8. April 2012 in Chronik
Die ganze Stadt ist ja eine einzigartige Ikone der Passion und Auferstehung Christi von den Toten. Von Paul Badde (Welt am Sonntag).
Rom (www.kath.net)
Ach, Jerusalem! Als Jesus näher kam und die Stadt sah, weinte er über sie, sagt Lukas. In dieses Weinen lässt sich leicht einstimmen, aus vielen Gründen. Da geht es mir in Rom gerade so, wie es Axel Springer in Berlin ging, der in seinem Verlagshaus ein gewaltiges Bronzemodell der Jerusalemer Altstadt aufstellen ließ, mit allen Türmen und Häusern und Hügeln und Tälern, in dem ich mit den Augen und dem Finger fasziniert verschiedene Gassen und Wege abging, bevor mich die Zeitung im Januar 2000 selbst nach Jerusalem schickte.
Mein Jerusalem-Modell hatte ich zu der Zeit längst im Kopf. Zahlreiche Artikel hatte ich da schon über die Stadt geschrieben; meine ersten vier Bücher kreisten um Jerusalem wie Adler über ihrem Nest. Jerusalem ist die schwere Krone der Städte und Stätten der Menschen, hieß es am Schluss meines ersten Berichts über den Ort vor über einem Vierteljahrhundert. Wer kann sie tragen? Das könnte ich auch heute noch so schreiben.
Doch dann wurde ich eines Tages im Jubeljahr 2000 nicht mehr als Reisender, sondern als Bürger Jerusalems in der Stadt wach. Plötzlich wohnte ich nicht mehr am Münchener Thierschplatz, sondern zwei Minuten vom Damaskustor entfernt. In Jerusalem zu leben und nach Jerusalem zu reisen war kein Unterschied wie Tag und Nacht oder wie zwischen Himmel und Erde. Es war auch kein umgedrehtes Fernrohr, oder welche Vergleiche einem sonst noch durch den Kopf gehen mögen für einen vollkommen verschiedenen Blickwinkel auf den gleichen Ort.
Oft wurde ich in der Früh wach und ging auf die Helena Hamalka Street hinaus und schaute in den sternübersäten Himmel hoch und konnte es kaum fassen, hier plötzlich zu leben, wo Jesus starb, eine Viertelstunde vom Golgatha entfernt, und lauschte den Stimmen der Nachtigallen und Muezzine. Alles hatte sich vollkommen geändert, auch meine Liebe zu Jerusalem. Sie wuchs von Tag zu Tag noch mehr. Das hatte mehrere Gründe. Einer davon war eine Katastrophe. Das war die Intifada. Sie hatte die Stadt von allen Fremden entleert.
Die Händler stöhnten, die Hoteliers klagten, viele Betriebe standen vor dem Bankrott. Im Souk hatten die selbsternannten Fremdenführer es aufgegeben, die letzten Fremden zu belästigen. An allen Ecken und Torbögen unterhielten sich muskulöse Sicherheitsleute mit den Mikrophonen in den Kragenzipfeln ihres Räuberzivils. Es war so friedlich. Auf dem Parkplatz des Zionsberges verpesteten keine laufenden Motoren mehr die Luft, um die Klimaanlagen der Busse in Gang zu halten. Es war absurd: so friedlich und würdig, wie die Stadt sich mir damals darbot. Ich konnte mir nicht vorstellen, sie jemals zu verlassen. Jetzt bin ich schon zehn Jahre weg und weiß, dass ich Jerusalem nie mehr verlassen kann, erst recht nicht an Karfreitag und Ostern.
Denn nur das Christentum ist ja in Jerusalems Mauern in die Welt gekommen, als einzige unter allen Religionen, in einem Weltdrama in den Apriltagen des Jahres 30. Wo Paulus, nach dem mich meine Eltern bei meiner Taufe benannt haben, die verschwitzten Oberkleider der frommen Eiferer bewachte, die Stephanus steinigten (der Jesus als erster in den Tod nachfolgte), fuhr ich oft im Taxi vorbei. Doch keine Spuren habe ich hier häufiger gekreuzt, als die des Messias selbst. Denn die ganze Stadt ist ja eine einzigartige Ikone der Passion und Auferstehung Christi von den Toten. Von ihm erzählt hier zuerst und zuletzt das Licht. Dann das Klima, der Horizont, der Wind, die Pflanzen, die Vögel in der Früh, die Steine, die Hügel, die Häuser. Es ist der Wind am Nachmittag, der Jesu letzten Schrei mitnahm. Es sind die Steine der Klagemauer, an denen er schon gelehnt haben mochte, bevor er in den Tempel hinaufstieg.
Aus anderen Steinen desselben Tempels wurde rasch nach der Zerstörung der Stadt im Jahr 70 auf dem Zionsberg an der Stelle die erste kleine Kirche der Christenheit errichtet, wo Jesus zuletzt mit seinen Jüngern gegessen und ihnen danach die Füße gewaschen hatte. Wo Petrus ihn nach seiner Verhaftung verleugnete, können wir jetzt noch über Steinstufen zum Kidrontal hinab gehen, die auch seine Sandalen berührten auf seinem letzten Weg in Freiheit. Hinter dem Garten Gethsemani findet sich in einer Nische der Straßenmauer der blutrote Säulenstumpf vermauert, über den Jesus bei seiner Auspeitschung den Rücken krümmte. Links von dem großen Gräberfeld wird ein bisschen weiter oben die Stelle verehrt, wo Jesus weinte. Auf der Rückseite des Ölbergs biegen sich Sträucher im Wind, aus deren Gestrüpp jene Haube geflochten wurde, die Jesus als Krone in die Kopfhaut geprügelt wurde.
Am unserem letzten Karfreitag in Jerusalem fiel dichter Nebel die Stadt, dann wurde es am Nachmittag gespenstisch dunkel. Der Himmel glich einer einzigen fahl beleuchteten Höhle. Wo dieses letzte Licht überhaupt herkam, war unerfindlich. Von der Sonne nichts zu sehen und zu ahnen. Weinende Kinder in den Nachbarhäusern. Seit alters her holt der Chamsin, wie dieser Wüstenwind auf Arabisch heißt, die Stadt in jedem Frühling heim, trübt den Blick der Jerusalemiter mit puderfeinem Staub, narrt den Verstand narren und ängstigt ihre Seelen. Er macht hier schon seit Urzeiten die Menschen verrückt, sicher auch am ersten Karfreitag. Es war etwa um die sechste Stunde, schreibt der Evangelist Lukas, als eine Finsternis über das ganze Land hereinbrach. Sie dauerte bis zur neunten Stunde. Die Sonne verdunkelte sich.
Die Pforte der Grabeskirche ist gleichzeitig eine Schwelle der Zeit. Eine Blutspur wie von einem verwundeten Tier war hinter Jesus in die Straßen Jerusalems getropft, vom Palast des römischen Präfekten, wo Legionäre ihn ausgepeitscht hatten, bis hierhin, den ganzen Weg der Schmerzen entlang: die Via Dolorosa. Hinter dem Hauptportal führt rechts eine Treppe zum Rest eines alten Steinbruchs hoch, dessen mindere Qualität für den Hausbau nicht mehr taugte. Vor 2000 Jahren lag er noch außerhalb der Mauern, doch so hoch, dass er auch von der Stadt aus gesehen werden konnte, ideal für Hinrichtungen, zur Abschreckung und Einschüchterung der Bevölkerung.
Kaiser Konstantin ließ den Felsklotz später an drei Seiten soweit abgetragen, dass er in die Anlage der ersten Basilika des Jahres 325 passte. Kreuzfahrer haben ihn später ganz überbaut, so dass der Golgatha viele Jahrhunderte verborgen war. Erst als 1987 Archäologen da oben die Bodenabdeckung unter dem Altar entfernten, legten sie dort den Kopf eines zehn Meter hohen Felsens aus aschgrauem Kalkstein frei, und mitten darin eine Mulde mit einem zerbrochenen steinernen Ring.
Von diesem Steinring berichtete die Nonne Egeria schon im 4. Jahrhundert. Es sei jene Verankerung, sagte sie, in der in jeder Karwoche das originale Kreuz wieder zur Verehrung auf dem Golgatha eingepflockt und aufgerichtet würde. Einheimische hatten die Kaiserinmutter Helena Jahrzehnte zuvor zu einer alten Zisterne geführt, in dem sie das Kreuz vor den Römern versteckt gehalten hatten, im Keller der heutigen Grabeskirche. Der innere Durchmesser des Rings beträgt 11 cm. Das Kreuz kann also maximal nur etwa 2,50 m hoch gewesen sein. Jesus hing nicht hoch oben, sondern tief unten, in Greifweite seiner Hände ringenden Mutter. Ein Meter neben dem Ring spaltet ein Riss den Felsklotz vom Gipfel bis zum Grund.
Die Erde bebte und die Felsen spalteten sich, schreibt Matthäus in seinem Bericht der Ereignisse. Dann kreuzigten sie ihn, schreibt Markus lakonisch. Wer sich für die Details der Qual interessiert, sollte das Turiner Grabtuch lesen, in dem jede einzelne Wunde des splitterfasernackten Mannes dokumentiert ist, der in dieser Leinwand seine letzte Ruhe fand. Gekreuzigte in der Antike waren nackt. Manche meinen zwar, Pilatus habe im Fall Jesu die jüdischen Sitten berücksichtigt. Die Chronik seiner Amtszeit zeigt jedoch, dass er darauf herzlich gepfiffen hat, erst recht im Fall dieses Königs der Juden, wie er höhnisch auf dem Schuldspruch festhalten ließ, der über das Haupt des Delinquenten geheftet wurde.
Auch den Rest der Prozedur erzählt das Turiner Grabtuch wie eine Schriftrolle aus der Nacht der Passion. Der Mann stand angenagelt auf einem kleinen Hocker am Kreuz und sackte immer wieder zusammen. Beim Zusammensacken klemmte die Lunge ein. Um nicht zu ersticken, musste er sich wieder hoch stemmen. Dann sackte er schon wieder zusammen. So ging es hin und her, hinauf und hinab. Der Blick des blutüberströmten Mannes ging nach Osten über die Mauer auf den goldglänzenden Tempel. Es war das Haus seines Vaters, wie er den Bau schon als Zwölfjähriger genannt hatte.
Dem Blick auf den Tempel, das große Gotteshaus der Juden, entsprach auch sein letztes großes Gebet: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Der 22. Psalm fängt so an, der sich insgesamt liest wie eine Blaupause seiner Passion. Ich bin ein Wurm und kein Mensch, der Leute Spott, vom Volk verachtet. Der Psalm war sein letztes Gebet, keuchend, schweigend, stöhnend, geröchelt. Meine Kehle ist trocken wie eine Scherbe, die Zunge klebt mir am Gaumen, du legst mich in den Staub des Todes. Hätten die Schriftgelehrten am Golgatha näher gestanden, hätten sie die Worte mitbeten können. Sie haben mir Hände und Füße durchbohrt, man kann all meine Knochen zählen.
Ganz nah stand da jedoch nur seine Mutter. Du bist es, der mich aus dem Schoß der Mutter zog, vom Mutterleib an bist du mein Gott. Auch sie wird die Worte gekannt haben. Man kann all meine Knochen zählen, sie gaffen und weiden sich an mir. Sie verteilten unter sich meine Kleider, und werfen das Los über mein Gewand. Schauten die Römer zu ihm hoch, die da gerade über sein letztes Hemd würfelten? Kurz danach schrie er auf. Es ist vollbracht, heißt es am Ende des Psalms, der Herr hat dieses Werk getan. Sein Haupt fiel nach rechts auf die Brust, voll Blut und Wunden. Blut schoss ihm aus dem Mund. Seine Züge, in denen Gott sein Gesicht gezeigt hatte, wurde leichenblass, die Lippen blau. Er hatte ausgelitten. Ein Offizier stach ihm in die Brust, um den Tod zu bestätigen.
All dies ist hier geschehen, auf diesem Teil der Erde. Sein Blut ist auf diesen Felsen getropft. Sein kalter Schweiß. Der Leichnam wurde vom Kreuze genommen. Es war keine Kleinigkeit, ihm die Nägel aus Händen und Füßen herauszuziehen. Nach jüdischer Sitte wurde er in Tücher eingeschlagen. Frauen hatten sündhaft teure Duftstoffe mitgebracht, wie für das Begräbnis eines Königs. Dann brachte ihn eine kleine letzte Gruppe in das frische Grab, das Josef von Arimathäa für sich selbst in einem nahen Garten in einen Felsen hatte schlagen lassen. Bevor der Abendstern am Himmel erschien, musste er da hinein gelegt werden. Der Sabbat würde gleich beginnen, und Pessach, das höchste jüdische Fest: die Erinnerung vom Vorübergang Gottes durch sein Volk.
Jetzt überwölben die Kuppeln der Grabeskirche die Bühne dieses Weltendramas: dieses Grab zusammen mit dem alten Steinbruch, in dem die Passion Christi an ihr Ziel gelangte wie ein zitternder Pfeil. Kalif al Hakim ließ das Grab im Jahr 1009 im Anfall der Raserei zwar zerstören, doch Kreuzfahrer bauten es danach an derselben Stelle mit der gleichen Raumstruktur wieder auf. Dafür hatten sie sich vom Rhein und der Rhone hierhin aufgemacht, um diese Herzkammer der Christenheit dem Haus des Islam wieder zu entreißen. Am Ende der Kammer lässt sich jetzt noch eine Ikone der Maria Magdalena aufklappen wie ein Fenster, hinter der sich das alte Felsbett der Grabanlage mit den Händen greifen lässt.
Ich weiß nicht, wie oft ich diese Wiege der Christenheit in den Tagen der Intifada aufgesucht habe, als das Herz Jerusalems so leer war, aber weiß noch, dass hier jeden Morgen das gleiche Evangelium der Auferstehung Jesu von den Toten verlesen wird, in allen Sprachen der Erde. Es ist der Bericht der Entdeckung des leeren Grabes im Morgengrauen durch den Augenzeugen Johannes: Er beugte sich vor und sah die Leinenbinden liegen, ging aber nicht hinein. Da kam auch Simon Petrus, der ihm gefolgt war und ging in das Grab hinein. Er sah die Leinenbinden liegen und das Schweißtuch, das auf dem Kopf Jesu gelegen hatte; es lag aber nicht bei den Leinenbinden, sondern zusammengebunden daneben an einer besonderen Stelle. Keinen Text der Evangelien habe ich öfter gehört als dieses Stück an diesem Ort.
Es soll in der ersten Osternacht eine außerordentliche Starkstromentladung in der Grabkammer gegeben habe, habe ich gerade gelesen. Ein Professor will es herausgefunden haben, wieder einmal. Wir wollen nicht darüber lachen, wenn wir über Jerusalem weinen möchten. Tatsache ist, dass einfach nicht erklärlich ist, was hier geschah. Es ist fast unerträglich aufreizend. Hier kommen wir an eine Grenze. Es weiß auch keiner, was auf dem Grabtuch geschah. In dieser Hinsicht sind diese Kammer und das Tuch komplett kompatibel. Ganz und gar sicher ist dennoch: dieser Raum ist die Wiege der Christenheit. Europa ist ohne diese Herzkammer nicht denkbar, nicht Venedig, nicht Santiago, nicht Rom, nicht Berlin.
In diesem Raum begann die rätselhafte Verschmelzung der Juden mit allen Völkern ringsum das Mittelmeer, dann mit allen Völkern der Erde. Hier wurde der Unterschied zwischen Juden und Heiden aufgehoben, zwischen Drinnen und Draußen, zwischen Licht und Schatten hier stürzte die Mauer zwischen Tod und Leben ein. Es war eine Kernschmelze. Diese jüdische Grabkammer hatte sich in den ersten Tempel der Christen verwandelt, hier war der Messias zur Bundeslade geworden, zur lebendigen Gesetzestafel. - Sicher war wohl Licht bei dem Ereignis im Spiel. Das Grabtuch ist ein Lichtbild. Jerusalems älteste christliche Liturgie ist das Entzünden des Osterfeuers im Heiligen Grab durch den griechischen Patriarchen bis auf den heutigen Tag. Es ist eine Explosion des Lichts in quasi kosmischer Erinnerung. Raum und Zeit sind untrennbar miteinander verbunden, wissen wir durch Albert Einstein, und Licht ist die Brücke. In dieser österlichen kleinen Kammer war die Brücke ein Licht geworden, das keinen Schatten wirft.
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