Jesu Lebenshingabe für uns ist das Geheimnis der Eucharistie

14. September 2013 in Deutschland


DBK-Vorsitzender Zollitsch bei Stuttgarter Dialoginitiative: Liturgie feiern heißt Jesu Leben, Leiden, Sterben und seine Auferstehung zu verinnerlichen; dann gibt dies uns die Gewissheit: die Mitte unseres Lebens und Zusammenlebens ist nicht leer


Stuttgart (kath.net/dbk) kath.net dokumentiert die Predigt „Jesus Christus ist unsere Mitte, Gottes Liebe unsere Kraft“ des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Dr. Robert Zollitsch, in der Eucharistiefeier anlässlich des Jahresgesprächs „Liturgie – Dem Heiligen begegnen – heute Gott verehren“ am 14. September 2013 in Stuttgart, Fest Kreuzerhöhung in voller Länge:

Schrifttexte: Phil 2,6-11; Joh 3,13-17

Liebe Schwestern und Brüder in der Gemeinschaft des Glaubens! Es ist still geworden, um den Dichter Reinhold Schneider. Er starb – ein halbes Jahr bevor Angelo Giuseppe Roncalli zum Papst Johannes XXIII. gewählt wurde – am Ostersonntag 1958 in Freiburg. Unser Deutschlehrer in der Oberstufe des Gymnasiums hatte uns angehalten, einen Wahlschriftsteller zu suchen. Und ich hatte mich für Reinhold Schneider entschieden. So verfolgte ich seinen Weg und sein Schaffen mit besonderer Aufmerksamkeit. In schwerer Zeit, in den Jahren des Zweiten Weltkrieges, hat Reinhold Schneider mit seinen Gedichten, Gebeten und Novellen unendlich viele Menschen aufgerichtet und gestärkt. Doch am Ende seines Lebens umgab ihn eine Gottesfinsternis, in der ihm nur noch der Blick auf den Gekreuzigten Halt gab. Seine letzte Veröffentlichung „Winter in Wien“ berichtet erschütternd davon.

1. In einer seiner Novellen geht er der Frage nach: Was wäre, wenn uns der Blick zum Gekreuzigten genommen wäre? In dieser Erzählung mit der Überschrift „Die Schächer ohne den Herrn“ wird folgendes berichtet: Es war im Jahre 1566. In den flandrischen Landen herrschte Aufruhr. Mit einem Hass, der rätselhaft bleibt, wandten sich die aufgewühlten Volksmassen gegen die herrlichen, alten Kirchen im Land. Bauwerke wurden ausgeraubt und geschändet. Heiliges schien über Nacht für die Menschen unheilig zu werden

Eines Tages vergriffen sich die Aufrührer an einer mächtigen, alten Kreuzigungsgruppe. Sie stürzten das mittlere Kreuz um, während sie die Kreuze der beiden Schächer stehen ließen. Die Aufrührer zerschlugen das göttliche Bild; die Bilder der Schächer schonten sie. Denn in ihnen erkannten sie wohl das Abbild ihres eigenen Wesens wieder.

2. So entstand ein Sinnbild, führt Reinhold Schneider aus, das der Menschengeist gar nicht hätte ersinnen können: die Schächer ohne den Herrn. Eine furchtbare Lücke klafft zwischen den beiden Kreuzen. Nun ist auch dem die Hoffnung genommen, der Reue gezeigt hat; er, der Reumütige, dem der Herr das Paradies verheißen hatte, ist verloren. Denn der Herr, der ihn dahin führen wollte, war ihm entrissen. Der Mittler war verschwunden, die Mitte war leer.

Wenn wir uns in diesen Tagen intensiv der Frage nach der Begegnung mit dem Heiligen in der Liturgie stellen, nach der Verehrung Gottes im 21. Jahrhundert, dann geht es um die zentrale Frage der Mitte unseres Glaubens, um den Mittler zwischen Gott und uns Menschen. Reinhold Schneider will mit seiner Novelle auch uns provozieren und zum Nachdenken anregen: Was ist die Mitte meines Lebens? Was ist das Zentrum unseres Zusammenlebens als Gemeinschaft des Glaubens? Finden unsere kirchlichen Aktivitäten ihre Mitte in Jesus Christus? Was wäre die Welt ohne den, den sie in der Mitte gekreuzigt haben und der den Namen Jesus von Nazareth trägt? Wir wären ohne Perspektive und Hoffnung auf Zukunft hin. Wir wären ohne jene Kraft der wehrlosen Liebe Gottes, die auch über Abgründe hinweg trägt. Ohne den Gekreuzigten wüssten wir nicht, dass Gott uns Menschen so sehr liebt, dass er selbst mit uns leiden und für uns sterben will. Denn so haben wir es eben im Evangelium gehört: „So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab“(Joh 3,16). Das Kreuz in der Mitte offenbart uns zum einen, wozu menschliche Gewalttätigkeit fähig ist. Es offenbart uns aber zugleich auch Gottes Gewaltlosigkeit. So will uns nicht nur das Fest Kreuzerhöhung, das wir heute begehen, sondern jede Feier der Liturgie bewusst machen: Wir sind nicht mit Gewalt erlöst, sondern durch die Teilnahme Gottes an unserer Ohnmacht; durch sein Mitleiden, seine überströmende Liebe und seine Treue bis in den Tod am Kreuz. Gott hält sich die Wunden der Menschen nicht vom Leib; er trägt sie selbst. Das ist der Weg, den Gott zu unserem Heil gegangen ist. Das ist die Botschaft, die wir zu verkünden haben.

3. Doch diese Botschaft, die vom Kreuz ausgeht, weckt immer auch Fragen und Ablehnung. Schon der Kirchenvater Bischof Aurelius Augustinus (354-430) schreibt: „Seit das Kreuz aufgerichtet ist, stößt es auf Widerstand“. Seit dem Beginn der christlichen Verkündigung bis heute meldet sich der Widerstand von Menschen, die es für einen Skandal hielten und halten, einen göttlichen Welterlöser zu verkünden, einen Erlöser, der am Kreuz, am „Verbrecherpfahl“ seinen Tod gefunden hat. Für viele ist der scheinbar ohnmächtige Gott am Kreuz nur schwer zu ertragen. Nicht wenige fragen: Sollte er seine Macht und Gottheit nicht eher dadurch aufzeigen, dass er handelt, dass er Leid und Not aus dieser Welt verbannt und nicht, indem er am Kreuz scheitert und stirbt?

Ist dieser Einwand so abwegig? Wünschen nicht auch wir uns oft einen Gott, der das Böse entlarvt und zunichte macht? Einen Gott, der endlich dem Terror, der Gewalt und dem Unfrieden in der Welt Einhalt gebietet? Einen Gott, der das unfassbare Leid in Krankheit und Tod aus unserem Leben verbannt? Ein solcher Gott wäre er uns manches Mal lieber als der Anblick der wehrlosen Liebe Gottes am Kreuz? Wie kaum ein anderer weiß der Apostel Paulus um solche Fragen und Überlegungen. Sie haben ihn und die Gemeinde in Korinth damals ebenso wie uns heute umgetrieben. Doch seine Antwort ist eindeutig. So schreibt er ohne Wenn und Aber: „Dagegen verkündigen wir Christus als den Gekreuzigten: für Juden ein empörendes Ärgernis, für Heiden eine Torheit, für die Berufenen aber, Juden wie Griechen, offenbart sich in ihm Gottes Kraft und Gottes Weisheit“ (1 Kor 1,23f.).

4. Für den, der glaubt, Schwestern und Brüder, enthüllt sich das Kreuz als die verborgene Kraft Gottes. Das Kreuz stößt wirklich seit es errichtet ist, auf Widerstand; aber zugleich ist es Zeichen unüberbietbaren Gottvertrauens. Es ermächtigt uns, unser Leben auf Gott auszurichten und so durch Jesus Christus zu einem Leben in Fülle (Joh 10, 10) zu gelangen. Deshalb hat es einen tiefen Sinn, wenn wir in der Karfreitagsliturgie vertrauensvoll singen: „Im Kreuz ist Heil, im Kreuz ist Leben, im Kreuz ist Hoffnung“. Gottes Gegenwart in unserer Ohnmacht verwandelt sie. Gottes Gegenwart in unserer Nacht lässt uns auf den neuen, endgültigen Morgen hoffen. Gottes Gegenwart in unserer Not wendet sie von Grund auf. Freilich nicht in dem Sinn, dass es sie fortan nicht mehr gäbe. „Überwunden“ hat er sie vielmehr so, dass Leid und Sünde uns nicht mehr überwinden und vernichten können. Zwar werden wir all das, was menschliches Kreuz heißt und ist, oft nicht verstehen; aber wir werden es bestehen können.

5. Liebe Schwestern und Brüder im Herrn! Wer sich an ihn, den Gekreuzigten, hält, erfährt diese Kraft Gottes. Davon hat die Liturgie zu künden. Auf ihn, den Gekreuzigten, schauen: das ist eine Kraft, die uns für den Alltag stärkt und auch über Abgründe trägt. Viele von uns kennen die Erfahrung, dass in einer schweren, notvollen, dunklen Stunde der Blick zum Gekreuzigten oft mehr zu geben vermag als alle menschlichen Worte. Was aber, wenn diese Mitte fehlen würde? Wenn wir in diesen Tagen uns neu und vertieft auf die Begegnung mit Jesus Christus in der Liturgie besinnen, dann heißt Liturgie feiern: sein Leben, Leiden, Sterben und seine Auferstehung zu verinnerlichen; dann gibt dies uns die Gewissheit: die Mitte unseres Lebens und Zusammenlebens ist nicht leer, wie dies bei jener flandrischen Kreuzigungsgruppe der Fall war, von der uns Reinhold Schneider erzählt. Jesus Christus selbst ist die Mitte. Ohne ihn wird unser kirchliches Leben hohl und zum blinden Aktionismus. Er selbst will die Kraft sein, die uns immer mehr durchdringt. So soll auch für uns mehr und mehr zutreffen, was der Apostel Paulus von sich bekennt: „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir. Soweit ich aber jetzt noch in dieser Welt lebe, lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat“. (Gal 2,20).

6. Seine Lebenshingabe für uns ist das Geheimnis der Eucharistie. In ihr ist wie in einem Prisma das Ganze unseres Glaubens und unserer Hoffnung zusammengefasst. Gemeinsam Eucharistie zu feiern, hat Jesus selbst uns aufgetragen. Diesen Auftrag - zu seinem Gedächtnis – hören wir immer neu im eucharistischen Hochgebet. In der Mitte dieses Gebets stehen die Abendmahlsworte, die uns in den ersten drei Evangelien überliefert sind. Wo immer sie gesprochen werden, geschieht aber mehr als bloße Erinnerung an das, was vor zweitausend Jahre geschehen ist. Es geht nicht um eine vergangene Geschichte. Vielmehr vollzieht sich in dieser Memoria, in dieser Erinnerung, die Gegenwart des Herrn. Er wird gegenwärtig mit seiner Hingabe am Kreuz: „Das ist mein Leib; das ist mein Blut“. Das wird im Heute gesagt.

In seinen „Bekenntnissen“ schildert der hl. Bischof Augustinus eine Art Vision, in der er eine Stimme hört, die zu ihm sagt: „Ich bin das Brot der Starken, iss mich! Doch nicht du wirst mich in dich verwandeln, sondern ich werde dich in mich verwandeln.“ Beim gewöhnlichen Essen ist es so, dass der Mensch der Stärkere ist. Er nimmt die Dinge auf und sie werden in ihn assimiliert. Sie werden in ihn umgewandelt und bauen seine leibliche Existenz auf. Aber im Zueinander mit Christus ist es umgekehrt. Er ist die Mitte; er ist der Eigentliche. Wenn wir ihn wahrhaft kommunizieren, heißt das: Wir werden aus uns herausgenommen und in ihn hineingenommen. Wir werden eins mit ihm und verwandelt: unsere Angst in Vertrauen, unsere Wunden in Quellen des Lebens, unsere Zerrissenheit in Ganzheit, unsere Leidenschaft in kraftvolle Suche nach Gott, in einen Einfallsort für die Gnade Gottes.

7. Liebe Schwestern, liebe Brüder, wenn ich Gott, der sich in Jesus Christus selbst seiner Macht entäußert hat, wie wir es vorhin im Philipperhymnus gehört haben, die Ehre gebe und ihm, dem wahrhaft Heiligen begegne, werden Demut, Bescheidenheit und Nachsicht zu wesentlichen christlichen Tugenden. Die Feier der Liturgie und die gläubige Praxis im Alltag gehen fließend ineinander über; die Feier der Liturgie will Herz und Sinn wandeln: Wer aus der Eucharistie lebt, wird andere Menschen nicht klein machen, um selbst groß herauszukommen. Denn gerade darin liegt ja eine der Grundversuchungen unseres Menschenseins, größer, lauter, erhabener sein zu wollen als die anderen, mehr zu gelten als meine Mitmenschen. Und vor dieser Versuchung sind auch wir Christen nicht gefeit, etwa christlicher sein zu wollen als unsere Mitchristen, überzeugender, als die anderen, gebildeter, begabter. Diesem urmenschlichen Trachten nach der eigenen Größe und dem eigenen Glanz trat der Patron dieser Kirche, der heilige Fidelis von Sigmaringen unermüdlich entgegen. Davon zeugt ein Eintrag in seinen Aufzeichnungen, in denen er inständig bittet: „Gütigster Jesus, bewahre mich davor, dass ich je einen Menschen verachte, gering schätze, ihn herabsetze oder mich von ihm abwende – und mag er mich noch so hassen und verfolgen. Lass in mir niemals Hass oder eine bittere Empfindung gegen ihn aufkommen, und lass nicht zu, dass ich an seiner Besserung zweifle, solange er lebt.

Schwestern und Brüder, in seiner Novelle hat Reinhold Schneiders das Geschehen in Flandern als ein erschütterndes Fanal gesehen: die Mitte der Kreuzigungsgruppe ist leer. Dagegen dürfen wir heute dankbar bekennen: die Mitte zwischen all dem, auch dem, was Kreuz ist, ist nicht leer. Wo immer wir auf dieses Zeichen des Kreuzes schauen, dürfen wir ihm begegnen als dem Heiligen; ihn, den treuen und liebenden Gott, verehren. Denn so singen wir es im Glorialied: „Du allein bist der Heilige, du allein der Herr, du allein der Höchste: Jesus Christus“. Christsein heißt: Die alles tragende, die alles bergende und rettende Mitte meines Lebens ist der gekreuzigte und auferstandene Herr. Er führt uns zusammen. Er ist unsere Kraft. In der eucharistischen Speise will er sich uns auch jetzt schenken. Davon leben wir.
Amen.

Foto Erzbischof Zollitsch (c) Erzbistum Freiburg


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