Lebenspralle Wesen an der Krippe des Papstes

29. Dezember 2012 in Aktuelles


Nach den Enthüllungen von Vatileaks wurde die Krippe auf dem Petersplatz in Rom deutlich verkleinert. Sie präsentiert die spektakulären Bilder, die in den Höhlen von Matera ans Licht kamen. Von Paul Badde / Die Welt.


Rom (www.kath.net/ Die Welt)
Der Petersplatz wird von zwei ewig langen Menschenschlangen bevölkert. Die eine zieht es durch die Sicherheitsschleusen in den Petersdom. Die andere staut sich vor der Krippendarstellung am Obelisken. Und das ist neu.

Denn Italien ist zwar das Mutterland der Krippen, seit der heilige Franz von Assisi diese Tradition vor rund 800 Jahren begründet hat. 1982 hat Papst Johannes Paul II. diesen Brauch – ein Jahr nach dem Attentat auf ihn – auch für den Petersplatz übernommen, wo ihn die Schüsse Ali Agcas um ein Haar getötet hätten.

Eine besondere Attraktion waren diese Krippen auf dem Petersplatz dennoch nie in Rom, wo jede der mehr als 300 Kirchen ihren Ehrgeiz darin setzt, die schönste von allen aufzubauen. Dazu waren auch die rund 20 überlebensgroßen Figuren zu reizlos, die auf dem Petersplatz das Personal der Heiligen Nacht darstellten und die in ihren XXL-Formaten schon von Weitem zu erkennen sein sollten. Obwohl sie von Vinzenz Pallotti und aus dem Jahr 1842 stammen sollen, fehlte ihnen eigentlich jeder Zauber.

Auch die Dimensionen der Darstellung waren von Jahr zu Jahr mehr ausgeufert, sodass es kaum einen Italiener wirklich wunderte, dass bei dem Aufbau zunehmend gemauschelt wurde. Im Jahr 2009 sollen die Kosten 500.000 Euro betragen haben, für eine Baufläche von 300 Quadratmetern. In diesem Jahr wurden die Mauscheleien erstmals in den Vatileaks bekannt gemacht.

Eine grandiose Städtewerbung

Danach ist nun alles völlig anders. In diesem Jahr sind die Figuren nur um die 30 Zentimeter groß, die Ausstellungsfläche beträgt 150 Quadratmeter, der Architekt ist der Künstler Franco Artese, und das Ganze wird nicht mehr vom Vatikan bezahlt, sondern von der Stadt Sassi di Matera aus der Basilikata in Süditalien gesponsert. Eine schönere Städtewerbung hat man kaum irgendwo gesehen.

Denn Hauptattraktion ist diesmal die Stadt selbst, die hier den Rahmen für die Erzählung der Geburt Christi übernimmt. Es ist ein digital verfeinertes Gesamtkunstwerk in der Form und mit den Mitteln eines Panoptikums aus dem 19. Jahrhundert, in dem die Krippendarstellung diesmal nur am Rand in einer der vielen Höhlen am Rand der Stadt stattfindet.

Darum muss jeder Besucher nun auch viel näher herantreten, um alles bestaunen und genießen zu können: Die kleinen Figuren ziehen viel mehr Menschen viel näher heran.

Die Stadt selbst aber verschwindet hier mit dem Nachthimmel in einer Grotte, während die Fresken ihrer berühmtesten Höhle das Ganze auf großen Stoffbahnen umhüllen wie ein Zelt. Direkt neben der Krippendarstellung ist deshalb die Darstellung vom Sündenfall der nackten Eva mit ihrem Adam zu sehen, der diese Grotte bei Matera den Namen einer "Krypta der Erbsünde" verdankt.

Seit der Steinzeit besiedelt

Sassi di Matera selbst aber, das hier dargestellt wird, sollte man sich im Original am besten vorstellen als Stadt an einem Stück. Die Mauern voll urzeitlicher Jakobsmuscheln und Meeresschnecken. Es ist die älteste, seit der Steinzeit ununterbrochen besiedelte Siedlung der Erde, eine prähistorische Großstadt, die in die Moderne hineinreicht.

Durch alle Epochen der Geschichte hindurch wurde weiter an dem Ensemble gebaut, in einem Labyrinth verwinkelter Hohlwege und zahllosen ausgebauten und überbauten Grotten und Höhlen. Immer neue Invasoren haben Matera überflutet, zuletzt die Statistenheere Mel Gibsons und Pier Paolo Pasolinis, die Matera zuletzt und in den 60er-Jahren als Kulissen für ihre Passionsfilme benutzten, als Jerusalem und Bethlehem in einem einzigen Ort.

Nachhaltigere Spuren als die Filmemacher haben allerdings verschiedene Wellen von Basilianer-Mönchen im Gestein der Stadt hinterlassen, die im frühen Mittelalter vor den muselmanischen Eroberern der Küsten Apuliens und Kalabriens hierhin flohen und sich mit zahlreichen Kapellen, Kirchlein oder Eremitenzellen in das Herz Materas gruben.

"Krypta der Erbsünde"

Rund 160 dieser spirituellen Fluchtpunkte haben sich am südöstlichen Rand der Stadt erhalten, manche mit aufsehenerregenden Fresken. Die merkwürdigste und versteckteste Höhle befindet sich rund 14 Kilometer südlich der Stadt. Sie wurde 1963 entdeckt und freigelegt und ist doch nahezu unbekannt geblieben. Das ist die "Krypta der Erbsünde".

Jahrhundertelang hatte es davor in der Gegend Legenden einer "Höhle der 100 Heiligen" gegeben, bis sich endlich ein Schaf in ihrem zugewucherten Eingang verirrte und Mitglieder des Kulturzirkels "La Scaletta" in den verwitterten Fresken der Grotte zwar keine 100 Heiligen entdeckten, aber sensationelle Unikate.

Auch heute noch findet keiner den Ort an der Steilwand der Gravina-Schlucht ohne Führer, und was Materas Stadtverwaltung gern die "Sixtinische Kapelle" der Basilikata nennt, war Untersuchungen zufolge wohl lange ein Unterstand für Hirten und ihre Schafe, wie Raffaele Vitulli von der Initiative Artezata erzählt, in der sich ein Kreis junger Privatleute um dieses Erbe der Weltkultur kümmert, das, so gut es ging, von Moosen, Flechten, Algen, Bakterien, Nitraten und Karbonaten befreit und vorbildlich restauriert wurde.

Auch hier steckt der Fels voller Muscheln aus Ozeanen der Urzeit. Die Datierung der Fresken ist schwieriger. Neben dem Ausgang der Höhle ist in einem Fragment noch ein Kriegsschild deutlich erkennbar, wie ihn Langobarden benutzten, die zur Zeit Gregors des Großen (um 600) die Halbinsel mit ihren Heerzügen heimsuchten.

Kanon des frühen Christentums

Ein bestens erhaltenes Bild der Gottesmutter in der mittleren von drei künstlich geschaffenen Extra-Nischen zeigt Maria nicht als Witwe wie in der byzantinischen Kunst, sondern als souveräne Kaiserin. Sie schaut geheimnisvoll seitwärts, am Betrachter vorbei, in höfischem Prunk, umhüllt von schimmernden Schleiern und prächtigen Gewändern, unter einem dreifachen Diadem aus Perlen und Blumen.

Die Schultern ihrer verschwenderisch stoffreichen Tunika sind mit Perlen übersät, über einer Dalmatika in Altrosa, als Thron für ihren Sohn, der auf ihrem Arm den Kosmos als kleiner Weltenherrscher segnet.

Manche wollten in dieser Madonna eine Nähe zu dem Mosaik der byzantinischen Kaiserin Teodora (497-548) in Ravenna erkennen; doch Maria schaut in dieser Grotte irgendwie witziger, weniger unnahbar, großzügiger. Und der Kleine auf ihrem Schoß hält in seiner Linken noch keinen Erdball oder einen Granatapfel wie in späteren Darstellungen, sondern eine jüdische Gesetzesrolle.

859 wurde Matera von den Sarazenen eingenommen. Danach war es hier für Jahrhunderte vorbei mit allen figürlichen Darstellungen, erst recht von christlichen Heiligen. Hier aber schwelgten die Maler noch einmal in aller Pracht im damals noch ganz und gar ungefestigten Kanon der frühen Kunst des christlichen Abendlands, auf einem Hintergrund von Blumen- und Teppichmustern, wie er moderner auch von Paul Klee im letzten Jahrhundert nicht hätte auf die Wand gezaubert werden können.

Adam und Eva unter dem Fenster des Papstes

Neben drei ausgemalten Apsiden – mit den Aposteln Petrus, Johannes und Andreas links, den Erzengeln Michael, Gabriel und Raphael rechts und der Verehrung der Gottesmutter in der Mitte – wird die eigene Bildsprache vor allem an der Stirnwand deutlich, wo Gott – als junger Mann! – bei der Erschaffung der Welt in einem eigenen Schöpfungsakt zuallererst das Licht von der Finsternis trennt.

Das "nicht von Menschenhand geschaffene" Licht wirft als jubelnde Frauengestalt die Arme in die Höhe. All diese Fresken aus dem hintersten Winkel Italiens umhüllen nun die Krippe auf dem Petersplatz.

Direkt unter dem Fenster des Papstes ist deshalb in dieser Weihnachtszeit neben der Krippe zu bestaunen, wie ungemein nackt und fleischlich Künstler in der Basilikata mindestens 500 Jahre vor Giotto die Figuren Adams und Evas an die Wand geworfen haben.

Zuerst in dem Herauswachsen der vollbusigen Urmutter aus der Rippe des schlafenden Adam, danach in einem kühnen Comic des Sündenfalls der beiden, wo Eva auf Anraten der Schlange eine Frucht vom verbotenen Baum verspeist, sich rasch noch die Fingerchen leckt, um das verbotene Früchtchen im nächsten Schritt schon ihrem beschränkten Gatten weiterzureichen. Es ist vielleicht eine der heitersten Darstellungen der Erbsünde, die selbst nach dem Katechismus der katholischen Kirche "ein Geheimnis ist, das wir nicht völlig verstehen können".

Foto: © Paul Badde


© 2012 www.kath.net