Die Gretchen-Frage

11. Oktober 2012 in Weltkirche


Die katholische Kirche wird sich nicht nur auf das Zweite Vatikanische Konzil besinnen müssen, sondern auf alle Konzilien. Denn nur in der Gesamtheit sind die Dogmen verständlich. Von Paul Badde / Die Welt


Vatikanstadt (kath.net/DieWelt) „Die Kirche ist jung!“ rief Benedikt XVI. am 24. April 2005 auf dem Petersplatz. Gerade war er Papst geworden, mit 78 Jahren. Abertausende hatten zum Sterben Johannes Paul II. und der Wahl seines Nachfolgers aus allen Winkeln der Erde Rom überflutet. Der Frühlingstag leuchtete. Menschen so weit das Auge reichte. „Die Kirche lebt. Und sie ist jung“, rief der neue Pontifex, „sie trägt die Zukunft der Welt in sich“. Es schien die Sprache des letzten Konzils, die der alte Mann am ersten Tag seines Pontifikats anschlug wie eine Stimmgabel. Kein Kardinal auf dem Platz kannte das Konzil ja besser als er. Benedikt XVI. ist der letzte Papst, der das II. Vaticanum noch mit geprägt hat, dessen Beginn Papst Johannes XXIII. am 11. Oktober 1962 in bewusster Erinnerung an das Konzil von Ephesus (431) beginnen ließ.

Die Sprache des Konzils war daher selbstverständlich vom ersten bis zum letzten Tag Latein. „Inter praecipuos mundi hodierni aspectus,“ heißt es darum in einem der Schlussdokumente im Jahr 1965 noch in der Sprache Ciceros: „ Zu den charakteristischen Aspekten der heutigen Welt gehört die Zunahme der gegenseitigen Verflechtungen unter den Menschen, zu deren Entwicklung der heutige technische Fortschritt ungemein viel beiträgt“. Der Satz rührt bis jetzt in seiner Weitsicht und Ahnungslosigkeit, was die Entwicklung der elektronischen Revolution betraf, die Jahrzehnte später das Informationszeitalter öffnete.

Kein Handyklingeln störte damals das Wunder der Verwandlung von Brot und Wein in den Eucharistiefeiern und während der Predigten rief kein Gottesdienstbesucher schnell noch die letzten e-mails ab. Die Kirchen waren Sonntag für Sonntag brechend voll. Dennoch befanden sich weder die Kirche oder die Welt 1962 – auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, im Schatten einer drohenden atomaren Weltzerstörung – in einem idyllischen Zustand. Die Säkularisierung der Welt und die Selbst-Säkularisierung der Kirche hatte schon Jahrhunderte zuvor begonnen, auch wenn das II. Vaticanum das erste Konzil war, das einberufen wurde, ohne eine konkrete offene Streitfrage klären zu müssen. Das hatte es vorher nie gegeben. Im Grunde war es diesmal ernster. Jetzt hatte die Unruhe alle Bischöfe nach Rom gerufen, dass die Christenheit, die einmal die Welt des Westens geformt hatte, ihre prägende Kraft zu verlieren schien.

Fünfzig Jahre später gibt es hingegen eine Fülle offener Streitfragen in der katholischen Kirche. An der Basis - bei den Pfarrgemeinderäten, den Religionslehrern, dem Heer jener Frauen, die Jahr für Jahr die Kinder auf ihre Erstkommunion vorbereiten – glaubt wohl nur noch ein Rest an die vollständige Lehre. Was das 19. Ökumenische Konzil von Trient 1563 noch verbindlich über das Wunder der Verwandlung von Brot und Wein formulierte (dass Gott sich nämlich in der Hand eines geweihten Priesters wahrhaftig und bleibend in ein Stück Brot verwandelt!) kann einem Großteil der Lehrer an katholischen Hochschulen kaum noch ein Lächeln entlocken. Und der Glaube der Kirche „an einen Gott, den allmächtigen Vater, den Schöpfer alles Sichtbaren und Unsichtbaren und an den einen Herrn Jesus Christus, den Sohn Gottes, der als Einziggeborener aus dem Vater gezeugt ist, der für uns Menschen und wegen unseres Heils herabgestiegen und Fleisch geworden ist und Mensch wurde, gelitten hat und am dritten Tage auferstanden und zum Himmel aufgestiegen ist,“ dieses gemeinsame Bekenntnis der Christenheit, wie es auf dem Konzil von Nizäa im Jahr 324 von allen Bischöfen gegen die Irrlehre der Arianer festgelegt wurde, ist heute innerhalb des katholischen Kirchenvolks das Credo einer Minderheit geworden.

Das gilt zumindest für Europa und andere große Teile der westlichen Welt, in der es in den letzten 40 Jahren zu einem Zusammenbruch der christlichen Erziehung gekommen ist. Hier ist die überwiegende Mehrheit der Katholiken nicht mehr imstande, das alte Credo der Christenheit noch einmal überzeugend an die nächste Generation weiter zu geben. Der alte Glaube scheint „verdunstet“, wie Karl Kardinal Lehmann einmal sagte, aber auch abgeräumt von einem Heer von Theologen, die im alten Haus des Glaubens kaum noch einen Stein auf dem anderen gelassen haben. „Das eigentliche Problem unserer Geschichtsstunde ist es“, schrieb deshalb Benedikt XVI. am 10. März an die katholischen Bischöfe, „dass Gott aus dem Horizont der Menschen verschwindet und dass mit dem Erlöschen des von Gott kommenden Lichts Orientierungslosigkeit in die Menschheit hereinbricht, deren zerstörerische Wirkungen wir immer mehr zu sehen bekommen.“

Ein „Jahr des Glaubens“, das er heute am Ort des II. Vaticanums beginnen lässt, wird deshalb in allererster Priorität vor der Herkules-Aufgabe stehen, „in unserer Zeit, in der der Glaube in weiten Teilen der Welt zu verlöschen droht wie eine Flamme, die keine Nahrung mehr findet, Gott gegenwärtig zu machen in dieser Welt und den Menschen den Zugang zu Gott zu öffnen. Nicht zu irgendeinem Gott, sondern zu dem Gott, der am Sinai gesprochen hat; zu dem Gott, dessen Gesicht wir im gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus erkennen.“

Im kommenden Jahr wird die katholische Kirche sich also nicht nur auf das II. Vatikanische Konzil, sondern noch einmal neu auf alle Konzilien besinnen müssen, die nur zusammen verständlich sind. Der komplexe Glaube an die Menschwerdung Gottes in Jesus von Nazareth ist kein Menü, aus dem man sich für das eine oder andere Dogma entscheiden und die anderen ohne Konsequenzen unberücksichtigt liegen lassen kann. Es ist also nichts weniger als die Gretchen-Frage, die sich die Kirche im kommenden Jahr selber stellen wird: „Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?“ Die Neu-Evangelisierung der Welt, die sich die Bischöfe vorgenommen haben, sei deshalb zunächst eine Selbstevangelisierung der Kirche, sagte Joachim Kardinal Meisner aus Köln am Dienstag im Vatikan.

Das Evangelium sei ursprünglich eine „Siegesnachricht“, hatte ihm und den anderen in Rom versammelten Bischöfen der alte Papst am Morgen zugerufen: „Gott hat sein Schweigen gebrochen. Gott hat die Geschichte betreten. Jesus ist sein Wort, der mit uns leidet bis zum Tod und aufersteht.“ Dieser Glaube aber, sagte Kardinal Meisner trocken, verbreite sich immer nur „durch Anstecken und Berühren, nicht durch Propaganda“.



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