Erkennbar und nicht zu unterdrücken

3. Juni 2012 in Aktuelles


Gedanken über die Bedeutung der Wahrheit für den Menschen - Von Peter Egger.


Wien (www.kath.net/ Vision2000)
Eine der Grundfragen des Men­schen lautet: Ist es möglich, die Wahrheit zu erkennen? Der fol­gende Beitrag zeigt, dass der vernunftbegabte Mensch dazu imstande ist. Verschließt er sich aber dieser Erkenntnis, erlebt er eine Revolte der Schöpfung.

Wenn man die Wahrheit erkennen kann, dann ist es möglich, das Wesen des Menschen und der Dinge zu erfassen, die Prinzipien der Moral zu erkennen und zu den ersten Ursachen der Welt und des Kosmos vorzudringen. Wenn man hingegen die Wahrheit nicht erkennen kann, dann ist es nicht möglich, den Menschen, die Dinge, die Moral und die letzten Ursachen der Welt zu erklären und zu erfassen. Dann gibt es nur noch subjektive Meinungen, relative Standpunkte und veränderliche Normen. Letztlich führt die fehlende Erkenntnis der Wahrheit zu Zweifel, Pessimismus, Orientierungslosigkeit, Haltlosigkeit und Sinnlosigkeit.

Der geistige Zugang zur Wahrheit

Die klassische Philosophie hat sich stets um eine Erkenntnis-Lehre bemüht, die einen Zugang zur Wahrheit ermöglicht. Sie hat versucht, die Erkenntnisformen der menschlichen Vernunft zu erforschen, die zu wahren und allgemeingültigen Erkenntnissen führen. Die Vernunfterkenntnis geht von den Erkenntnissen der Sinne und des Verstandes aus und versucht zur Erkenntnis von universalen und bleibenden Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten vorzustoßen. Sie versucht aber auch, zur Erkenntnis der letzten bzw. ersten Ursachen zu gelangen und strebt damit auch nach der Erkenntnis des Absoluten bzw. nach der Erkenntnis Gottes.

Dabei bedient sich die Vernunft zunächst der Abstraktion, um zur Erkenntnis der universalen Prinzipien zu gelangen, die der Natur, dem Menschen, der Ethik, der Gesellschaft, der Geschichte, der Kunst usw. zugrundeliegen. Sie bedient sich aber auch der logischen Schlussfolgerung, um zur Erkenntnis der ersten Ursachen der Welt und des Kosmos vorzustoßen. So kann die Vernunft also mit Hilfe der Abstraktion und der Schlussfolgerung zur Erkenntnis der allgemeinsten Prinzipien und der ersten Ursachen vorstoßen.

Die Vernunft gelangt zunächst zur Erkenntnis, dass der ganze Kosmos auf universalen Prinzipien aufgebaut ist. Sie erkennt, dass dem Kosmos einheitliche Gesetze zugrundeliegen, die ihm eine einheitliche Ordnung verleihen. Sie erkennt weiter, dass die kosmischen Gesetze von einer rationalen Zweckmäßigkeit sind und zu einer allumfassenden Einheit des Kosmos, das heißt zu einem Universum, führen.

Dann gelangt die Vernunft auch zur Erkenntnis von allgemeingültigen und zeitlosen moralischen Prinzipien. Sie kann auf Grund von vielen einzelnen Fällen erkennen, dass das moralische Verhalten auf Prinzipien wie Gerechtigkeit, Ehrlichkeit, Solidarität, Treue, Liebe usw. aufbauen muss. Damit erkennt die Vernunft, dass das moralische Verhalten an objektive, allgemeingültige und zeitlose Prinzipien gebunden ist.

Schließlich gelangt die Vernunft zur Erkenntnis, dass die universalen Gesetze und die ungeheuer komplexe Ordnung des Kosmos eine intelligente und schöpferische Ursache erfordern. Sie erkennt aber auch, dass die allgemeingültigen und zeitlosen Gesetze der Moral eine moralische Instanz erfordern. Auf diese Weise führt also die Vernunft zur Erkenntnis eines göttlichen Schöpfers und einer göttlichen Autorität.

Die Vernunft erkennt schließlich, dass der Mensch den Sinn des Lebens nur dann finden kann, wenn er freiwillig sein Wesen nach den Prinzipien entfaltet, die Gott dem Wesen des Menschen zugrunde gelegt hat. Der Mensch muss deshalb bereit sein, die Gesetze bzw. Gebote Gottes zu beachten und nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit, der Wahrheit, der Liebe usw. zu leben. Die Vernunft sagt dem Menschen schließlich, dass der höchste und letzte Sinn des Lebens im Streben nach dem Absoluten bzw. nach Gott besteht, nach der Einheit mit dem Absoluten bzw. die Gemeinschaft mit Gott.

Revolte der Wahrheit

Wer nicht kapieren will, dass es Wahrheit und allgemeingültige Prinzipien gibt, muss heute oft in schmerzlicher Weise erfahren, dass es sie offensichtlich doch gibt. Wir erleben derzeit in vielen Bereichen eine unheimliche Rückkehr, ja einen regelrechten Aufstand der Wahrheit, der Prinzipien und der Gesetze! Die zerstörte Natur, der kaputte Körper, die ausgebrannte Psyche, die chaotische Unmoral, die anarchische Gesellschaft, die zusammenkrachende Wirtschaft, die gespenstische Sinnlosigkeit usw. signalisieren uns in dramatischer Weise, dass es Prinzipien und Gesetze gibt, die man nicht ungestraft übertreten darf! Der autonome Mensch, der Jahrhunderte lang gegen die Wahrheit revoltiert hat, erlebt jetzt die Revolte der Wahrheit! Der autonome Mensch, der Jahrhunderte lang die Prinzipien und Gesetze der Welt und des Lebens missachtet hat, wird heute mit schmerzlicher Gewalt an die Existenz, an die Wirksamkeit und an die Gültigkeit dieser Prinzipien und Gesetze erinnert!

Die Revolte der Natur

Der autonome Mensch erlebt heute die Revolte der Natur. Seit Jahrzehnten hat er die Gesetze der Natur missachtet und mit Füßen getreten. Heute schlägt die Natur massiv zurück: Der künstliche Klimawandel führt zu Naturkatastrophen; die verseuchte Luft, das verseuchte Wasser und der verseuchte Boden gefährden die Lebensgrundlagen. Der Mensch heute erlebt schmerzhaft, dass die Natur Gesetze hat, die man nicht ungestraft übertreten kann!

Die Revolte des Körpers

Der autonome Mensch missachtet auch seit Jahrzehnten die Gesetze des Körpers. Dieser aber reagiert vehement: Künstliche Ernährung und künstliche Kleidung machen ihn krank, die künstliche Bauweise und die künstliche Umgebung machen ihn aggressiv, der Konsum von Nikotin, Alkohol und Drogen zerstören seine Gesundheit. Der heutige Mensch erlebt schmerzhaft, dass der Körper Gesetze hat, die man nicht ungestraft übertreten kann!

Die Revolte der Psyche

Der autonome Mensch trampelt seit Jahrzehnten auf der Psyche herum. Jetzt schlägt die Psyche Alarm: Sie hält den ständigen Stress nicht mehr aus, sie rebelliert gegen die unmäßige Arbeitsweise, sie fällt in ein Burn out. Die Psyche revanchiert sich für das ausgeflippte Nachtleben und signalisiert das totale K.o. Der heutige Mensch erlebt sehr schmerzhaft, dass die Psyche Gesetze hat, die man nicht ungestraft übertreten kann!

Die Revolte der Unmoral

Der autonome Mensch hat sich Jahrzehnte lang über moralische Prinzipien nur lustig gemacht. Inzwischen erhält er die saftige Quittung für sein unmoralisches Leben: Der Egoismus und die Ellbogen haben ihm nur Feindschaften gebracht. Die freie Liebe und der freie Sex führten zu Einsamkeit und Ungeborgenheit. Die Lüge und der Betrug machten ihn unglaubwürdig und verhasst. Der heutige Mensch erlebt sehr schmerzhaft, dass die Moral Gesetze hat, die man nicht ungestraft übertreten kann!

Die Revolte der Gesellschaft

Der autonome Mensch hat auch Jahrzehnte lang gegen die elementarsten Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens verstoßen. Er dachte nie an das Allgemeinwohl, er kannte keine Solidarität, er wollte keine Kinder... Jetzt bekommt er beinhart die Folgen zu spüren: er lebt in einer Gesellschaft von vereinsamten Singles, von kontaktlosen Nachbarn, in Junioren-Altersheimen. Der heutige Mensch erlebt sehr schmerzhaft, dass die Gesellschaft Gesetze hat, die man nicht ungestraft übertreten kann!

Die Revolte der Wirtschaft

Der autonome Mensch hat dann auch Jahrzehnte lang die fundamentalen Prinzipien der Wirtschaft missachtet. Die Wirtschaft dachte in einseitiger Weise an den Profit, das Wachstum, die Rationalisierung, die Börse usw. Und nun kracht die ganze Wirtschaft wie ein Kartenhaus zusammen! Plötzlich gibt es keine Gewinne, keine Arbeit, kein Wachstum; dafür gibt es Millionen Arbeitslose und Milliardenverluste bei Banken und Börsen. Der heutige Mensch erlebt sehr schmerzhaft, dass die Wirtschaft Gesetze hat, die man nicht ungestraft übertreten kann!

Die Revolte der Sinnlosigkeit

Der autonome Mensch hat schließlich Jahrzehnte lang die Sinnfrage ausgeklammert. Er hat drauflos gelebt und im Konsum und Spaß seinen Lebensinhalt gesehen. Heute fällt ihm die Sinnlosigkeit seines idiotischen Lebensstils auf den Kopf. Was soll der fade Genuss, die Kilometerfresserei nach Nirgendwo, das billige „Hallo!“ zu Jedermann? Was soll die Fitness und Wellness, die Esoterik und der Okkultismus? War das alles? Der heutige Mensch erlebt sehr schmerzhaft, dass es eine Metaphysik braucht, die zum eigentlichen Sinn und Ziel des Lebens führt; er begreift und erkennt endlich, dass es das Absolute bzw. Gott als höchsten Sinn und höchstes Ziel des Menschen braucht.

Stunde der Wahrheit

Wir haben Jahrzehnte lang versucht, die Erkenntnis der Wahrheit und der Prinzipien zu leugnen. Dabei ging es letztlich nicht um die Frage, ob man die Wahrheit und die Prinzipien erkennen kann. In Wirklichkeit haben uns die Wahrheit und die Prinzipien gestört, weil sie uns nicht unser autonomes Leben führen ließen. Wir wollten einfach selbst das „Maß der Dinge“ sein! Wir wollten selbst unser eigener Herrgott sein!

Doch nun erleben wir eine unheimliche Rückkehr der Wahrheit! Der „Mensch in der Revolte“ (Albert Camus) erlebt seinerseits die Revolte der Wahrheit, die sich gegen ihn richtet und ihn mit ihrem unerbittlichen Menetekel richtet! Die Revolte der Wahrheit ist so deutlich, dass jede philosophische Diskussion über die Möglichkeit der Erkenntnis von Wahrheit und Prinzipien hinfällig ist. Gott verleiht heute der Wahrheit eine so deutliche und schmerzliche Sprache, dass selbst der letzte Skeptiker vernehmen und erkennen kann, dass es die Wahrheit und allgemeingültige Prinzipien gibt. „Wer Ohren hat, der höre!“ (Mt 13,9)

DDDr. Peter Egger unterrichtet am bischöflichen Gymnasium „Vinzentinum“ in Brixen.

Foto Peter Egger: © KIRCHE IN NOT


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