2. Juli 2012 in Chronik
Kontroverse Beschriftung an Holocaust-Gedenktstätte wurde ausgetauscht. Bislang war es ein Ärgernis an einem doch so würdigen Ort. Von Michael Hesemann
Jerusalem (kath.net) Bislang war es ein Ärgernis an einem doch so würdigen Ort. In einem Raum der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem bei Jerusalem, inmitten der erschütternden Belege für das vielleicht größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte, und der bewegenden Zeugnisse heldenhafter Zeitgenossen, die ihr Leben riskierten, um Unschuldige zu retten, hing eine Anklage, die wie eine schallende Ohrfeige für die gesamte katholische Kirche klang. Ausgerechnet der Papst des Zweiten Weltkriegs, Pius XII., habe es sträflich versäumt, sich für die sechs Millionen Opfer der Schoah einzusetzen und ihre Mörder anzuklagen. Wörtlich hieß es auf der Schautafel zum Thema Papst Pius XII. und der Holocaust: Die Reaktion Pius XII. auf den Mord an den Juden während des Holocaust ist Thema von Kontroversen. 1933, als er Staatssekretär des Vatikans war, bemühte er sich um ein Konkordat mit dem deutschen Regime, um die Rechte der Kirche in Deutschland zu sichern, selbst wenn dies eine Anerkennung des rassistischen Nazi-Regimes bedeutete. Als er 1939 zum Papst gewählt wurde, legte er einen Brief gegen Rassismus und Antisemitismus zu den Akten, den sein Vorgänger vorbereitet hatte. Selbst als Berichte über Morde an Juden den Vatikan erreichten, protestierte der Papst weder mündlich noch schriftlich. Im Dezember 1942 weigerte er sich, die Erklärung der Alliierten zu unterzeichnen, in der die Vernichtung der Juden verurteilt wurde. Als Juden von Rom nach Auschwitz deportiert wurden, tat der Papst nichts, um dies zu verhindern. Der Papst blieb den ganzen Krieg über seiner Neutralität treu, mit Ausnahme von Appellen an die Regierenden in Ungarn und der Slowakei gegen Ende des Krieges. Sein Schweigen und das Fehlen jeder Richtlinien überließ es Kirchenmännern in ganz Europa, selbst zu entscheiden, wie sie handeln sollten.
Natürlich hatte der Text wenig mit der Realität zu tun. Nicht der damalige Kardinalstaatssekretär Eugenio Pacelli bemühte sich um ein Konkordat mit Hitler-Deutschland, es wurde dem Vatikan von den Nazis förmlich aufgedrängt; die Alternative wäre die Zerschlagung der katholischen Kirche im Deutschen Reich gewesen. Dass ein solcher Vertrag, der nur die Rechte der Kirche sicherte, keine Anerkennung des Regimes bedeutete, stellte schon im Juli 1933 das Vatikanorgan Osservatore Romano ausdrücklich fest. Es war auch kein Präzedenzfall, denn seit März 1933 verhandelte auch die Zionistische Bewegung mit den Nazis, um schließlich im August 1933 das Haavara-Abkommen zu unterzeichnen.
Natürlich kommen Entwürfe für Enzykliken bei Ableben eines Papstes zu den Akten, doch Pius XII. hat die Grundgedanken seines Vorgängers in seine erste Enzyklika Summi Pontificatus mit aufgenommen. Er hat seinen Nuntius zu Hitler geschickt, in der Hoffnung, den Juden helfen zu können, doch leider ohne Erfolg. Stattdessen gelang es ihm, in Hitlers Vasallenstaaten Vichy-Frankreich, der Slowakei und Ungarn die Deportationen zu stoppen oder zu verschieben, während Rumänien auf sein Drängen ganz auf die Auslieferung von Juden an die Deutschen verzichtete. Das alles geschah nicht gegen Kriegsende, sondern seit Anfang 1942. Zwar hat er am 17.12.1942 nicht die Erklärung der Alliierten unterzeichnet, da er damit auch zum Kriegsgegner Italiens geworden wäre, aber nur eine Woche später, in seiner Weihnachtsansprache, die Angaben der Westmächte über die Deportationen und Ermordungen ausdrücklich bestätigt. Als von Himmler Befehl erteilt wurde, die 8000 Juden Roms zu deportieren, intervenierte der Papst sofort und es gelang ihm, noch am gleichen Tag die Verhaftungen zu stoppen. So wurden 7000 von ihnen gerettet und fanden in den nächsten neun Monaten im Vatikan, in 155 Klöstern und der päpstlichen Sommerresidenz Castel Gandolfo einen sicheren Unterschlupf. Seit 1939 hatten die päpstlichen Nuntien die Anweisung, alles Menschenmögliche zur Rettung der Juden zu tun und Visa für sie zu besorgen, während der Vatikan für Tausende jüdische Flüchtlinge die Schifffahrt nach Übersee finanzierte. Die Korrespondenz mit den Bischöfen in Deutschland, Österreich und den besetzten Ländern belegt sehr klare Richtlinien und die Bereitstellung großer Geldsummen, um möglichst vielen Juden die Flucht zu ermöglichen.
Immer wieder wurde Yad Vashem auf die vielen Fehler, historischen Irrtümer und bewussten Falschinformationen in seinem Text hingewiesen. Längst forderten namhafte Historiker, darunter der britische Holocaust-Experte Sir Martin Gilbert, die Entfernung der Tafel.
Am aktivsten zeigte sich der New Yorker Jude Gary Krupp, Gründer der Pave the Way Foundation, der nicht nur in Dutzenden Briefen an Yad Vashem den Text als Schande bezeichnete, sondern im Gegenzug die Erhebung Pius XII. zum Gerechten unter den Völkern forderte also zum Retter von Juden während der Schoah. Längst hatte sich Krupp auf Historikersymposien in Rom und Paris sowie durch Dutzende Interviews mit Zeitzeugen davon überzeugt, dass Pius XII. nicht nur ein erklärter Gegner des NS-Regimes und seiner Ideologie war, sondern mehr Juden vor den Nazis rettete als irgend ein anderer, gleich ob Staatsmann oder Individuum. Auch der israelische Diplomat Pinchas Lapide kam nach gründlichem Studium der Archive von Yad Vashem (!) zu der Ansicht, dass um die 850.000 Juden ihr Überleben einer der diversen Aktionen der katholischen Kirche verdanken, die entweder von Pius XII. persönlich initiiert wurden oder auf seine Anweisung zurückgingen, in erster Linie Menschenleben zu retten, wie es einer seiner Nuntien, Angelo Roncalli (der spätere Papst Johannes XXIII.), ausdrücklich betonte.
So kam es wegen dieses Textes bereits zu einem diplomatischen Zwischenfall. Im April 2007 weigerte sich der Päpstliche Nuntius in Israel, Erzbischof Antonio Franco, an einer Zeremonie am Holocaust-Gedenktag teilzunehmen, wenn Yad Vashem nicht zuvor die kompromittierende Tafel entfernen lassen würde. Die Leitung der Gedenkstätte erwiderte, das würde erst dann geschehen, wenn der Vatikan seine Archive für Historiker öffne und weitere Nachforschungen ergeben würden, dass der Heilige Stuhl tatsächlich während des Krieges für die Juden aktiv wurde. Schließlich nahm Msgr. Franco doch an der Zeremonie teil. Nicht einmal, als Papst Benedikt XVI. im Mai 2009 Yad Vashem besuchte, tat sich etwas . So ist die Textänderung ausgerechnet jetzt ein Mysterium aber auch ein Indiz dafür, dass die Pius-Gegner vor der überwältigenden Fülle an Beweisen und Indizien, die Pius XII. in einem ganz anderen Licht zeigen, allmählich in die Knie gehen.
Glauben wir einem Bericht der israelischen Tageszeitung Haaretz vom 1. Juli 2012, so bemüht sich der neue Text, jetzt mit Der Vatikan und der Holocaust überschrieben, zumindest scheinbar um Neutralität. Er merkt an, dass es Pius XII. Vorgänger, nämlich Papst Pius XI. war, der das Konkordat mit den Nazis unterzeichnete. Er wiederholt zwar (völlig zurecht), dass Pius XII. die alliierte Erklärung nicht unterzeichnete. Doch er erwähnt auch, dass der Papst ein paar Tage später, während seiner Weihnachtsansprache, die im Radio übertragen wurde, an jene Hunderttausende erinnerte, die, ohne eigene Schuld, manchmal nur aufgrund ihrer Nationalität oder Rasse, dem Tod oder fortschreitender Vernichtung preisgegeben sind - auch wenn er dabei die Juden nicht ausdrücklich erwähnt. Weiter soll es in dem neuen Text heißen: Als Juden aus Rom nach Auschwitz deportiert wurden, protestierte der Papst nicht öffentlich, was zutreffend wäre. Schließlich warnte der deutsche Vatikan-Gesandte Ernst von Weizsäcker Kardinalstaatssekretär Gasparro ausdrücklich vor den Folgen eines öffentlichen Protestes; Hitler hatte für diesen Fall die Verhaftung oder Ermordung des Papstes angeordnet, was jede weitere Hilfe für die Juden unmöglich gemacht hätte.
Offensichtlich bemüht sich die neue Aufschrift um Darstellung beider Positionen, wenn es schließlich heißt: Die Kritiker des Papstes bezeichnen seine Entscheidung, den Mord an den Juden durch Nazideutschland nicht zu verurteilen, als moralisches Versagen: der Mangel an klaren Anweisungen ließ Vielen Raum zur Zusammenarbeit mit Nazi-Deutschland, weil sie in dem Glauben blieben, damit nicht im Widerspruch zu den moralischen Lehren der Kirche zu stehen. Er überließ die Initiative, Juden zu retten, einzelnen Klerikern und Laien. Seine Verteidiger dagegen betonen, dass diese Neutralität schärfere Maßnahmen gegen den Vatikan und die Einrichtungen der Kirche in ganz Europa verhinderten, was eine beachtliche Anzahl geheimer Rettungsaktivitäten ermöglichte, die auf verschiedenen Ebenen der Kirche stattfanden. Weiter verweisen sie auf Beispiele, in denen der Papst Aktivitäten zur Rettung von Juden unterstützte. Bis alles relevante Material für Historiker zugänglich ist, wird dieses Thema für weitere Nachforschungen offen bleiben.
Die Leitung von Yad Vashem erklärte auf Anfrage von Haaretz, der neue Text sei nicht etwa auf Druck des Vatikans geändert worden. Da Papst Benedikt XVI. längst die Mitarbeiter des Vatikanischen Geheimarchivs beauftragt hat, die Akten zum Pontifikat Pius XII. Historikern zugänglich zu machen, ist es ohnehin nur eine Frage der Zeit, wann weitere Nachforschungen möglich sind. Zuvor aber müssen einige Millionen Seiten Papier katalogisiert und digitalisiert werden; eine extrem zeitintensive Aufgabe für die wenigen Mitarbeiter der päpstlichen Archive. So wird es wohl bis 2014 dauern, bis die letzten Detailfragen geklärt sind.
Dass sich daraus jedoch ein anderes Bild ergibt, als das derzeit Bekannte, ist nicht zu erwarten. Denn längst kann kein Zweifel mehr daran bestehen, dass Pius XII. alles ihm Mögliche tat, um Juden zu retten. Er schwieg nur, weil er Hitlers dämonische Pläne nicht hätte verhindern, aber alle Rettungsmaßnahmen durch ein einziges, unachtsames Wort gefährden konnte. So zeigte sich sein Heldenmut in Taten, nicht in Worten.
Buchtipp:
Michael Hesemann
Der Papst, der Hitler trotzte -
Die Wahrheit über Pius XII.
Sankt Ulrich Verlag, gebunden, 256 Seiten,
ISBN: 978-3867440646
EUR 20,50
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Michael Hesemann im Interview über "Pius XII.: Ein Papst im Angesicht des Bösen. Teil 1/2
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