'Das Fehlen von Schuldgefühlen macht uns zum Monster'

4. Juni 2013 in Interview


Der Psychiater Raphael M. Bonelli über Schuld, Verdrängung, Beichte und wie man ein glückliches Leben führen kann. Ein kath.net-Interview von Roland Noé


Wien (kath.net/rn) Raphael Bonelli (Foto) lehrt und forscht an der Sigmund-Freud-Privatuniversität. Er leitet das "Institut für Religiosität in Psychiatrie und Psychotherapie" (RPP), außerdem ist er Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin in Wien. Im kath.net-Interview spricht er über Schuld, Verdrängung, Beichte und wie man ein glückliches Leben führen kann.


kath.net: Herr Dozent Bonelli, Ihr neues Buch „Selber schuld!“ ist auf dem besten Weg, ein Bestseller zu werden. Wie kommt es zu diesem Titel?

Univ.-Doz. Dr.Dr. Raphael M. Bonelli: Eigentlich haben mir meine Patienten zu diesem Titel verholfen. Einer zum Beispiel kam zu mir in die Therapie, weil er Tipps wollte, wie er mit seiner „fürchterlichen Frau“ umgehen solle. Nachdem er mehrere Therapiestunden damit verbracht hatte, mir zu schildern, wie schrecklich seine Frau ihn behandle und dass eigentlich sie zum Psychiater müsse, versuchte ich, seine Fähigkeit zur Selbstkritik zu erfahren.

Also fragte ich ihn, ob er vielleicht auch einen kleinen Anteil an dem Ehekonflikt hat, worauf er mir aggressiv entgegen schleuderte: „Glauben Sie vielleicht, ich bin selber schuld??“ Spätestens da wusste ich: Ich sollte ein Buch über Schuldverdrängung schreiben.

kath.net: Aber warum ist der Herr so aggressiv geworden? Immerhin haben Sie ihn nichts Schlimmes gefragt…

Bonelli: Das war eben eine Abwehrreaktion, die die bedrohlich erlebte Objektivierung seiner subjektiven Konflikterklärung aggressiv abzuwehren sucht.

Doch genau diese Aggression ist es, die den Menschen entlarvt, die zeigt, was er nicht im Griff hat, wo etwas im Unterbewussten brodelt.

Denn es gibt drei Arten von Menschen, die jeden eigenen Anteil an Schuld als so bedrohlich empfinden dass sie ihn unbedingt verdrängen müssen:

Erstens der Perfektionist, der sein hohes Ideal mit einer ängstlichen Verbissenheit anstrebt, denn es darf nicht sein, dass er das selbstdefinierte Ideal nicht erreicht. Er hält die natürliche Spannung zwischen dem Soll- und dem Ist-Zustand nicht aus. Das nennt man in der Sozialpsychologie auch kognitive Dissonanz: Der Mensch sehnt sich danach, dass sein Denken und sein Handeln kongruent sind, deswegen bekämpft er dieses Störgefühl, diese kognitive Dissonanz auf unterschiedliche Weise bis Meinungen, Einstellungen, Wahrnehmungen und Wünsche wieder stimmig sind. Das ist der Fehler der Pharisäer.

Dadurch werden die eigenen Fehler und Unvollkommenheiten verdrängt. Er ist beispielsweise überzeugt, dass er die zehn Gebote im Prinzip eh alle super erfüllt und schon beim Soll-Zustand angekommen ist. Das ist dann Selbstbetrug par excellence.

Eine Variante der perfektionistischen Reaktion wäre auf der anderen Seite, die moralische Anforderungen - beispielsweise die Normen der Kirche - umzudeuten, weil man sie nicht erreichen kann. Der Perfektionist missversteht, dass der Mensch sich ein Leben lang auf ein Ideal hin orientiert ohne es je zu erreichen – aber gerade diese Spanne macht Entwicklung möglich.

Die Spanne zwischen Soll und Ist wird vom Perfektionisten als so bedrohlich weil unerreichbar erlebt, dass er dann zum Beispiel feststellt, dass die Kirche einfach nicht modern ist und eigentlich mit der Zeit gehen soll.

kath.net: Was wäre der zweite Typ?

Bonelli: Der zweite Typ ist die Ichhaftigkeit – eine Entdeckung des Psychiaters Fritz Künkel. Der ichhafte Mensch sieht in jeder Handlung nur sich selbst. Wenn er einem Greis über die Straße hilft, dann denkt er nicht: „Zum Glück konnte dem Herrn geholfen werden“, sondern „Wiedermal habe ICH geholfen. Wenn ICH nicht da gewesen wäre... Hoffentlich hat man MICH dabei gesehen.“

Sein Denken ist nach Künkel nicht sachlich und wir-haft, sondern ich-haft und damit unsachlich. Die Angst um sich selbst lähmt ihn richtiggehend, er kann Transzendentes schwer wahrhaben, weil er in sich selbst gefangen bleibt.

kath.net: Und der dritte Typ...?

Bonelli:... ist der Narzisst. Er kann nicht anders, als sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen, er ist richtiggehend selbstverliebt. Während die Ichhaftigkeit eine Neurose ist, ist das eine Persönlichkeitsstörung – sitzt also noch tiefer drinnen.

Der Narzisst geht mit Selbstverständlichkeit an einer Menschenschlange vorbei, anstatt sich hinten einzureihen – das wäre unter seiner Würde.

Der Narzisst ist somit leicht zu kränken, wenn man ihn auf die Wirklichkeit aufmerksam macht. Dieses Wegschieben der Wahrheit erhöht sein Stressniveau enorm und auch er ist unfrei.

kath.net: Aber würde man nicht viel leichter leben, wenn man die eigene Schuld einfach verdrängt? Dann hätte man keine quälenden Schuldgefühle mehr...

Bonelli: Nein, eben nicht. Die Verdrängung der Schuld macht unfrei, beziehungsunfähig und verbittert. Unfrei, weil sie die Verbesserung des Menschen verunmöglicht und man sich an das Schlechte gewöhnt – das nennt man dann Laster.

Beziehungsunfähig, weil eine Partnerschaft schwer lebbar ist, in der eine Seite jeglichen Anteil am Konflikt leugnet und somit immer dem anderen die Schuld in die Schuhe schiebt.

Und verbittert, weil man durch diese Fehlhaltung immer mehr den Eindruck bekommt, man muss immer wieder Unrecht erleiden und tut nie selber Unrecht. Dadurch verheddert man sich in der Opferfalle.

kath.net: Sind Schuldgefühle gut oder schlecht?

Bonelli: Da muss man zwischen gesunden und kranken Schuldgefühlen unterscheiden:

Pathologische Schuldgefühle kommen beispielsweise vor, wenn man unter Depressionen, einem Versündigungswahn, neurotischen Skrupel oder einer selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung leidet. Diese Schuldgefühle sind nicht gerechtfertigt, da steht keine Schuld dahinter. Das zu therapieren ist Aufgabe des Arztes.

Meistens sind Schuldgefühle aber gesunde Schuldgefühle – und diese sind etwas Gutes! Das bedeutet: wir haben Schuldgefühle, weil wir schuldig geworden sind.

Da ich Mediziner bin, vergleiche ich Schuld gerne mit Schmerz: Wenn mein Knie schmerzt, dann werde ich damit auf einen Schaden aufmerksam gemacht, ich schone mein Knie und gehe sobald wie möglich zum Arzt, um den Schaden zu beheben. Auch Schuldgefühle sind Schmerzen, sie zeigen auf einen Schaden im sozialen Gefüge.

Das Fehlen von Schmerz ist sehr gefährlich, das Fehlen von Schuldgefühlen macht uns alle zu Monstern. Schauen Sie auf Hitler, Lenin, Stalin – diese Menschen hatten kein Sensorium für Schuldgefühle.

Es gibt aber auch einen pathologischen Schmerz: das heißt ein Schmerz, hinter dem kein Schaden steckt.

kath.net: Was ist Schuld aus psychologischer Sicht?

Bonelli: Als Psychiater dürfen wir selbst keine Schuld „diagnostizieren“, das ist nicht unsere Aufgabe, aber die Patienten kommen mit diesem Thema im Kopf zu uns. Und Schuld wird ganz einfach so erlebt: „Was du nicht willst, dass man dir tut, das füg‘ auch keinem andren zu“. Ähnlich auch der kategorische Imperativ von Immanuel Kant.

Es ist immer wieder bemerkenswert, wie selbst der gröbste Psychopath zum „Gerechtigkeitsfanatiker“ wird, wenn ihm selbst Unrecht angetan wird – diese Beobachtung stammt übrigens vom Psychoanalytiker Albert Görres.

kath.net: Was macht Schuld mit unserer Psyche?

Bonelli: Ok, da spreche ich jetzt ausschließlich als Psychiater und nicht als Theologe. Wirkliche persönliche Schuld, die nicht aufgearbeitet wurde, für die man nicht um Ent-schuldigung gebeten hat, ist – frei nach dem angesehenen US-Psychiater Robert Cloninger - in drei Dimensionen unvorteilhaft: Als erstes bewirkt sie einen Schaden in der inneren Ordnung des Menschen, in der Innerlichkeit. Zweitens schädigt sie die Empathiefähigkeit und die Beziehung zum anderen: Man vereinsamt. Und drittens hat die unaufgearbeitete Schuld auch eine transzendente Dimension.

kath.net: Wie geht man richtig mit der eigenen Schuld um?

Bonelli: Ein geglückter Umgang mit Schuld beinhaltet erstens die Bereitschaft zur Selbsterkenntnis. Ich weiß, ich bin ein Mensch und mache Fehler – wenn ich keine Fehler an mir sehe, dann kann da was nicht stimmen. Dann ist es Zeit für eine Gewissenserforschung.

Zweitens muss man es aushalten können, dass man in irgendetwas einfach nicht gut bin, fehlerhaft, defekt – das könnte man Imperfektionstoleranz nennen. Das ist heilsam für den Perfektionismus. Man kann damit meinem Gegenüber leichter zugestehen, dass er etwas besser kann, das hat dann nichts Bedrohliches mehr.

Drittens und letztens muss man zu einem Schuldeingeständnis fähig sein, man muss um Entschuldigung bitten können bei dem, gegen den man schuldig geworden ist.

kath.net: Als Katholik hat man ja die Möglichkeit, zur Beichte zu gehen…

Bonelli: Ja, aus psychodynamischer Sicht ist die Beichte eine beeindruckende Möglichkeit, in seinem Leben zu wachsen.

Sich hinzuknien, sich unterzuordnen unter eine transzendente Wirklichkeit, seine eigenen Fehler zu sehen und zu bekennen – das hat einen gesunden Einfluss auf die Psyche.

Die Kirche sagt, jeder Katholik soll mindestens ein Mal pro Jahr zur Beichte gehen – und das ist etwas unglaublich Befreiendes, denn damit sagt sie auch: Jeder normale Mensch sündigt mindestens ein Mal pro Jahr. Kein Mensch ist fehlerlos. Das anzunehmen fällt dem Perfektionisten schwer.

kath.net: Ist das Buch "Selber schuld!" auch ein Resultat Ihrer persönlichen Beichterfahrung?

Bonelli: Naja, das Buch ist in erster Linie ein Resultat meiner Erfahrung als Psychiater, aber natürlich schreibt jeder Autor aus seinem persönlichen Erfahrungsschatz, insofern ist das sicherlich mit eingeflossen.

Schon aus psychotherapeutischer Sicht halte ich die Beichte nämlich für eine sensationelle Einrichtung, ganz abgesehen von der Ebene der Gottesbeziehung.

kath.net: Der ORF hat behauptet, Sie selber würden selber regelmäßig beichten und täglich die Messe besuchen. Stimmt das?

Bonelli: Ich habe Scheu, mein Glaubensleben öffentlich zur Schau zu stellen - und ich glaube, das ist gut so, denn dieses natürliche Schamgefühl schützt etwas sehr Intimes. In Wirklichkeit ist Innerlichkeit auch gar nicht mit Worten ausdrückbar.

Aber ich kann zumindest sagen, dass ich die Sakramente meiner Kirche sehr schätze und sie über das gebotene Mindestmaß hinaus in Anspruch nehme. Ich glaube, das Hinausgehen über das Mindestmaß ist eine natürliche Folge einer lebendigen Gottesbeziehung – es wird aus einer Liebessehnsucht heraus zu einer mühelosen Selbstverständlichkeit. Und bildet dann das Zentrum und die Kraftquelle des Tages.

Die Sakramente geben mir Ruhe und Zugang zu einer beglückenden Tiefe der Gottesbeziehung und damit mehr Kraft, zuzuhören und zu helfen.

Je mehr ich mit Gott im Reinen bin, umso mehr kann ich aus mir herausgehen und so ganz für meine Patienten da sein.

Beichten hilft mir, mich selbst regelmäßig kritisch zu hinterfragen und meine Schuld religiös aufzuarbeiten.

Kath.net: Die Salzburger Nachrichten haben Sie kürzlich in die Nähe des Opus Dei gerückt. Das war auch schon im "Spiegel" zu lesen. Wie ist Ihr Verhältnis zu dieser katholischen Einrichtung?

Bonelli: Also, ich bin zuallererst ein zufriedener Katholik, halte die Lehre meiner Kirche für wahr und versuche, mein Leben danach auszurichten. Das Opus Dei kenne ich seit meiner Geburt, weil einige meiner engsten Verwandten dort Mitglied sind. Ich selbst bin nicht Mitglied des Opus Dei. Doch ich bin mit vielen Menschen dieser Gemeinschaft - wie mit denen anderer katholischer Einrichtungen - freundschaftlich verbunden.

kath.net: Herzlichen Dank für das Interview

kath.net-Lesetipp:
Selber schuld! Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen
von Raphael M. Bonelli
2013 Pattloch
ISBN 978-3-629-13028-0
Preis: 20.60 EUR

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Video: Vortrag für Jugendliche - Raphael Bonelli und Dorothea Schlee, Pöllau Jugendtreffen - Jugend und Sexualität - 12. Juli 2012


BEICHTE - Impuls ohne Worte (´Restored´- Steubenville Confession Film 2012)



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