'Wir müssen aus unseren Kirchen wieder Gotteshäuser machen'

24. Dezember 2012 in Interview


"Ich weihe keinen, bei dem alle vier Wochen beichten zu gehen nicht in Fleisch und Blut übergegangen ist" - Am Samstag beging Kardinal Meisner sein Goldenes Priesterjubiläum. Ein Interview mit dem Erzbischof von Köln - Von Paul Badde / Die Welt


Köln (kath.net/DieWelt)
Die Welt: Weihnachten haben Sie Geburtstag. Nächstes Jahr werden Sie 80. Ist "der alte Mann aus Köln" da nicht erleichtert, die Last des Amtes bald loszuwerden?

Joachim Kardinal Meisner: Ich weiß noch nicht, ob ich sie schon von den Schultern kriege. Ich hoffe es. Ich bin nicht pflastermüde, aber bin der Meinung, es wäre nach 25 Jahren gut, wenn ein neuer Erzbischof die Richtung angibt. Und wir haben sehr viele gute, junge Leute.

Die Welt: Können Sie den 85-jährigen Papst denn guten Gewissens alleine lassen?

Meisner: Das tue ich ja nicht. Ich habe ihm mit 75 pflichtgemäß meinen Rücktritt angeboten und er ließ mir sagen, ich müsse weiter machen. Ich habe ihm schon als Präfekten gesagt: 'Sagen Sie dem Papst, er braucht mich nicht zu schonen.' Viel Arbeit werde ich so oder so behalten. Kardinal Volk sagte mir, nachdem er pensioniert war, dass er da endlich mehr tun konnte als in der Zeit, als er so viel tun musste. Er brauchte keine Konferenzen mehr zu leiten, keine Sitzungen, konnte kranke Priester besuchen, Einkehrtage halten. Jeden Morgen ging er über den Domplatz, kaufte Brötchen und führte viele Gespräche.

Die Welt: Am 12. Februar sind Sie 24 Jahre Hausherr des größten Doms in Deutschland. Entspricht dieser triumphale Bau noch dem Zustand der Kirche in Deutschland?

Meisner: Das ist kein triumphaler Bau. Das ist eine Übersetzung der Überzeugung der Menschen: die Erde genügt uns nicht, wir müssen dem Himmel zustreben! Wenn man in den Dom kommt, kann man nicht nach unten schauen. Der Blick wird sofort hochgerissen. Und doch ist hier das Wichtigste etwas, was man nicht sieht: Das sind die Fundamente. Wir sehen nur die Säulen. Wenn aber die Fundamente nicht halten, bricht alles ein.

Ähnlich ist es auch mit den Fenstern. Ihren Zauber sieht man von außen nicht. Da sind sie stockdunkel. Erst im Dom sieht man ihre ganze Schönheit und ihr Licht. So ist es auch mit Gott: In der Kirche lernt man ihn in all seinen Dimensionen kennen. Unser Dom ist ein steinernes Zeugnis, mit dem sich jeder Kölner identifiziert, gleich ob Jude, Moslem oder Christ. Wo sich die Bewohner einer Stadt so mit einem Gotteshaus identifizieren, ist das schon etwas Besonders. Da werden sie nie ganz gottlos werden können.

Die Welt: Warum aber nach oben schauen?

Meisner: "Den Himmeln überlassen wir den Engeln und den Spatzen", hat Heinrich Heine gesagt. Doch als wir ihm dabei zustimmten, fiel die Erde unter die Räuber. Wenn der Mensch nicht mehr nach oben transzendieren kann, transzendiert er nach rechts und links. Er stillt seinen Ewigkeitshunger an den Gütern dieser Welt und wird doch nicht satt. So geht die Welt vor die Hunde. Der Mensch ist hoffnungslos überfordert, seit er sich selbst an die Stelle Gottes gesetzt hat und seit er selbst bestimmen will, was gut und was böse ist.

Die Welt: Was erwarten Sie als Freund des Papstes denn von dem Jahr des Glaubens, das er nun ausgerufen hat? Soviel wie von einem Jahr der Frau? Einem Jahr des Kindes? Des Haustiers?

Meisner: Optimismus ist kein biblischer Begriff. Ich lass mich deshalb vom Glauben und der Hoffnung des Papstes inspirieren und anstecken, dass dabei etwas Großes heraus kommt.

Die Welt: Was könnte in diesem Jahr des Glaubens denn konkret bewegt werden?

Meisner: Wir müssen Abschied nehmen von einer gewissen Selbstsäkularisation. Wir können der Entsakralisierung ein Ende machen. Das heißt: Wir müssen aus unseren Kirchen wieder Gotteshäuser machen, wo zu allererst die Liturgie das Mysterium des Glaubens feiert. Zum Beispiel: Wir haben das eucharistische Fasten abgeschafft, wir haben die Kommunionbänke abgeschafft, wir knien nicht mehr nieder - und haben nichts dagegen getan, dass damit auch Ehrfurchtlosigkeit und Banalisierung um sich griffen. Das konnte nicht gut gehen.

Wenn wir das Mysterium der Eucharistie wieder aufleuchten lassen, kommen die Menschen von allein zu uns zurück. Wenn es nicht einfach ein Freundesmahl ist, wo man hingeht oder genauso gut nicht, sondern die Teilhabe am Erlösungsopfer Christi. Deshalb feiern wir nächstes Jahr ja auch in Köln den Eucharistischen Kongress, der dieses Bewusstsein wieder ins Zentrum rücken möchte.

Die Welt: Doch gibt es nicht auch Momente bei Ihnen – am Altar, mit der geweihten Hostie in der Hand – wo Sie alles nicht mehr glauben können, was die Kirche lehrt?

Meisner: Bei einer Beerdigung eines nahe stehenden Menschen muss ich manchmal sagen: 'Herr, ich glaube. Hilf meinem Unglauben', dass es mit dem Verstorbenen bei Gott weitergeht. Aber der Glaube existiert immer nur in Koexistenz mit dem Unglauben. Dabei kann es auch bei Gläubigen Momente des Glaubenszweifels geben. Aber bei der heiligen Eucharistie gab es das für mich noch nicht. Sie fängt ja auch immer mit dem Altarkuss und dem Bußakt an.

Da weiß ich jedes Mal: ich darf nicht zum Judas werden, zu dem der Herr sagt: 'Mit einem Kuss verrätst Du den Menschensohn?' In meiner Sakristei hängt der lateinische Satz: 'Sicut prima, sicut ultima, sicut unica'. Das heißt, ich solle die heilige Messe so feiern, als sei es die erste, die letzte und die einzige. Das sage ich auch den Neupriestern bei jeder Priesterweihe: Ich wünsche mir und euch, dass wir, wenn wir bei unserer letzten heiligen Messe den Kelch hochheben, vor Ergriffenheit immer noch ein wenig zittern.

Die Welt: Was sagen Sie ihnen sonst noch?

Meisner: Dass ich von ihnen erwarte, dass sie mindestens alle vier Wochen beichten. Wir können doch sonst gar nicht ehrlich an den Altar treten. Und da habe ich sehr viel Hoffnung bei den jungen Leuten.

Die Welt: Ihre Priester gehen alle vier Wochen beichten?

Meisner: Ich hoffe es. Ich weihe keinen, bei dem alle vier Wochen beichten zu gehen nicht in Fleisch und Blut übergegangen ist. Ich kontrolliere das nicht und will auch nicht wissen, wo sie beichten. Aber ich ermutige permanent dazu. Denn die höchste Gabe, die Gott zu vergeben hat, ist die Vergebung, und die größte Gnade, die Gott zu verschenken hat, ist die Begnadigung. Beides wird im Beichtstuhl gegeben. Und wer vom Vater nichts mehr annimmt, kündigt sein Sohnsein auf, und dann kann er schlecht ein gesegneter Priester sein.

Die Welt: Der Papst hat die Familie als Motor der Neu-Evangelisierung vorgestellt. Ist das nicht pures Wunschdenken in einer Zeit der Patchwork-Familien, der einsamen unverheirateten Mütter, der Scheidungswelle und schwuler Paare mit Kindern, wo kaum eine Spezies so gefährdet scheint wie katholische Ehen und Familien?

Meisner: Das mag sein. In Deutschland buchstabieren sich etwa acht von zehn Menschen ihre christliche Vergangenheit irgendwie nach und können sie nicht mehr zur Deckung bringen mit ihrer gegenwärtigen Situation. Und es ist kaum einer da, der ihnen den Glauben wieder erklärt und verständlich macht. Viele von uns Christen sind sogar froh, wenn sie niemand mehr danach fragt.

Doch Jesus hat gesagt: wenn ihr Glauben habt so groß wie ein Senfkorn, dann sagt zu dem Berg: heb Dich auf!, und es geschieht. Wir müssen deshalb immer zurück zum Ursprung. Stopfen sie mal die Quellen des Rheins zu, dann bleiben nur Matsch und Schlamm übrig. Wir müssen also die Quellen des Glaubens wieder zum Sprudeln bringen - und scheint das Rinnsal gegenwärtig noch so klein.

Die Welt: Was ist der wichtigste Auftrag des letzten Konzils an die heutige Kirche?

Meisner: In der Liturgiekonstitution hat das Konzil deutlich macht, dass in der Eucharistie der Himmel die Erde berührt. Wenn ich radioaktive Materie berühre, werde ich selbst radioaktiv und stecke damit andere an. Und wenn ich Christus berühre, werde ich "christo-aktiv", und wer mit mir in Berührung kommt, den stecke ich an mit meiner "Christoaktivität". Das Christentum ist nicht weitergegeben worden durch Propaganda, sondern durch Ansteckung. Ich muss mich also von Christus berühren lassen, das geschieht am innigsten in der Eucharistie, dann kann ich ihn auch weitergeben.

Die Welt: Von einer "winterlichen Kirche" sprach Karl Rahner aber am Ende seines Lebens?

Meisner: Vielleicht ist ein anderes Bild treffender: Mich erinnert die Kirche zurzeit mehr an eine Thermosflasche. Die hält die Wärme nach innen fest und strahlt sie nicht aus. Christus aber sagt nach wie vor: "Ich bin gekommen, um Feuer auf die Erde zu bringen." Dann darf diese Kirche doch keine Thermosflasche sein! Wenn ich einen Holzstoß anzünde, kann ich nicht sagen: Ich will, dass da nur fünf Prozent brennen, die anderen 95 Prozent, die sollen kein Feuer fangen. Gott ist wie dieses Feuer.

Davor haben wir oft Angst, und darum ist die Frage, wie wir von einer winterlichen Kirche in eine sommerliche Kirche kommen, immer eine Frage an mich persönlich. Der Glaube wird einfacher, wenn ich ihn ganzheitlich lebe. Wer das als erste richtig verstanden hat, war Maria von Bethanien, die den ganzen Inhalt des kostbaren Salböls auf die Füße des Herrn schüttete – wonach "vom Duft der Salbe das ganze Haus erfüllt" wurde. Diese ganzheitliche, ansteckende Begeisterung ist, wie gesagt, die einzige Methode, durch die das Christentum weitergegeben wird.

Die Welt: Welches Pontifikat hat Sie mehr heraus gefordert: das polnische oder das deutsche?

Meisner: Das Pontifikat von Johannes Paul II. hat mich natürlich enorm herausgefordert, und zwar wegen der Umstände. Wir hatten 1987 in der DDR das große Katholikentreffen in Dresden mit 150.000 Leuten.

Damals habe ich noch gesagt: "Das Land zwischen Oder, Neiße und Werra, das ist nicht Sozialismus, das ist Schöpfung Gottes. Und auf dieses Land ist unser Los gefallen, um den Psalmisten zu zitieren. Da können wir nicht einfach in den Westen gehen. Wir wollen aber in diesem Land, das unsere Heimat ist, keinem anderen Stern folgen als dem von Betlehem."

Das ging damals wie ein Lauffeuer durch die Presse. Die Leute konnten sich gar nicht mehr beruhigen, weil bei uns ja in jeder Schule, in jedem Rathaus, in jeder Fabrik und überhaupt überall ein roter Sowjetstern angebracht war, der nachts noch leuchtete.

Die Welt: Und dann?

Meisner: Sechs Wochen später kam in Kevelaer auf einem Kongress der damalige Nuntius Josip Uhač zu mir und sagte: Ich muss mal mit Ihnen reden. Ich müsse – nach dem Konkordat – einen Dreiervorschlag für die Nachfolge des Bischofs von Berlin einreichen. Und ich sagte: Für Berlin? Wie? Ich bin doch da! Ja, sagte der Nuntius, der Papst will aber, dass Sie nach Köln gehen. Da antwortete ich ihm: Sie bekommen von mir keinen Vorschlag! Ich werde sofort in Rom anrufen und sagen, dass ich den Papst dringend sprechen muss.

Sehr rasch war ich dann in Castelgandolfo bei Johannes Paul II. und sagte zu ihm: Heiliger Vater, das kann doch nicht stimmen, dass Sie mich nach Köln schicken wollen. Da antwortet er: doch. Da sag ich, hören Sie, ich bin gleichsam der Leithammel unserer kleinen Herde in der DDR, und der Vorsitzende der Berliner Bischofskonferenz, und habe gerade vor 150.000 Leuten in Dresden gesagt, wir müssen hier bleiben, das ist unsere Aufgabe.

Darauf antwortete der Papst: Gehe bitte vom Osten nach dem Westen Deutschlands. Bald gehen viele vom Westen nach dem Osten. Das System kippt! – Darauf ich: Heiliger Vater, das haben Sie nicht ex cathedra gesagt, das glaub ich nicht! Es stimmt trotzdem, antwortete er. Da fragte ich ihn: Haben Sie denn Hinweise von Geheimdiensten? Da zeigte er nur zum Himmel und sagte: Da oben ist mein Geheimdienst! Mehr war ihm nicht zu entlocken. Anderthalb Jahre später fiel dann die Mauer.

Die Welt: Damals haben Sie Berlin einmal als "ärmste Stadt Europas" bezeichnet. Wie würden Sie die deutsche Hauptstadt jetzt bezeichnen?

Meisner: Berlin war eine verwundete Stadt. Sie blutete ständig. Dieser Riss in Form der Mauer setzte sich fort durch alle Berliner Familien. Seit dem Mauerbau hatten wir deshalb als Katholiken in Berlin immer dreimal am Tag für die Einheit des Volkes gebetet. Etwa ein Jahr vor meinem Weggang wurde dann der Antrag an mich gestellt, diese Fürbitte umzuformulieren, weil sie doch unrealistisch sei.

Man hat nicht mehr geglaubt, dass die Einheit in diesem Jahrtausend realistisch zu erhoffen wäre. Aber die Wunder Gottes sind oft so nahe. Wir versündigen uns permanent durch Unglaube gegenüber den unbegrenzten Möglichkeiten Gottes. Nach dem Mauerfall wurde Berlin eine höchst verheißungsvolle Stadt in Europa.

Die Welt: Welche Erfahrungen aus der DDR nützen Ihnen heute noch?

Meisner: Der Marxismus war Opium fürs Volk und hat das Volk und die Völker ruiniert. Denn seit der Marxismus bestimmte, dass Religion Opium für das Volk zu sein hatte, griffen die Menschen wirklich zum Opium, zum Alkohol, zur Droge. So haben wir in diesen vierzig Jahren erlebt, dass die Kirche der einzige freie Raum ist, der uns in diesem unmenschlichen System als Menschen überleben ließ. Die Kirche war der Raum, wo wir noch ein wenig Himmel über uns schauen durften, und sie hat uns bewahrt, in einem Maulwurfsdasein unterzugehen, in das die Ideologie die Menschen hineingestoßen hatte.

Die Welt: Und was ist im freien Europa der Auftrag der Kirche?

Meisner: Der wahre Ort der Kirche ist immer der Lebensraum der Menschen. Die Kirche wurde mit dem prophetischen Auftrag zu den Menschen gesandt, ihnen zu sagen: Du bist nicht das Maß für dich selbst! Das ist zu klein! Zu wenig! Dein Leben wird nur stimmig, wenn du deine Zeit vor dem Hintergrund der Ewigkeit siehst. Die erste Aufgabe der Kirche ist darum das Gotteslob. Wir sind keine fromme humanistische Union, sondern die Kirche hat die Aufgabe, Gott zu verherrlichen. In dem Maß, in dem sie das tut, hilft sie den Menschen.

Die Welt: Erscheint aber nicht jetzt dieser Glaube fast innerhalb einer Generation plötzlich versickert wie Wasser im Wüstensand? Kardinal Höffner sprach schon vom "Verdunsten des Glaubens".

Meisner: Ja, und darum werden wir jetzt neu herausgefordert, von der Mitte aus zu verkünden und zu leben – von Jesus Christus her. Wir können uns nicht begnügen mit irgendwelchen anderen Allgemeinplätzen. Es muss in unserem Dasein als Christen ein unerklärbarer Rest vorhanden sein, der nur plausibel ist, wenn es Jesus Christus gibt.

Die orthodoxe Kirche kennt neben heiligen Bischöfen, Eheleuten, Frauen und Männern auch den Begriff des "heiligen Narren". Ein Christ wird durch Christus von seinem normalen Standort im Leben oft weggerückt: "verrückt" im wahrsten Sinne. Wenn er das abmildern möchte, wird sein Glaubenszeugnis dünn und unerheblich.

Die Welt: Kardinal Lustiger aus Paris sagte vor seinem Tod, dass wir nun erst am Anfang des christlichen Zeitalters angekommen seien, weil sich die Menschheit erst jetzt ganz ihrer Gefahren und Möglichkeiten bewusst geworden sei. Teilen Sie diese Sicht?

Meisner: Nach meinem Dafürhalten ist die Botschaft Christi immer der Silberstreif am Horizont. So war sie zu allen Zeiten der Horizont der Menschheit. Ich würde Kardinal Lustiger gern in seiner Einladung zustimmen, im Bewusstsein der Bedrohung der Schöpfung und Menschheit, die heute die Bewohner der Erde bewegt, die Maximen des Evangeliums sehr erst zu nehmen.


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