1. April 2013 in Spirituelles
Jahrhundertelang war das Grabtuch Jesu, dieses einzigartige Zeugnis der Passion Christi, dieses zarte Negativ-Abbild des nackten Gekreuzigten, ein gut gehütetes Geheimnis Von Paul Badde / Die Welt.
Rom (www.kath.net/ Die Welt)
Ein winziger Raum im Labyrinth der Altstadt Jerusalems ist die Herzkammer der Christenheit. Es ist jenes Felsengrab, wo Jesus von Nazareth nach seiner Hinrichtung auf einem Verbrecherhügel vor der Stadtmauer am 6. April des Jahres 30 beigesetzt wurde - kurz bevor die Venus am Abendhimmel sichtbar wurde: bevor Pessach begann, das große jüdische Fest vom "Vorübergang Gottes", in der Erinnerung an die Befreiung des Volkes Israel aus der Sklaverei der Ägypter. Das Grab wurde später zugeschüttet, überbaut und wieder freigelegt, zerstört und wiederaufgebaut.
Ursprünglich hatte Joseph von Arimathäa, ein Mitglied des Sanhedrin, des Hohen Rates, den Raum für sich in den Felsen schlagen lassen, ihn dann aber dem Leichnam Jesu überlassen, der dem Schuldspruch desselben Hohen Rates zum Opfer gefallen war. Joseph von Arimathäa war es auch, der nach dem Zeugnis von drei Evangelisten an diesem Tag im Basar eine Sindon hatte kaufen lassen: ein langes Leintuch, in dem er Jesus "nach jüdischer Begräbnissitte" bestatten lassen wollte. Es ist das gleiche Tuch, das seit damals eine unvergleichliche Karriere machte.
Den Anfang dieser Laufbahn der Leinwand können wir bei Johannes nachlesen, einem Augenzeugen der Ereignisse. Zwei Nächte nach der Hinrichtung hatte Maria aus Magdala ihn und Petrus in der Morgendämmerung alarmiert. Irgendetwas sei geschehen, rief sie aufgeregt. Das Grab sei leer. Das wollten die beiden sehen. In seinem dramatischen Bericht dieser Minuten schrieb Johannes danach jedoch nicht, dass das Grab leer gewesen sei. Bei ihm heißt es vielmehr an der entscheidenden Stelle: "Da kam auch Simon Petrus, der ihm gefolgt war, und ging in das Grab hinein. Er sah die Leinenbinden da liegen." Johannes beschreibt das Grab also menschenleer, nicht völlig leer. Es lagen Tücher darin.
Wären wir vor einem Gericht, könnten diese Textilien jeden Indizienprozess gewinnen, dass sie identisch sind mit jener "Sindone", die nun vom 10. April an wieder für 44 Tage in Turin ausgestellt wird. Kein einziges Objekt ist weltweit so kompatibel mit diesem Leinen wie jenes "Turiner Grabtuch" aus uraltem Leinen mit Brandschäden und Wasserflecken, das dennoch im Großen und Ganzen die Jahrhunderte unbeschadet überstanden hat. Auf diesem Tuch werden Petrus und Johannes damals also nicht nur die Blutspuren entdeckt haben - als letzte Zeichen der Passion Jesu -, sondern auch schon ein unerklärlich zartes Negativ-Abbild des nackten Gekreuzigten.
Er hat die Hände über der Scham verschränkt. Er ist übersät mit Wunden. Vor allem aber hat er einen derart majestätischen Ausdruck auf seinem in sich ruhenden Antlitz, dass es den Philosophen Robert Spaemann an Shakespeares "König Lear" erinnert, wo Kent dem verborgenen Monarchen in dessen Elend sagt: "Ich sehe etwas in Ihrem Gesicht, Sir, das ich gern meinen Herrn nennen möchte."
Es ist ein Geheimnis, ein Lichtbild ohne alle Farben, das hier überlebt hat, gegen alle Wahrscheinlichkeit und ohne jeden Widerspruch zu allen Aussagen der Evangelien über die Passion Christi. Es hält forensische Details einer doppelten Auspeitschung mit anschließender Kreuzigung fest, die kein Mensch mehr wissen konnte, seit Kaiser Konstantin im Jahr 320 diese alte persische Hinrichtungsmethode für das römische Weltreich verbot. Das Tuch ist also gleichsam - in rätselhaft deutlicher Bilderschrift - die allererste Seite der Evangelien überhaupt: Es ist das Evangelium der Urgemeinde, aus der Stunde null der Christenheit.
Dass aber weder Johannes noch ein anderer Evangelist das Bild auf dem Tuch später irgendwo erwähnt und auch nicht, dass und wo es aufbewahrt wurde, hat Ursachen, die mit dem jüdischen Bilderverbot nur wenig zu tun haben. Es gab gewichtigere Gründe, die zwingend verständlich machen, warum nicht nur die Existenz des Bildes auf dem Tuch, sondern auch das Grabtuch selbst danach gleich wieder ausgeblendet wurden. Seit fast 2000 Jahren huscht unser Blick deshalb so rasch über die Erwähnung der "Leinenbinden" an dieser überaus entscheidenden Stelle der Evangelien hinweg, als hätten wir sie gar nicht gesehen.
Das fromme Judentum der heutigen Zeit und das Judentum der Zeit Jesu mögen in vielerlei Hinsicht verschieden sein. In einem Punkt jedoch gibt es eine Konstante, die sich in den letzten 2000 Jahren nicht geändert hat. Das ist die Bedeutung der Reinheit in einem festen Kodex von Geboten und Verboten, die sich auf die Küche, die Hygiene und überhaupt alle Bereiche des Lebens beziehen. Das Buch Leviticus in der Bibel ist voll mit genauesten Anweisungen, was der gottgefälligen Reinheit zuliebe alles zu tun und zu meiden ist. Ebenso die Mischna, das Buch der mündlichen Überlieferung.
Diese Bücher helfen auch ungemein bei der Erklärung des Rätsels, wieso sich die Juden durch alle Zerstreuungen und Pogrome als eigenes, von allen anderen Völkern abgesondertes Volk erhalten konnten. Die Hethiter, die Kanaaniter und wie die Völker des Altertums sonst noch alle hießen, haben das nicht geschafft. Die Hebräer hingegen hat ein festes System von Tabuisierungen schon immer streng von allen anderen Völkern geschieden.
"Koscher" - rein - heißt in diesem Zusammenhang das Urwort. Doch auch innerhalb der Reinheit gibt es eine gewisse Hierarchie. Ein Schweineschnitzel in Sahne gegart und mit Shrimps garniert ist zum Beispiel durch und durch unrein. Doch das Widerlichste, was man sich in dieser Welt vorstellen kann, sind Objekte, die mit einer Leiche in Berührung gekommen sind. Grabtücher waren natürlich tabu. Undenkbar, so etwas zu verehren! Die Hochschätzung der Grabtücher Christi durfte also auf keinen Fall bekannt werden. Es wäre das ultimative Totschlagsargument gegen den sogenannten "neuen Weg" der Apostel gewesen. Wie bitte, vor einem Lappen aus einem Grab auf die Knie gehen? Könnte man da nicht gleich ein Schwein anbeten?! Da war ja das Goldene Kalb am Sinai noch gottgefälliger, um das die Israeliten tanzten, während Moses auf dem Berg die Zehn Gebote in Empfang nahm. Kurz, es war nicht nur klug, die Grabtücher augenblicklich zu verstecken. Es war ein Muss im Herzen der jüdischen Welt, wo Jesus von Nazareth am Freitag zuvor noch am Kreuz gehangen hatte. Es ging nicht anders.
Diese Notwendigkeit schuf deshalb auch von Anfang an ein Arkanum, einen Geheimraum im Herzen der Urgemeinde, dessen verborgenes Wissen einfach nicht kundgetan werden konnte. Danach darf sich eigentlich keiner mehr über den "garstigen Graben" des Schweigens wundern, in dem das Grabtuch viele Jahrhunderte lang verborgen blieb. Denn nicht die Bilderschrift war das eigentlich Skandalöse, mit der dem Tuch hier ein allererster Bericht der Passion Christi eingeschrieben war. Das war nur rätselhaft unerklärlich und wunderbar. Wahrhaft skandalös hingegen war es, dass das erste Bilddokument dieses Pessach auf dem unreinsten Material abgefasst war, das sich im Judentum denken ließ.
Mit diesem Tuch war deshalb das jüdische Reinheitsgebot für das "neue Israel", als das sich die frühe Kirche bald verstand, schon in der ersten Nacht endgültig gefallen. Die Tücher aus dem Grab müssen es - vor jedem anderen Dokument - gewesen sein, auf dem erstmals jener Umkehrschub der jüdischen Geschichte manifest wurde, der die moderne Welt bis heute trägt, seit das Judentum im Christentum quasi universalisiert wurde. Denn die Unterscheidung von rein und unrein steht ja wie kein Gebot sonst für die Unterscheidung von drinnen und draußen, "von uns" und "von denen", von Juden und "Goyim", von dem einen Volk und allen anderen Völkern.
Die Gebote der Reinheit bildeten die höchste Mauer, die zwischen Juden und Heiden niedergelegt werden musste, damit die Kirche der Apostel entstehen konnte, in deren Mitte diese Barriere schon für immer in den Grabtüchern zerbrochen war. Dennoch dauerte es danach noch etwa 20 Jahre bis zum letzten Apostelkonzil in Jerusalem um das Jahr 50, auf dem die Aufhebung der Beschneidung für neu getaufte Christen offiziell beschlossen und die jüdischen Reinheitsgebote aus der Lehre der jungen Christenheit verabschiedet wurden. Mit den Grabtüchern war dieser Beschluss schon in der ersten Osternacht vorweggenommen. Mit den Grabtüchern war auch die Trennung der Christen von den Juden schon in jener Nacht vollzogen worden, könnte man denken.
Doch das muss genauer gesagt werden. Denn es war ja keine Trennung, es war eine Verschmelzung. Es war die Verschmelzung von reinen Juden und unreinen Heiden zu jenem neuen Volk, dessen Glieder kurz danach in der Küstenstadt Antiochia erstmals Christen genannt wurden. Sie glaubten, dass Jesus von Nazareth der "Messias", der "Christus", der "Gesalbte Gottes" war, dessen unverwestes Antlitz auf diesem Tuch Tod und Verfall bis heute nicht haben zerstören können.
Foto: © Positiv vom Antlitz Jesu Christi auf dem Turiner Grabtuch, Paul Badde
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