Zollitsch: Neuevangelisierung angesichts der Entkirchlichung

30. August 2012 in Deutschland


DBK-Vorsitzender Erzbischof Robert Zollitsch beim Renovabis-Kongress in Freising: Glaube findet heute eher im privaten Umfeld und oft zu wenig im öffentlichen Raum statt. Wie können wir auch kirchenferne Menschen erreichen?


Freising (kath.net/dbk)
kath.net dokumentiert das Statement des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch, zur Pressekonferenz anlässlich des 16. Internationalen Renovabis-Kongresses „Heute den Glauben entdecken – Neue Wege der Evangelisierung in Europa“ in Freising am 30. August 2012

Es ist mir eine Freude und Ehre, heute vor den Teilnehmern des Renovabis-Kongresses sprechen zu können. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, meine Anerkennung für die herausragende Arbeit von Renovabis erneut zum Ausdruck zu bringen.

Der Renovabis-Kongress greift eine höchst aktuelle Debatte auf. Letztes Jahr gründete Papst Benedikt XVI. einen neuen Päpstlichen Rat, als dessen Mitglied auch ich mich intensiv der Neuevangelisierung Europas widme. Die 13. Generalversammlung der Bischofssynode, die im Oktober in Rom stattfindet, hat sich dieses Thema ebenfalls zur Hauptaufgabe gemacht. Das vom Heiligen Vater ausgerufene „Jahr des Glaubens“ beginnt am 11. Oktober 2012, dem 50. Jahrestag der Eröffnung des II. Vatikanischen Konzils, und hat die Neuentdeckung und Vertiefung des christlichen Glaubens und damit des Evangeliums zum Ziel.

Seit Jahrhunderten gestaltet das Christentum Kultur in Europa mit und beeinflusst den Alltag. Das jüdisch-christliche Erbe durchdringt das gesamte Leben – von Gesellschaft und Politik über Wirtschaft und soziale Gerechtigkeit bis hin zu Familie und Bildung. Trotz aller Unterschiede zwischen katholischem, protestantischem und orthodoxem Europa ist es im Rahmen zunehmender Entkirchlichung von großer Bedeutung, sich auf die gemeinsamen Wurzeln zu besinnen und aktuellen Herausforderungen gemeinsam zu begegnen.

Bewusst titelt die heutige Veranstaltung mit „Neuen Wegen der Evangelisierung in Europa“ in der Mehrzahl, da es in den Ortskirchen nicht nur den einen Weg gibt, sondern unterschiedliche sozio-kulturelle und gesellschaftlich-politische Rahmenbedingungen und damit einhergehend eine große Vielfalt von Erfahrungen und Ansätzen evangelisierender und missionarischer Pastoral. Glaube findet heute zudem eher im privaten Umfeld und oft zu wenig im öffentlichen Raum statt. Wie können wir auch kirchenferne Menschen in einem säkularen Zeitalter erreichen? Die Kirche stellt sich diesen Herausforderungen und arbeitet mit Hochdruck an der Gestaltung neuer Wege der Evangelisierung. Dazu dient auch der von uns deutschen Bischöfen vor zwei Jahren begonnene Gesprächsprozess. In zwei Wochen werden wir zu einer zweiten großen Dialogveranstaltung in Hannover zusammenkommen, um den eingeschlagenen Weg fortzusetzen.

Bereits die Apostelgeschichte bezeichnete die frühen Christen als Anhänger eines „neuen Weges“, die sich zu Christus als „Weg, Wahrheit und Leben“ bekannten. Dies stand mit ihrem Handeln in Einklang. Der „neue Weg“ war eine Zusammenfassung der religiösen und sittlichen Lebensart. Auch heute gilt es, selbstkritisch zu prüfen, ob das pastorale und missionarische Handeln diesem Weg entspricht und wir den Europäern durch unser Zeugnis und Handeln eine Begegnung mit Christus ermöglichen.

Zusammen mit dem deutschen Hilfswerk Renovabis unterstützen wir deutschen Bischöfe die Ortskirchen Mittel- und Osteuropas bei der Glaubensweitergabe – nicht indem wir Ratschläge vorgeben, sondern im direkten Dialog auf Augenhöhe. Umgekehrt ist uns die Vermittlung der Erfahrungen in Deutschland wichtig, da wir Weltkirche zu jeder Zeit als globale Lern-, Solidar- und Gebetsgemeinschaft verstehen. Papst Benedikt XVI. sagte ermutigend mit dem Motu proprio „Porta fidei“, mit dem er das „Jahr des Glaubens“ ausrief, die Tür des Glaubens, die in das Leben der Gemeinschaft mit Gott führe, stehe immer offen.

Erfolgreiche Beispiele – wie die während des Weltjugendtages 2005 in Köln entstandene Nightfever-Initiative oder Angebote der City-Pastoral und Urlauberseelsorge, Theologische Kurse, Glaubenskurse, Wege erwachsenen Glaubens – öffnen die Tür des Glaubens ebenso wie die Filmbeiträge der Stadtmission in Polen und das Glaubensmobil des Bonifatiuswerks der deutschen Katholiken, die später gezeigt werden. Es reicht im diakonischen und caritativen Dienst nicht aus, über Gutes zu sprechen, sondern Kirche wird an ihrem Handeln gemessen – so wie auch der Apostel Petrus vom rechten Christentum auf dem Weg der Wahrheit sprach. Es geht heute darum, den Menschen die Liebe Christi einladend und glaubwürdig zugänglich und erfahrbar zu machen, die sie oft zunächst in der sozialen Dimension erleben. Hierfür benötigen wir Christen ein Gespür für die spirituellen Sehnsüchte und die sozialen Realitäten.

Das Meistern der Herausforderungen der Globalisierung und Säkularisierung sowie die Neuevangelisierung gelingen nur als hörende, dienende und pilgernde Kirche, die die Angst vor Veränderungen in Europa überwindet.


kath.net dokumentiert dieAnsprache des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch, zur Eröffnung des 16. Internationalen Renovabis-Kongresses „Heute den Glauben entdecken – Neue Wege der Evangelisierung in Europa“ in Freising am 30. August 2012

Von Herzen danke ich Ihnen, lieber Pater Dartmann, und Ihren Mitarbeitern, dass Sie Vertreter der Kirche aus Ost- und Westeuropa und eine Reihe von Experten eingeladen haben, im Rahmen des 16. Internationalen Renovabis- Kongresses über die Evangelisierung in Europa nachzudenken. Im Namen der Deutschen Bischofskonferenz heiße ich Sie alle herzlich willkommen. Und ich danke allen, die diese Einladung zum Gespräch angenommen haben. Denn die Ortskirchen in Europa stehen gemeinsam vor Herausforderungen, und es ist gute welt-kirchliche Praxis, an gemeinsamen Herausforderungen auch gemeinsam zu arbeiten.

Die Neuevangelisierung Europas ist ein Kernanliegen des Pontifikats von Papst Benedikt XVI. Der Heilige Vater hat deshalb im Jahr 2011 einen neuen Päpstlichen Rat gegründet, der die Aufgabe hat, sich intensiv mit dieser Neuevangelisierung zu befassen. Gerne habe ich die Einladung angenommen, dort mitzuarbeiten. Auch die 13. Generalversammlung der Bischofssynode, die im kommenden Oktober in Rom stattfindet, wird sich diesem Thema widmen. Und gewiss darf ich an dieser Stelle auch das von Papst Benedikt ausgerufene Jahr des Glaubens ansprechen, das am 11. Oktober 2012, dem 50. Jahrestag der Eröffnung des II. Vatikanischen Konzils, beginnt. Der Renovabis- Kongress greift auf diesem Kongress eine der großen kirchlichen Debatten unserer Zeit auf. Er bezeugt damit, dass der von Papst Benedikt XVI. gegebene Impuls erste Früchte trägt.

Der Titel des Kongresses spricht von den „Wegen der Evangelisierung“. Zu Recht wird hier der Plural verwendet und damit zum Ausdruck gebracht: Es gibt nicht den einen Weg der Neuevangelisierung in Europa, den es bei der Glaubensverbreitung im Übrigen wohl auch nie gegeben hat. Stattdessen existieren eine Vielzahl von Erfahrungen und Wegen evangelisierender und missionarischer Pastoral in den Ortskirchen Europas – eine Vielzahl, die mit den kulturellen Traditionen, aber auch mit den verschiedenartigen sozio-kulturellen und gesellschaftlich-politischen Rahmenbedingungen, mit denen die Kirche zu tun hat, konfrontiert ist.

Gleichwohl dürfen wir dankbar feststellen, dass es bei aller Vielgestaltigkeit eine gemeinsame christliche Prägung Europas gibt. Das Christentum hat Kultur und Kulturen Europas über Jahrhunderte hinweg wirkmächtig geformt. Sein Einfluss auf unser tägliches Leben ist in vielfältiger Weise bis heute prägend. Das jüdisch-christliche Erbe durchdringt unser Verständnis von Gesellschaft und Politik, von Wirtschaft und sozialer Gerechtigkeit, von Ehe, Familie und Bildung. Der weithin anerkannte deutsche Historiker Heinrich August Winkler, der seine Lehrtätigkeit in Freiburg begann und nach der Wende dem Ruf an die Humboldt-Universität in Berlin folgte, beschreibt dies mit den Worten: „Die stärkste dieser gemeinsamen Prägungen ist religiöser Natur: die christliche. Im Zuge der fortschreitenden Entkirchlichung und Entchristlichung Europas ist eine solche Feststellung alles andere als selbstverständlich. Erklärten Laizisten könnte es sogar als ein Versuch erscheinen, die Säkularisierung in Frage zu stellen und ihr Einhalt zu gebieten. In Wirklichkeit ist es gerade der spezifische, ja weltgeschichtlich einzigartige Charakter des westlichen Säkularisierungsprozesses, der uns veranlassen sollte, den religiösen Bedingungen dieser Entwicklung nachzugehen.“1(Heinrich August Winkler, Geschichte des Westens. Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert, München 2009, S. 19.)

Winkler spricht hier ausdrücklich nur vom westlichen Europa und kulturell verwandten Weltregionen, die in der Tradition des weströmischen Reiches stehen. Aber so sehr Differenzierungen zwischen diesem westlichen – d. h. katholischen und protestantischen, Europa und dem Europa der orthodoxen Tradition sinnvoll sind – so gilt doch: Es ist das ganze Europa, das aus dem christlichen Erbe lebt. Und Europa als Ganzes wird auch – wenngleich in unterschiedlicher Weise – durch die Herausforderung der Säkularisierung bestimmt.

Erlauben sie mir daher, einige Überlegungen zum Begriff der Säkularisierung, der nicht zuletzt in den Lineamenta und im Instrumentum Laboris der kommenden Bischofssynode zur Beschreibung der gegenwärtigen Situation unserer Gesellschaften verwendet wird. Säkularisierung ist aus christlicher Sicht kein rein negatives Phänomen. Denn die Säkularisierungsprozesse in Europa haben zweifellos größere Freiheitspotentiale in unseren Gesellschaften erschlossen. Und die Trennung von Kirche und Staat, wenn sie geordnet und nicht feindselig erfolgt, gehört zu den Errungenschaften der europäischen Geschichte. Mehr noch – und darauf weist das Zitat von Heinrich August Winkler hin: Das Christentum und der jüdisch-christliche Monotheismus tragen in sich selbst die Tendenz zu einer recht verstandenen Säkularisierung. Das vehemente Bekenntnis Israels zu Jahwe, dem gleichsam namenlosen Einen Gott, dessen Verehrung in einem mehr oder minder leeren Tempel erfolgte, war immer zugleich ein Bekenntnis zur Göttlichkeit Gottes und damit zur Weltlichkeit der Welt. Israel und seine Propheten stellten sich stets gegen die Vergötterung innerweltlicher Wirklichkeiten. Und in der Linie dieses religionsgeschichtlichen Prozesses hat das Christentum das mythische Denken zurückgewiesen und sich auf die Seite des Logos gestellt; ja, das Bekenntnis des Christentums ist das Bekenntnis zum inkarnierten Logos. Kurz: Das Christentum selbst hat wesentliche Denkvoraussetzungen bereitgestellt, die die Säkularisierung der Welt ermöglichten und förderten.

Es gehört nun allerdings zur Signatur des heutigen Europas, dass die Säkularisierung vielerorts einhergeht mit einer fortschreitenden Entkirchlichung und Entchristlichung. Der Glaube wird abgedrängt ins rein Private und damit mehr und mehr aus dem Raum des öffentlichen Diskurses ausgeschlossen. Für die Kirche stellt sich somit die Frage, wie sie anschlussfähig wird an eine Epoche, die wesentlich auch durch diese Art der Säkularisierung bestimmt wird. Wie können wir dialogfähig und sprachfähig werden gegenüber gesellschaftlichen Gruppen und Milieus, die der Kirche entfremdet sind? Wie sind die neuen Wege der Evangelisierung zu gestalten?

Ich möchte hier eine biblisch orientierte Antwort versuchen, die meines Erachtens zwei wesentliche Kennzeichen christlicher Identität hervortreten lässt. Die Apostelgeschichte spricht mehrfach von den frühen Christen als Anhängern des „neuen Weges“. Als solche will sie Saulus in Damaskus verfolgen.22 (Vgl. Apg 9,2; ferner 19,9.23; 22,4; 24, 14.22.) Dieser „neue Weg“ ist in der Apostelgeschichte des Evangelisten Lukas der zusammenfassende Begriff für die gesamte religiöse und sittliche Lebensart der Christen. Neu ist an diesem Weg vor allem das religiöse Bekenntnis zu Christus als dem Messias. Neu und anders ist zudem das sittliche Ethos der neuen Weg-Gemeinschaft, das uns in der Apostelgeschichte mehrfach anrührend geschildert wird. (Vgl. dazu besonders Apg 4,23-37 oder ferner 11, 27-30.) Die Anhänger des neuen Weges zeichnen sich dadurch aus, dass sie Christus als den „Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6) erkannt haben und dies auch durch ihr Handeln bezeugen. Das religiöse Bekenntnis und die sittliche Tat passen bei ihnen zusammen. Das macht ihr Zeugnis christusförmig.

Wenn wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts nach den geeigneten Wegen der Neuevangelisierung in Europa fragen, dann müssen wir uns zunächst selbstkritisch prüfen, ob auch wir in unserem pastoralen und missionarischen Handeln praktisch Anhänger des „neuen Weges“ sind und dementsprechend handeln. Wir müssen fragen: Wie christusförmig sind unsere Wege der Evangelisierung? Eine missionarische Pastoral in Europa muss sich daran messen lassen, ob und wie sie Räume für Christus eröffnet. Es gilt Ausschau danach zu halten, auf welche Weise den Menschen in Europa durch unser Handeln die Begegnung mit Christus selbst ermöglicht wird.

Es gibt bereits viele Beispiele einer solchen missionarischen Präsenz in Deutschland. Ich erinnere an die „Glaubenskurse“ in ihren vielfältigen Formen. Ich erwähne die im Zuge des XX. Weltjugendtages 2005 in Köln entstandene Nightfever-Initiative, die insbesondere junge Menschen anspricht. Sie verbindet persönliches Zeugnis, Katechese und liturgische Elemente miteinander. Es gibt zahlreiche Gruppen, die sich zum „Bibel teilen“ und Austausch im Glauben treffen. Daneben sind auch zahlreiche sogenannte niedrigschwellige Angebote im Bereich der City-Pastoral und der Urlauberseelsorge zu nennen, die oft nur durch geöffnete Kirchen und die Möglichkeit zum Gespräch versuchen, „die ‚Tür des Glaubens’ (vgl. Apg 14,27) zu öffnen, die in die Gemeinschaft mit Gott führt“ (Apostolisches Schreiben in Form eines Motu propriu Porta fidei von Papst Benedikt XVI., mit dem das Jahr des Glaubens ausgerufen wird; hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2012 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls; 191), S. 3.)

Eine der zentralen Fragen der Neuevangelisierung in einer weithin säkularen und religiös multioptionalen Welt ist: Wie wird die Botschaft des Evangeliums, wie wird der Glaube zur Erfahrung? Papst Benedikt selbst weist nachdrücklich darauf hin: „Um das Wort des Evangeliums fruchtbar zu verkünden, braucht es zuallererst eine tiefgehende Gotteserfahrung.“ (Papst Benedikt XVI., Apostolisches Schreiben in Form eines Motu Proprio Ubicumque Et Semper vom 21.9.2010.)

Das Evangelium muss verkündet, der christliche Glaube „vorgestellt“ und gelehrt werden. Wenn der Glaube aber nicht zur persönlichen Erfahrung wird, wird er nicht lebendig und prägt nicht das Leben. Es geht nicht nur darum zu begreifen, sondern ergriffen zu werden. Den Glauben zu teilen, andere an der eigenen Glaubenserfahrung teilhaben, sie im eigenen Glauben mitglauben zu lassen, sind die entscheidenden Wege der Evangelisierung heute in einer säkularen Welt. Darüber sich auszutauschen, lohnt sich. Beschenken wir einander mit unseren Glaubenserfahrungen und unserem Glaubens-Zeugnis! Ich bin überzeugt, wir können viel voneinander lernen.

Es steht außer Frage, dass zusammen mit dem Glaubenszeugnis das diakonische Zeugnis von Anfang an wesentlicher Bestandteil des „neuen Weges“ war, von dem die Apostelgeschichte berichtet. Auch hier gilt es, heute Ausschau danach zu halten, welche Wege der sozialpastoralen Arbeit am besten geeignet sind, den Menschen die Liebe Christi erfahrbar zu machen. Wo ermöglicht der caritative Dienst der Kirche die Begegnung mit Christus? Das religiöse Bekenntnis und das sittliche Tun sind dabei untrennbar verbunden, wenn wir uns auf dem „Weg der Wahrheit“ bewegen wollen, den uns auch der Apostel Petrus weist, wenn er vom rechten Christentum spricht. (Vgl. 2 Petr 2,2.)

Die Deutsche Bischofskonferenz wird sich – zusammen mit vielen engagierten katholischen Christen – in zwei Wochen deshalb in Hannover im Rahmen des überdiözesanen Gesprächsprozesses über die Zukunft der Kirche in Deutschland der Frage der „Zivilisation der Liebe“ stellen und sich damit gerade auch den Fragen der Diakonia widmen. Wie der gesamte Gesprächsprozess soll auch die Begegnung in Hannover eine ernsthafte Selbstreflexion fördern. Sie ist nicht primär den Sorgen und Herausforderungen unserer Kirche geschuldet, sondern entspringt vielmehr der Überzeugung, „dass es die Kirche immer nötig hat, selbst evangelisiert zu werden, wenn sie ihre Lebendigkeit, ihren Schwung und ihre Stärke bewahren will, um das Evangelium zu verkünden.“ (Apostolisches Schreiben Evangelii nuntiandi Seiner Heiligkeit Papst Paul VI. an den Episkopat, den Klerus und alle Gläubigen der Katholischen Kirche über Evangelisierung in der Welt von heute, Nr. 15; hrsg. Vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz. Neuauflage Bonn 2012 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls; 2), S. 17-20.)

In diesen Worten der Enzyklika Evangelii nuntiandi klingt deutlich die Dynamik an, die das Evangelium frei setzt für einen neuen Weg. Ich erhoffe mir sehr, dass der gesamte Gesprächsprozess und nicht zuletzt der Austausch über den diakonischen Auftrag der Kirche eine solche Dynamik erfahrbar macht.

Denn die soziale Dimension des christlichen Zeugnisses ist oft das Erste, was Menschen von Christen erfahren. Für Viele macht sich an unserem Tun fest, ob wir tatsächlich Anhänger eines „neuen Weges“ sind, der sie zu Christus führt. Gerade auch in zunehmend säkularisierten gesellschaftlichen Kontexten wird man die Christen – wie schon in der Zeit der Apostel – zunächst an ihren Taten erkennen.

Auch die beiden Filmbeiträge, die wir gerade sehen konnten, sind ermutigende Beispiele dafür, dass es der Kirche auf unkonventionelle Weise gelingen kann, dialogfähig zu sein. Die Stadtmission in Polen und das Glaubensmobil des Bonifatiuswerkes in Deutschland versuchen, Wege zu finden, Menschen neu auf den Glauben hin anzusprechen. Diese Aktionen zeigen, dass die Kirche in dem Maße die Menschen unserer Epoche verstehbarer anspricht, je mehr wir eine Sensibilität für die spirituellen Sehnsüchte und die sozialen Realitäten entwickeln, die heutiges Leben prägen. Eine Neuevangelisierung wird umso eher und umso mehr gelingen, je mehr wir eine hörende, dienende und pilgernde Kirche sind.

Diese Kirche begibt sich an Orte, an denen die Menschen nach Sinn und Heil und oft verborgen nach Gott suchen, und öffnet dort den „Weg der Wahrheit“ (2 Petr 2,2). Um es mit einem Wort von Teilhard de Chardin zu umschreiben: Neuevangelisierung lebt aus der „Erfahrung, dass Gott sich überall verwirklicht in uns und um uns.“(Zitiert nach Adolf Haas, Teilhard de Chardin-Lexikon, Freiburg i. Br. 1971, Bd. 1, S. 370) Neuevangelisierung macht frei von Angst vor den Veränderungen in Europa und stellt sich ihnen, denn auch in ihnen lässt Gott sich finden.

Es gehört zu den genuinen Aufgaben von Renovabis, bei der Weitergabe des Glaubens in Mittel- und Osteuropa mitzuwirken. Es kann einem deutschen Hilfswerk gewiss nicht darum gehen, unsere Nachbarkirchen in Europa mit Ratschlägen zu überrollen. Mit unserem Werk Renovabis suchen wir deutschen Bischöfe den Dialog mit den Ortskirchen im östlichen Europa. Und wir wollen, wo gewünscht, Stütze und Hilfe sein, wenn sich die Kirchen in Ost- und Mitteleuropa auf den Weg machen, die Evangelisierung voranzubringen. Renovabis hat dabei zugleich den Auftrag, die Erfahrungen der Kirchen in Ost- und Mitteleuropa der Kirche in Deutschland zu vermitteln. Dies entspricht dem in unserem Wort „Allen Völkern Sein Heil“ festgehaltenen Verständnis der Weltkirche als einer globalen Lern-, Solidar- und Gebetsgemeinschaft. Gerade als Lerngemeinschaft im Austausch der Erfahrungen und Gaben wird die Kirche in Europa und weltweit den Herausforderungen von Globalisierung und Säkularisierung angemessen begegnen können – als eine Kirche, in der wir aufeinander hören, als eine Kirche, die es in den unterschiedlichen Prozessen unserer Gesellschaften vermag, den „neuen Weg“ glaubwürdig und einladend zu gehen. Damit – wie der Heilige Vater es ausgedrückt hat – auch die Menschen in Europa immer mehr erfahren können: „Die ‚Tür des Glaubens’ (vgl. Apg 14,27), die in das Leben der Gemeinschaft mit Gott führt …, steht uns immer offen.“(Apostolisches Schreiben in Form eines Motu propriu Porta fidei von Papst Benedikt XVI., mit dem das Jahr des Glaubens ausgerufen wird; hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2012 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls; 191), S. 3.).

Foto Erzbischof Robert Zollitsch: (c) Erzdiözese Freiburg


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