Ein Rücktritt mit nur einem Präzedenzfall

13. Februar 2013 in Interview


Für den Rücktritt eines Papstes gibt es nur einen Präzedenzfall– und der ereignete sich vor 719 Jahren. Es ist die Geschichte eines der heiligsten Männer, die je auf dem Thron Petri gesessen hatten.“- Yuliya Tkachova interviewt Michael Hesemann


Rom (kath.net) „Es gibt nicht sechs, es gibt auch nicht zwei, sondern nur ein Vorbild, einen Präzedenzfall für seinen Rücktritt – und der ereignete sich vor 719 Jahren. Es ist die Geschichte eines der heiligsten Männer, die je auf dem Thron Petri gesessen hatten.“ Dies sagte der Historiker Michael Hesemann im Interview und lud zu einem Blick in die Papstgeschichte ein.


Yuliya Tkachova: Herr Hesemann, Papst Benedikt XVI. hat überraschend seinen Rücktritt angekündigt. Sie haben drei Bücher über ihn geschrieben, „Benedetto“ (2006), „Der Papst in Deutschland“ (2011) und, zusammen mit seinem Bruder Prälat Georg Ratzinger, „Mein Bruder, der Papst“. Wie haben Sie von seinem Rücktritt erfahren?

Michael Hesemann: Dadurch, dass bei mir das Telefon unaufhörlich klingelte, eine SMS nach der anderen eintraf und ich schließlich den Fernseher einschaltete. Will sagen: Es kam für mich genauso überraschend wie für uns alle. Ich denke, der einzige, der seit ein paar Monaten von den Rücktrittsplänen wusste, war sein Bruder Georg Ratzinger, und der hat eisern geschwiegen. Ich habe ihn noch am 15. Januar zu seinem 89. Geburtstag in Regensburg besucht; er hat nicht die geringste Andeutung gemacht.

Tkachova: Sie haben ihn das letzte Mal am Samstag gesehen, als Sie an der Romwallfahrt des Malteser-Ordens teilnahmen. Wie war Ihr Eindruck von seinem Zustand? War der Rücktritt absehbar?

Hesemann: Nun, wir sahen alle, wie seine physischen Kräfte nachließen, auch wenn er, als er sprach, so verschmitzt und fröhlich wie eh und je wirkte und uns alle segnete. Den eigentlichen Schreck bekam ich eher im letzten Jahr, als der Heilige Vater zum ersten Mal auf einem Rollpodest zum Papstaltar gefahren wurde, denn das erinnerte nur zu deutlich an die letzten Jahre von Johannes Paul II. Natürlich, die Ursache war nur eine Arthrose im Knie, aber der dadurch bewirkte Bewegungsmangel wirkt sich doch auf den gesamten Organismus aus: er schwächt. So wirkte Benedikt XVI. immer schmaler in den letzten Monaten, manchmal ein wenig müde, seine Stimme wurde schwächer, seine Handschrift kleiner. Als er seinen treuen Sekretär Georg Gänswein am 6. Januar zum Erzbischof weihte, war dies schon ein deutliches Zeichen: Er bestellt sein Haus. Das Pontifikat neigt sich dem Ende zu.

Tkachova: Nun erklärte Benedikt XVI. bereits in seinem Interviewbuch „Licht der Welt“ dem Journalisten Peter Seewald: „Wenn ein Papst zur klaren Erkenntnis kommt, dass er physisch, psychisch und geistig den Auftrag seines Amtes nicht mehr bewältigen kann, dann hat er ein Recht und unter Umständen auch eine Pflicht, zurückzutreten.“ Er plante es also offenbar seit längerer Zeit.

Hesemann: Sicher hat Papst Benedikt nie einen Zweifel daran gelassen, dass er sich die Option eines Rücktritts offenlässt, wenn seine physischen Kräfte nicht mehr reichen. Von dieser Option hat er jetzt Gebrauch gemacht. Das ist für uns als Katholiken, die wir gerade diesen deutschen, nein: bayerischen Papst geliebt haben wie einen Vater, natürlich eine traurige Nachricht. Aber dieser Schritt verdient vor allem auch unseren Respekt. Denn er zeugt von der großen Demut Benedikts XVI., davon, dass ihm die Kirche so sehr am Herzen liegt, dass er sich ganz zurücknimmt und buchstäblich hinter das Petrusamt zurücktritt. Tatsächlich ist der Gegenwind für das Schiff Petri in den letzten Jahren so viel stärker geworden. Da braucht es starke Schultern, um es sicher durch die Zeit zu lenken.

Tkachova: Man hört immer, es habe schon Päpste gegeben, die zurückgetreten seien, abver die Berichte sind doch widersprüchlich; mal ist von sechs, mal von zwei, mal von nur einem die Rede. Sie sind Historiker, gelten als Experte für Fragen der Kirchengeschichte. Wie viele Päpste sind denn nun von ihrem Amt zurückgetreten?

Hesemann: Zurückgetreten sind schon sechs, wenn ich mich nicht irre, wenn auch nicht immer ganz freiwillig, dafür aber schon ziemlich früh. Der erste zurückgetretene Papst war der 17. Nachfolger Petri, der hl. Pontianus (230-35). Sein Abdankungsdatum, der 28. September 235, ist sogar das erste gesicherte Datum der Papstgeschichte überhaupt. Pontianus wurde während der Christenverfolgung des Maximinus Thrax festgenommen und nach Sardinien deportiert – zusammen mit dem ersten Gegenpapst, Hippolytus. Weil er wußte, dass er in der Verbannung sterben würde, dankte er vor seiner Verschiffung ab. Damit machte er den Weg frei für die Wahl eines Nachfolgers.

Zur Abdankung gezwungen wurde hl. Silverius (536-537), der sich mit dem byzantinischen General Belisar überworfen hatte. Sein Widersacher Vigilius, von den Byzantinern auf den Stuhl Petri gesetzt, hatte ihn zuvor auf die Insel Ponza deportieren lassen.

Johannes XVIII. (1003-1009) kennen wir Deutschen vor allem, weil er Heinrich III. die Einrichtung Bambergs als Bischofssitz bestätigte. Einige Quellen behaupten, er sei abgesetzt worden, nach anderen ist er freiwillig abgedankt; jedenfalls zog er sich in das Kloster von St. Paul vor den Mauern in Rom zurück, wo er nur wenige Monate später verstarb.

Das Pontifikat Benedikt IX. (1032-44, 1045, 1047-1048) gehört zu den abwechslungsreichsten der Geschichte. Erst wurde er in einer Revolte vertrieben, dann exkommunizierte er seinen Rivalen Sylvester III., ergriff wieder den Papstthron, um nur zwei Monate später gegen eine großzügige Entschädigung zugunsten seines Patenonkels Gregor VI. abzudanken. Als der deutsche Kaiser Heinrich III. nach Rom kam, wurde auch dieser abgesetzt und Clemens II., gewählt. Der aber starb zwei Monate nach seiner Inthronisierung und die Tusculaner machen Benedikt IX. zum dritten Mal zum Papst.

Und dann war da noch Gregor XII. (1406-1415), einer der drei letzten Päpste des großen abendländischen Schismas. Während die Gegenpäpste Benedikt XIII. und Johannes XXIII. abgesetzt werden mussten, hielt er sich an die Beschlüsse des Konzils von Konstanz und trat freiwillig von seinem Amt zurück.

Tkachova: So freiwillig klingt das aber nicht, wenn ein Konzil das entschieden hat. Ist die „causa Benedikt“ also doch ohne Präzedenzfall?

Hesemann: Nicht ganz, denn einen Papst habe ich mir bewusst eben aufgehoben, da er sich von allen unterschied: Den hl. Coelestin V. (Juli-Dezember 1294). Seine Wahl folgte einer 27monatigen Sedisvakanz. Die zwölf Kardinäle, die es damals gab, konnten sich einfach auf keinen Kandidaten einigen. Schließlich besannen sie sich, unter Druck von König Karl II. von Anjou, auf einen heiligmäßigen Mann, Pietro da Morrone, der lange als Einsiedler in einer Höhle, dann auf den Höhen der Maiella gelebt hatte. Er galt nicht nur als Asket, Heiler und Reformer, er hatte auch die Coelestiner-Kongregation mit ihren beiden Klöstern gegründet, die sich bald dem Benediktinerorden anschloss. Vielleicht nahmen ihm die Kardinäle übel, dass er in einem Brief das Konklave zur Eile gedrängt und vor göttlicher Strafe gewarnt hatte, jedenfalls wählten sie ihn kurzerhand zum neuen Papst. Die Nachricht von seiner Wahl wurde in der ganzen Kirche mit Begeisterung aufgenommen. Man hielt ihn für den „Engelspapst“, dessen Aufgabe es sei, das Zeitalter des Heiligen Geistes einzuläuten und die Kirche und die Welt zu läutern. Auf einem Esel ritt er, wie Jesus, als Karl II. ihn zu seiner Weihe in die Abruzzenstadt L’Aquila brachte, die zu seinem Königreich Neapel gehörte. Dort nahm Pietro da Morrone den Namen Coelestin V. an.

Seine erste Amtshandlung war, die Konklaveregelungen Gregors X. wieder einzuführen, um künftig eine lange Sedisvakanz zu verhindern. Beim Konsistorium sprach er Italienisch; der nur mäßig gebildete Bauerssohn zog die Volkssprache der Kuriensprache Latein vor. Leider erwies er sich als schlechter Verwalter, zudem wurde er von Karl II. hemmungslos manipuliert. Schon bald merkte er, dass die Angelegenheiten der Kurie ihn immer mehr vereinnahmten, ihn davon abhielten, sich seinen geistlichen Bedürfnissen zu widmen. Noch enttäuschender nahm er zur Kenntnis, dass seine Bemühungen, die Kirche moralisch zu erneuern, bei den Kardinälen auf wenig Gegenliebe stieß. Verbittert über die vielen Intrigen, deren Zeuge er wurde, sah er sich schließlich außer Stande, die Kirche im Sinne des Evangeliums zu erneuern. Der listige Kardinal Benedetto Caetani redete ihm zu, sein Amt abzugeben, zitierte frei erfundene Präzedenzfälle aus der Kirchengeschichte – und sollte als Bonifaz VIII. schließlich sein Nachfolger werden.

Coelestin V. aber dankte vor dem Konsistorium ab und wurde wieder der einfache „Mönch Petrus“. Sein einziger Wunsch war es, in seine Eremitenklause zurückzukehren. Doch das erlaubte ihm Bonifaz VIII. aus Angst vor einem Schisma nicht; stattdessen hielt er ihn im Turm des Schlosses von Fumone fest. Selbst ein Versuch, nach Griechenland zu fliehen, wurde vereitelt. Als der „Mönch Petrus“ zwei Jahre später verstarb, wurde schnell behauptet, er sei von seinem Nachfolger ermordet worden. Beweise gibt es dafür nicht. Nach nur 17 Jahren wurde dieser demütige Papst 1313 heiliggesprochen.

Tkachova: Und wie reagierte man damals auf seinen Rücktritt?

Hesemann: Unterschiedlich. Die einen bewunderten seine Demut. Andere, darunter auch Dante in seiner „Göttlichen Komödie“, bezichtigten ihn der Feigheit und sahen ihn schon an den Pforten der Hölle. Erst später dominierten die positiven Einschätzungen, begriff man, was man an ihm hatte – einen Heiligen nämlich, der zu gut für diese Welt war.

Tkachova: Könnte er denn ein Vorbild für Papst Benedikt gewesen sein?

Hesemann: Nun, ich weiß mit Sicherheit, dass unser Papst ihn sehr bewundert. Am 29. April 2009 pilgerte er sogar nach L’Aquila zum Grab Coelestins V. und drückte durch eine ganz besondere Geste seine Hochachtung aus. Er nahm nämlich sein eigenes Pallium, das Symbol seiner Bischofswürde, vom Hals und platzierte es auf dem gläsernen Sarg des „Engelspapstes“. Deutlicher konnte er seine Verbundenheit wohl kaum ausdrücken. Und auch die Vorgeschichte dieses Besuches, das schwere Erdbeben in L’Aquila am 6. April 2009, war wie ein Zeichen – denn obwohl die Kirche, in der er bestattet wurde, damals schwerste Beschädigungen erlitt, blieb der gläserne Reliquienschrein völlig unversehrt. Ich denke schon, dass diese Begegnung mit seinem heiligen Vorgänger in Benedikt XVI. etwas ausgelöst hat. Deshalb sage ich: Vergessen wir die fünf anderen Fälle! Es gibt nicht sechs, es gibt auch nicht zwei, sondern nur ein Vorbild, einen Präzedenzfall für seinen Rücktritt – und der ereignete sich vor 719 Jahren. Es ist die Geschichte eines der heiligsten Männer, die je auf dem Thron Petri gesessen hatten. Wir werden also gerade Zeugen eines Jahrtausendereignisses, des letzten Aktes eines Pontifikats, das von Demut und Weisheit geprägt war. Vor unseren Augen wird nicht nur Kirchengeschichte geschrieben. Nein, es offenbart sich noch einmal die Heiligkeit dieses Amtes und die wahre Größe unseres Papstes. Gott segne Benedikt XVI.!

Tkachova: Danke, Herr Hesemann

Benedikt XVI. 2009 am Grab Coelestins V. in L´Aquila




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