Bestimmen bald Protestanten zu stark die Politik?

2. März 2012 in Kommentar


Der Katholik Martin Lohmann und der Protestant Bernhard Felmberg beziehen zu dieser Frage kontrovers Stellung.


Wetzlar (kath.net/idea) Mit der Nominierung von Joachim Gauck für das Amt des Bundespräsidenten stehen – im Falle seiner Wahl – zusammen mit Kanzlerin Angela Merkel zwei Protestanten an der Spitze des deutschen Staates. In Medien wird deshalb diskutiert, ob der Protestantismus die Politik zu stark beeinflusse. Gegensätzliche Antworten auf diese Frage geben zwei Experten in Beiträgen für die Evangelische Nachrichtenagentur idea (Wetzlar).

PRO Ich bin zwar nicht wirklich davon überzeugt, dass Protestanten die Politik zu stark bestimmen oder gar dominieren. Aber sicher scheint mir: Die Politik in Deutschland wird zu wenig von überzeugten Katholiken bestimmt. Ihre Stimme – etwa mit klarem Bekenntnis zur Unantastbarkeit der Menschenwürde und des Lebensschutzes – fehlt; jedenfalls ist sie zu wenig hörbar.

Als engagierter Katholik mit ökumenischem Herzen freue ich mich über engagierte Protestanten. Aber ich wünsche mir mehr katholisches Profil, mehr katholischen Widerspruch und mehr erkennbare Belastbarkeit im Politischen – und vor allem mehr Perspektive für eine zukunftsfähigere und humanere Gesellschaft auf der Grundlage eines christ-katholischen Koordinatensystems. So gesehen brauchen wir mehr ökumenischen Geist, damit eine ganzheitliche Politik aus christlicher Verantwortung möglich ist. Dazu gehören ein wertorientiertes freiheitliches Denken, eine bekenntnisfähige Orientierung an dem, was Freiheit und Verantwortung ausmachen, und der Mut zum toleranten und dennoch unmissverständlichen Einspruch. Dass die evangelische Stimme überwiegt, sehe ich als klare Ansage an katholische Christen: Versteckt euch nicht weiter, zeigt Flagge und mischt euch ein!

Immerhin hätten und haben katholische Christen gerade auch in der Politik ein kostbares Plus in die Waagschale zu werfen: jene von unmittelbarer staatlicher Ordnung befreite Denk- und Überzeugungsstruktur, die sich aus einem übernationalen Selbstbewusstsein speist. Wie schön, dass einige Protestanten uns vormachen, dass man nicht protestieren muss, wenn sogar die zwei wichtigsten Staatsämter evangelisch „besetzt“ sind. Dann wird es sicher auch kein „Problem“ sein, wenn sie einmal katholisch sein sollten und die Frage lautet: Bestimmen die Katholiken zu stark die Politik?

(Der Autor, Martin Lohmann (Bonn), ist Sprecher des Arbeitskreises Engagierter Katholiken in der CDU, Publizist und Vorsitzender des Bundesverbandes Lebensrecht.)

KONTRA Fleiß, Disziplin, Sparsamkeit, Verbindlichkeit, Aufrichtigkeit – die Liste der Tugenden, die man uns Protestanten nachsagt, ist lang, und für manchen mag sie vielleicht langweilig sein. Aber genau diese Tugenden sind es, die viele gerade jetzt, in den Zeiten der Finanz- und Vertrauenskrise, von ihren politischen Vertretern erwarten und ersehnen. Daher halte ich die Frage, ob mit der bevorstehenden Wahl von Joachim Gauck zum Bundespräsidenten die Politik in Deutschland zu sehr protestantisch gefärbt sein könnte, für eine rhetorische. Welche echte Sorge könnte sich damit verbinden? Ein erneutes Aufbrechen konfessioneller Gegensätze in Politik und Gesellschaft ist nicht zu befürchten, zumal in Bundestag und Bundeskabinett Mitglieder beider Konfessionen nach wie vor zu annähernd gleichen Teilen vertreten sind. Aus evangelischer Verantwortung gespeistes politisches Engagement ist – ebenso wie das katholischer Politiker – bestimmt von dem Anspruch, „für eine Wertorientierung in der Politik einzutreten, in deren Zentrum die Würde jedes Menschen, die Achtung der Menschenrechte und die Ausrichtung am Gemeinwohl stehen“. So haben es der Rat der EKD und die (katholische) Deutsche Bischofskonferenz in ihrem gemeinsamen Wort „Demokratie braucht Tugenden“ formuliert. Der neue Bundespräsident wird sich also selbstverständlich in den Dienst der gesamten deutschen Gesellschaft stellen.

Joachim Gauck steht für viele Menschen, die sich in der ehemaligen DDR für Freiheit und Demokratie eingesetzt haben; sein Glaube war ihm dabei Antrieb und Kraftquelle. Dass er auch unter schwierigen Bedingungen seinen Überzeugungen und seinem Glauben entsprechend gelebt und gehandelt hat, verleiht seiner Person besondere Glaubwürdigkeit. Das kann unserer Gesellschaft nur guttun.

(Der Autor, Prälat Dr. Bernhard Felmberg (Berlin), ist Bevollmächtigter des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) bei der Bundesrepublik Deutschland und der EU.)


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