ein Vorbild für jede christliche Familie!
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