Papst Franziskus: Ich bin ein Sünder!

26. September 2013 in Aktuelles


Jesuitenzeitschriften Civilta' Cattolica und "Stimmen der Zeit" veröffentlicht umfassendes Interview mit Papst Franziskus - ACHTUNG: Korrigierte Version des Interviews. Stand 25.9.


Rom (kath.net)
Papst Franziskus hat in einem am Donnerstag veröffentlichten Interview gegenüber der Jesuiten-Zeitschrift Civilta' Cattolica zu zahlreichen Themen Stellung genommen. Das Interview führte Antonio Spadaro SJ, Direktor von Civilta' Cattolica. In dt. Sprache wurde das Interview von "Stimmen der Zeit" veröffentlicht. [Anm.: Dies ist die korrigierte Version, Stand 25.9.2013]

Santa Marta, Montag, 19. August 2013, 9.50 Uhr

Es ist Montag, der 19. August. Papst Franziskus hat mir für 10 Uhr ein Treffen mit ihm im Gästehaus Santa Marta gewährt. Von meinem Vater habe ich die Gewohnheit geerbt, immer vor der vereinbarten Zeit einzutreffen. Die Personen, die mich empfangen, lassen mich in einem kleinen Saal Platz nehmen. Aber ich brauche nicht lange zu warten: Schon nach wenigen Minuten werde ich zum Aufzug begleitet. In diesen zwei Minuten habe ich Zeit, mich daran zu erinnern, dass (Mitte Juni 2013) in Lissabon bei einem Treffen von Chefredakteuren einiger Jesuiten-Zeitschriften der Vorschlag aufgetaucht war, wir sollten alle gemeinsam ein Interview mit dem Papst veröffentlichen. Ich hatte mit den anderen Chefredakteuren darüber diskutiert und einige Fragen entworfen, die die Interessen aller zum Ausdruck bringen würden. - Als ich den Aufzug verlasse, sehe ich den Papst, der mich schon an der Tür erwartet. Ja, ich hatte tatsächlich den angenehmen Eindruck, durch keine Türen gegangen zu sein.

Ich betrete sein Zimmer, und der Papst lässt mich auf einem bequemen Stuhl Platz nehmen. Er selbst setzt sich auf einen höheren und härteren Sessel - wegen seiner Rückenprobleme. Das Ambiente ist einfach, ja karg. Der Arbeitsplatz am Schreibtisch ist sehr schlicht. Ich bin betroffen von der Schlichtheit der Ausstattung. Es gibt wenige Bücher, wenig Papier, wenige Kunstgegenstände. Darunter eine Ikone des heiligen Franziskus, eine Statue Unserer Lieben Frau von Luján, der Schutzpatronin Argentiniens, eine Statue des schlafenden heiligen Josef, die jener sehr ähnlich ist, die ich schon in dem Zimmer gesehen hatte, das er als Rektor und Provinzial am Colegio Máximo von San Miguel bewohnt hatte. Die Spiritualität von Bergoglio setzt sich nicht aus »harmonisierten Energien« zusammen, wie er es nennen würde, sondern aus menschlichen Gesichtern: Christus, der heilige Franziskus, der heilige Josef, Maria.

Der Papst empfängt mich mit dem Lächeln, das inzwischen vielfach um die Welt gegangen ist und die Herzen öffnet. Wir beginnen, über verschiedene Themen zu sprechen, aber vor allem über seine Brasilienreise. Der Papst betrachtet sie als eine wahre Gnade. Ich frage ihn, ob er sich ausgeruht habe. Er bejaht das, sagt, es gehe ihm gut, aber vor allem sei der Weltjugendtag für ihn ein »Mysterium« gewesen. Er sagt mir, dass er bis dahin nicht gewohnt gewesen war, vor so großen Menschenmassen zu sprechen: »Es gelingt mir, die einzelnen Personen, eine nach der anderen, anzuschauen, in persönlichen Blickkontakt mit denen zu treten, die ich vor mir habe. An die Massen habe ich mich noch nicht gewöhnt.«

Ich sage ihm, dass das stimmt und dass es alle berührt. Man sieht es: Wenn er unter Menschen ist, ruhen seine Blicke tatsächlich immer auf den Einzelnen. Dann projizieren die Fernsehkameras die Bilder, die alle sehen können; aber so kann er sich frei fühlen, wenigstens direkt in persönlichem Augenkontakt mit denen zu treten, die er vor sich hat. Mir scheint, dass es ihm gefällt, diesen direkten Augenkontakt mit Personen zu haben, die er vor sich sieht; das heißt, dass er der sein kann, der er tatsächlich ist, und seine gewohnte Art, mit den anderen zu kommunizieren, nicht ändern muss, auch wenn er Millionen Menschen vor sich hat, wie es am Strand von Copacabana der Fall war.

Bevor ich das Aufnahmegerät einschalte, sprechen wir auch über andere Dinge. Als er eine Publikation von mir kommentiert, sagt er, dass die zwei von ihm besonders geschätzten zeitgenössischen französischen Denker Henri de Lubac1 und Michel de Certeau2 seien. Auch ich sage ihm etwas eher Persönliches. Dann spricht er über sich und insbesondere über seine Wahl zum Papst. Er sagt mir: Als ihm das Risiko, gewählt zu werden, am Mittwoch, dem 13. März, beim Mittagessen bewusst geworden sei, habe er einen tiefen und unerklärlichen Frieden und einen inneren Trost gespürt - zugleich mit einer völligen Dunkelheit, einer tiefen Finsternis. Und diese Gefühle haben ihn bis zur Wahl begleitet.

Ich würde gern noch länger so vertraut mit ihm reden, aber nun nehme ich doch die Blätter, auf denen ich einige Fragen notiert habe, und schalte das Aufnahmegerät ein. Zunächst danke ich ihm im Namen aller Chefredakteure der Jesuiten- Zeitschriften, die dieses Interview veröffentlichen werden.

Kurz vor der Audienz, die er den Jesuiten der Civiltà Cattolica gewährte,3 hat der Papst mir gegenüber geäußert, dass er große Schwierigkeiten habe, Interviews zu geben. Er sagt mir, er ziehe es vor, mehr nachzudenken, statt in Augenblicksinterviews aus dem Stand Antworten zu geben. Er spüre, dass ihm die richtigen Antworten erst kommen, nachdem er die erste Antwort gegeben hat. »Ich habe mich selbst nicht wiedererkannt, als ich auf dem Rückflug von Rio de Janeiro den Journalisten, die mir die Fragen stellten, antwortete«, sagt er zu mir.

Aber es stimmt: In diesem Interview fühlt sich der Papst mehrmals so frei, das, was er auf eine Frage antwortet, zu unterbrechen, um zur vorherigen Antwort noch etwas hinzuzufügen. Ein Gespräch mit Papst Franziskus ist wie ein Vulkanstrom von Ideen, die sich miteinander verknüpfen. Selbst wenn ich mir Notizen mache, habe ich das unangenehme Gefühl, einen sprudelnden Dialog zu unterbrechen. Es ist klar, dass Papst Franziskus mehr an Gespräche als an das Ablesen eines vorbereiteten Textes gewöhnt ist.

Wer ist Jorge Mario Bergoglio?

Ich habe die Fragen vor mir, aber ich beschließe, nicht dem von mir vorbereiteten Entwurf zu folgen, und frage den Papst etwas unvermittelt: »Wer ist JorgeMario Bergoglio?« Der Papst blickt mich schweigend an. Ich frage ihn, ob man ihm eine solche Frage stellen darf. Er gibt mir ein Zeichen, dass er die Frage akzeptiert, und sagt: »Ich weiß nicht, was für eine Definition am zutreffendsten sein könnte… Ich bin ein Sünder. Das ist die richtigste Definition. Und es ist keine Redensart, kein literarisches Genus. Ich bin ein Sünder.«

Der Papst denkt weiter nach, ergriffen, so als hätte er diese Frage nicht erwartet, als wäre er gezwungen, eine weitere Überlegung anzustellen.

»Ja, ich kann vielleicht sagen, ich bin ein wenig gewieft, ich verstehe mich zu bewegen, aber es stimmt, dass ich auch ein bisschen arglos bin. Ja, aber die beste Zusammenfassung, die mir aus dem Innersten kommt und die ich für die zutreffendste halte, lautet: ›Ich bin ein Sünder, den der Herr angeschaut hat.‹ Und er wiederholt: »Ich bin einer, der vom Herrn angeschaut wird. Meinen Wahlspruch Miserando atque eligendo habe ich immer als sehr zutreffend für mich empfunden.«

Der Wahlspruch des Papstes stammt aus den Homilien des heiligen Beda Venerabilis, der in seinem Kommentar zur Episode der Berufung des heiligen Matthäus schreibt: »Jesus sah einen Zöllner, und als er ihn liebevoll anblickte und erwählte, sagte er zu ihm: Folge mir!« Und der Papst fügt hinzu: »Das lateinische Gerundium miserando scheint mir sowohl ins Italienische wie ins Spanische unübersetzbar zu sein. Ich würde es am liebsten mit einem anderen Gerundium übersetzen, das es gar nicht gibt: misericordiando.«

Papst Franziskus fährt mit einem Gedankensprung, dessen Sinn ich nicht gleich verstehe, in seiner Betrachtung fort: »Ich kenne Rom nicht. Ich kenne nur wenige Orte der Stadt. Darunter Santa Maria Maggiore; dorthin bin ich immer wieder gegangen.«5 Ich lache und sage zu ihm: »Das haben wir alle sehr wohl verstanden, Heiliger Vater!«

»Ja doch«, fährt der Papst fort, »ich kenne Santa Maria Maggiore, Sankt Peter… Aber wenn ich nach Rom kam, habe ich immer in der Via Scrofa gewohnt. Von dort besuchte ich oft die Kirche San Luigi dei Francesi; dorthin ging ich, um das von Caravaggio gemalte Bild von der Berufung des heiligen Matthäus zu betrachten.«

Ich beginne zu ahnen, was mir der Papst sagen will. »Dieser Finger Jesu, der auf Matthäus weist - so bin ich, so fühle ich mich, wie Matthäus.« Und hier wird der Papst entschieden, so als hätte er das Bild von sich, nach dem er suchte, erfasst: »Es ist die Geste des Matthäus, die mich betroffen macht: Er packt sein Geld, als wollte er sagen: ›Nein, nicht mich! Dieses Geld gehört mir nicht! Siehe, das bin ich: ein Sünder, den der Herr angeschaut hat.‹ Und das habe ich gesagt, als sie mich fragten, ob ich meine Wahl zum Papst annehme.« Dann murmelt er: »Peccator sum, sed super misericordia et infinita patientia Domini nostri Jesu Christi confisus et in spiritu penitentiae accepto.«6

Warum sind Sie Jesuit geworden?

Ich begreife, dass diese Formel bei der Annahme der Wahl für Papst Franziskus auch ein Identitätsausweis ist. Da gibt es nichts mehr hinzuzufügen. Ich fahre mit der ersten der vorbereiteten Fragen fort: »Heiliger Vater, was hat Sie zum Eintritt in die Gesellschaft Jesu bewogen? Was hat Sie am Jesuitenorden besonders berührt?«

»Ich wollte etwas mehr, wusste aber nicht, was. Ich war ins Priesterseminar eingetreten. Die Dominikaner gefielen mir, und ich hatte Dominikaner als Freunde. Aber dann habe ich die Gesellschaft Jesu gewählt, die ich gut kannte, weil das Seminar den Jesuiten anvertraut war. An der Gesellschaft Jesu haben mich drei Dinge berührt: der Sendungscharakter, die Gemeinschaft und die Disziplin. Das mutet seltsam an, weil ich von Geburt an ein undisziplinierter Mensch bin. Aber die Disziplin der Jesuiten, ihre Art, die Zeit einzusetzen, hat mich sehr beeindruckt.«

»Und dann etwas, das für mich wirklich fundamentale Bedeutung hat: die Gemeinschaft. Ich sehe mich nicht als einsamen Priester. Ich brauche Gemeinschaft. Und das wird aus der Tatsache verständlich, dass ich hier in Santa Marta wohne: Als ich in das Haus einzog, wurde mir per Los das Zimmer 207 zugeteilt. Das Zimmer, in dem wir uns jetzt befinden, war ein Gästezimmer. Ich habe mich entschieden, hier, im Zimmer 201, zu wohnen, weil ich, als ich die päpstliche Wohnung in Besitz nahm, in mir ein deutliches ›Nein‹ spürte. Das päpstliche Appartement im Apostolischen Palast ist nicht luxuriös. Es ist alt, geschmackvoll eingerichtet und groß, nicht luxuriös. Aber letztendlich gleicht es einem umgekehrten Trichter. Es ist groß und geräumig, aber der Eingang ist wirklich schmal. Man tritt tropfenweise ein. Das ist nichts für mich. Ohne Menschen kann ich nicht leben. Ich muss mein Leben zusammen mit anderen leben.«

Während der Papst von Sendung und Gemeinschaft spricht, fallen mir alle jene Dokumente der Gesellschaft Jesu ein, in denen von »Gemeinschaft für die Sendung« die Rede ist. Und das finde ich in seinen Worten wieder.

Was bedeutet es für einen Jesuiten, Papst zu sein?

Ich frage den Papst, was es für ihn bedeutet, dass er der erste Jesuit ist, der zum Bischof von Rom gewählt wurde: »Wie verstehen Sie den Dienst an der Gesamtkirche, zu dessen Erfüllung Sie berufen wurden, im Licht der ignatianischen Spiritualität? Was bedeutet es für einen Jesuiten, zum Papst gewählt zu werden? Welcher Punkt der ignatianischen Spiritualität hilft Ihnen am besten, Ihr Amt zu leben?«

»Die Unterscheidung«, antwortet Papst Franziskus, »ist eines der Anliegen, die den heiligen Ignatius innerlich am meisten beschäftigt haben.7 Für ihn ist sie ein Kampfmittel, um den Herrn besser kennenzulernen und ihm in größerer Nähe zu folgen. Mich hat immer eine Maxime betroffen gemacht, mit der die Vision des Ignatius beschrieben wird: Non coerceri a maximo, sed contineri a minimo divinum est.8 Über diesen Satz habe ich auch im Blick auf die Leitung, auf die Erfüllung des Amtes des Superiors viel nachgedacht: sich nicht vom größeren Raum einnehmen zu lassen, sondern imstande zu sein, im engsten Raum zu bleiben. Diese Tugend des Großen und des Kleinen ist die Großmut, die uns aus der Stellung, in der wir uns befinden, immer den Horizont sehen lässt: tagtäglich die großen und die kleinen Dinge des Alltags mit einem großen und für Gott und für die anderen offenen Herzen zu erledigen. Das heißt, die kleinen Dinge wertzuschätzen innerhalb der großen Horizonte, jenen des Reiches Gottes.«

»Diese Maxime bietet die Parameter, um eine korrekte Haltung für die Unterscheidung einzunehmen, um die Dinge Gottes von seinem ›Gesichtspunkt‹ her zu sehen. Für den heiligen Ignatius müssen die großen Prinzipien in den Umständen von Raum, Zeit und Personen verkörpert sein. Johannes XXIII. nahm diese Haltung bei der Leitung ein, als er den Grundsatz wiederholte: Omnia videre, multa dissimulare, pauca corrigere (Alles sehen, viel übersehen, wenig korrigieren). Denn auch wenn er alles, die großen Dimensionen, sah, beschäftigte er sich nur mit Wenigem, in einer sehr kleinen Dimension. Man kann große Projekte haben und sie verwirklichen, indem man auf wenige kleine Dinge als Grundlage setzt. Oder man kann schwache Mittel einsetzen, die sich als wirkungsvoller erweisen als die starken, sagt auch der heilige Paulus im ersten Korintherbrief.«9

»Diese Unterscheidung braucht Zeit. Viele meinen zum Beispiel, dass Veränderungen und Reformen kurzfristig erfolgen können. Ich glaube, dass man immer genügend Zeit braucht, um die Grundlagen für eine echte, wirksame Veränderung zu legen. Und das ist die Zeit der Unterscheidung. Manchmal spornt uns die Unterscheidung jedoch dazu an, etwas sofort zu erledigen, was man eigentlich später tun wollte. Und so ist es auch mir in diesen Monaten ergangen. Die Unterscheidung erfolgt immer in der Gegenwart des Herrn, indem wir auf die Zeichen achten, die Dinge, die geschehen, hören, mit den Menschen, besonders mit den Armen, fühlen. Meine Entscheidungen, auch jene, die mit dem normalen Alltagsleben zu tun haben, wie die Benutzung eines einfachen Autos, sind an eine geistliche Unterscheidung gebunden, die auf ein Erfordernis antwortet, das durch die Umstände, die Menschen und durch das Lesen der Zeichen der Zeit entsteht. Die Unterscheidung im Herrn leitet mich in meiner Weise des Führens.«

»Ich misstraue jedoch Entscheidungen, die improvisiert getroffen wurden. Ich misstraue immer der ersten Entscheidung, das heißt, der ersten Sache, die zu tun mir in den Sinn kommt. Sie ist im Allgemeinen falsch. Ich muss warten, innerlich abwägen, mir die nötige Zeit nehmen. Die Weisheit der Unterscheidung gleicht die notwendige Zweideutigkeit des Lebens aus und lässt uns die geeignetsten Mittel finden, die nicht immer mit dem identisch sind, was als groß und stark erscheint.«

Die Gesellschaft Jesu

Die Unterscheidung ist also ein Stützpfeiler der Spiritualität des Papstes. Darin kommt in besonderer Weise seine jesuitische Identität zum Ausdruck. Ich frage ihn, wie seiner Meinung nach die Gesellschaft Jesu der Kirche heute dienen könne, worin ihre Besonderheit bestehe, aber auch, welche Risiken sie eingehe.

»Die Gesellschaft Jesu ist eine Institution, die sich in Spannung, immer radikal in Spannung befindet. Der Jesuit ist dezentriert. Die Gesellschaft Jesu in sich selbst ist dezentriert: Ihr Zentrum ist Christus und seine Kirche. Also: Wenn die Gesellschaft Jesus Christus und die Kirche als Mitte hat, hat sie zwei fundamentale Bezugspunkte für ihr Gleichgewicht, um an den Rändern der Gesellschaft zu leben. Wenn die Gesellschaft Jesu jedoch ihren Blick allzu sehr auf sich selbst richtet, stellt sie sich als sehr solide, gut gewappnete Struktur in den Mittelpunkt und läuft damit Gefahr, sich sicher und selbstgenügend zu fühlen. Die Gesellschaft Jesu muss immer den Deus semper maior vor sich haben, die Suche nach der immer größeren Ehre Gottes; sie muss vor sich haben die Kirche, die wahre Braut unseres Herrn Christus des Königs, der uns gewinnt und dem wir unsere ganze Person und unser ganzes Schicksal aufopfern, obwohl wir nur unzureichende tönerne Gefäße sind. Diese Spannung führt uns ständig aus uns selbst heraus. Was die dezentrierte Gesellschaft wirklich stark macht, ist dann das zugleich väterliche und brüderliche Mittel der ›Gewissensrechenschaft‹, weil es ihr eben hilft, besser in die Sendung hinauszugehen.«

Hier bezieht sich der Papst auf einen besonderen Punkt der Konstitutionen der Gesellschaft Jesu, wo geschrieben steht, dass »der Jesuit sein Gewissen offenlegen muss«, das heißt »seine innere Situation, die er so lebt, dass der Obere bewusster und umsichtiger sein kann, wenn er den Betreffenden zur Erfüllung seines Auftrags entsendet.«10

»Aber es ist schwierig, über die Gesellschaft Jesu zu sprechen«, fährt Papst Franziskus fort: »Wenn man zu viel erklärt, besteht die Gefahr von Missverständnissen. Die Gesellschaft Jesu kann man nur in erzählerischer Form darstellen. Nur in der Erzählung kann man die Unterscheidung anstellen, nicht aber in der philosophischen oder theologischen Darlegung, wo man diskutieren kann. Der Stil der Gesellschaft Jesu ist nicht der Stil der Diskussion, sondern jener der Unterscheidung, die natürlich die Diskussion im Prozess voraussetzt. Das mystische Umfeld definiert nie seine Grenzen, schließt das Denken nicht ab. Der Jesuit muss immer ein Mensch von unabgeschlossenem, von offenem Denken sein. Es hat in der Gesellschaft Zeiten gegeben, in denen ein strenges, geschlossenes, eher instruktiv-asketisches als ein mystisches Denken gelebt wurde; diese Entstellung hat die Epitome Instituti11 hervorgebracht.«

Hier bezieht sich der Papst auf eine Art praktische Zusammenfassung, die in der Gesellschaft Jesu im 20. Jahrhundert verfasst wurde und in Gebrauch war und als ein Ersatz der Konstitutionen angesehen wurde. Von diesem Text wurde die Ausbildung der Jesuiten lange Zeit geprägt; das ging so weit, dass manche die Konstitutionen gar nicht mehr lasen, die doch der Grundlagentext sind. Aus Sicht von Papst Franziskus drohten während dieser Zeit die Regeln den ursprünglichen Geist des Ordens zu verdrängen, und die Gesellschaft Jesu sei der Versuchung erlegen, das Charisma zu detailliert zu erläutern und festzuschreiben.

Der Papst fährt fort: »Der Jesuit denkt immer weiterführend, in Kontinuität, mit Blick auf den Horizont, in dessen Richtung er gehen soll, während er Christus im Zentrum hat. Das ist seine wahre Stärke, sie spornt ihn dazu an, auf der Suche, schöpferisch und hochherzig zu sein. Sie muss daher heute mehr denn je contemplativa in actione (beschaulich im aktiven Tun) sein, sie muss eine tiefe Nähe zur ganzen Kirche haben, die als ›Volk Gottes‹ und ›heilige hierarchische Mutter Kirche‹ verstanden wird. Das verlangt viel Demut, Opfer, Mut, besonders wenn man Unverständnis erlebt oder Gegenstand von Missverständnissen und Verleumdungen ist, aber es ist die fruchtbarste Haltung. Denken wir an die vergangenen Spannungen wegen der chinesischen und der malabarischen Riten sowie an die Reduktionen in Paraguay.«12

»Ich bin selbst Zeuge von Missverständnissen und Problemen, welche die Gesellschaft Jesu auch in jüngster Zeit erlebt hat. Darunter die schweren Zeiten, als es um die Ausweitung des ›vierten Gelübdes‹, des Gehorsams gegenüber dem Papst, auf alle Jesuiten ging. Was mir zur Zeit von Pater Pedro Arrupe13 Sicherheit gab, war die Tatsache, dass er ein Mann des Gebetes war, ein Mann, der viel Zeit im Gebet verbrachte. Ich erinnere mich, wie er nach Art der Japaner am Boden sitzend lange Zeit im Gebet verbrachte. Dadurch hatte er die richtige Haltung und traf die richtigen Entscheidungen.«

Das Vorbild: Peter Faber, ein »reformierter Priester«

An diesem Punkt frage ich mich, ob es unter den Jesuiten von den Anfängen der Gesellschaft Jesu bis heute Gestalten gibt, die ihn besonders berührt haben. Und so frage ich den Papst, ob es sie gibt, welche es sind und warum. Der Papst beginnt mit der Nennung von Ignatius14 und Franz Xaver,15 aber dann hält er bei einer Gestalt inne, die die Jesuiten kennen, die aber sicher nicht allgemein bekannt ist: der selige Peter Faber (1506 -1546) aus Savoyen. Er ist einer der ersten Gefährten des heiligen Ignatius, ja der Erste, mit dem er das Zimmer teilte, als beide Studenten an der Sorbonne waren. Der Dritte im selben Zimmer war Franz Xaver. Pius IX. hat Peter Faber am 5. September 1872 seliggesprochen; der Heiligsprechungsprozess ist im Gang.

Der Papst erwähnt eine Ausgabe von Peter Fabers Memoriale, die er von zwei Jesuitenfachleuten (Miguel A. Fiorito und Jaime H. Amadeo) erstellen ließ, als er Provinzial war. Eine Ausgabe, die dem Papst besonders gefällt, ist die von Michel de Certeau. Ich frage ihn, warum er gerade von Faber so beeindruckt ist, welche Züge seiner Gestalt ihm imponieren:

»Der Dialog mit allen, auch mit den Fernstehenderen und Gegnern, die schlichte Frömmigkeit, vielleicht eine gewisse Naivität, die unmittelbare Verfügbarkeit, seine aufmerksame innere Unterscheidung, die Tatsache, dass er ein Mann großer und starker Entscheidungen und zugleich fähig war, so sanftmütig, so sanftmütig zu sein …«

Während Papst Franziskus die persönlichen Wesensmerkmale seines Lieblingsjesuiten aufzählt, begreife ich, wie sehr diese Gestalt für ihn tatsächlich ein Lebensvorbild gewesen ist. Michel de Certeau nennt Faber schlicht und einfach den »reformierten Priester«,16 für den innere Erfahrung, dogmatische Formulierung und Strukturreform eng und unlösbar miteinander verbunden sind. Es scheint mir also begreiflich zu sein, dass sich Papst Franziskus gerade an dieser Art von Reform inspiriert. Der Papst fährt dann mit einer Betrachtung über das wahre Gesicht des Gründers der Gesellschaft Jesu fort:

»Ignatius ist ein Mystiker, kein Asket. Ich ärgere mich, wenn ich jemanden sagen höre, die Geistlichen Übungen seien nur dann ignatianisch, wenn sie schweigend vollzogen werden. In Wirklichkeit können auch Exerzitien, die mitten im Lebensalltag und nicht schweigend vollzogen werden, vollkommen ignatianisch sein. Jene verzerrende Strömung, die das Asketentum, das Schweigen und die Buße unterstreicht, hat sich besonders im spanischen Umfeld auch in der Gesellschaft Jesu verbreitet. Ich stehe hingegen der mystischen Strömung von Louis Lallement17 und Jean-Joseph Surin18 nahe. Und auch Peter Faber war ein Mystiker.«

Die Erfahrung von Führung und Leitung

Welche Art von Leitungserfahrung hat Pater Bergoglios Ausbildung - er war zunächst Hausoberer und dann Provinzoberer in der Gesellschaft Jesu - weiter reifen lassen? Der Führungsstil der Gesellschaft setzt die Entscheidung seitens des Oberen, aber auch das Gegenüber mit seinen Konsultoren (Beratern) voraus.

Und so frage ich den Papst: »Denken Sie, dass Ihre Führungserfahrung aus der Vergangenheit Ihnen bei Ihrer aktuellen Leitung der Gesamtkirche dienen kann?« Papst Franziskus wird nach einer kurzen Überlegungspause ernst, bleibt dabei aber sehr gelassen:

»Um die Wahrheit zu sagen: In meiner Erfahrung als Oberer in der Gesellschaft habe ich mich nicht immer so korrekt verhalten, dass ich die notwendigen Konsultationen durchführte. Und das war keineswegs gut. Mein Führungsstil als Jesuit hatte anfangs viele Mängel. Es war eine schwere Zeit für die Gesellschaft Jesu: Eine ganze Jesuitengeneration war ausgefallen. Deshalb wurde ich schon in sehr jungen Jahren zum Provinzial ernannt. Ich war erst 36 Jahre alt - eine Verrücktheit! Ich musste mich mit sehr schwierigen Situationen auseinandersetzen und traf meine Entscheidungen schroff und eigenmächtig. Ja, aber etwas muss ich doch noch hinzufügen: Wenn ich einer Person eine Sache anvertraue, habe ich totales Vertrauen zu dieser Person. Sie muss wirklich einen sehr schweren Fehler begehen, bevor ich sie zurechtweise. Dessen ungeachtet sind die Menschen des Autoritarismus überdrüssig. Meine autoritäre und schnelle Art, Entscheidungen zu treffen, hat mir ernste Probleme und die Beschuldigung eingebracht, ultrakonservativ zu sein. Ich habe eine Zeit einer großen inneren Krise durchgemacht, als ich in Córdoba lebte. Nun bin ich sicher nicht wie die selige Imelda19 gewesen, aber ich bin nie einer von den ›Rechten‹ gewesen. Es war meine autoritäre Art, Entscheidungen zu treffen, die Probleme verursachte.«

»Ich spreche von diesen Dingen als einer Lebenserfahrung und um begreiflich zu machen, welche Gefahren es gibt. Mit der Zeit habe ich vieles gelernt. Der Herr hat mir diese Führungspädagogik ungeachtet meiner Fehler und Sünden gewährt. So hatte ich als Erzbischof von Buenos Aires alle vierzehn Tage ein Treffen mit meinen sechs Weihbischöfen und mehrmals im Jahr mit dem Priesterrat. Es wurden Fragen gestellt und der Raum für die Diskussion geöffnet. Das hat mir sehr geholfen, die besten Entscheidungen zu fällen. Und nun höre ich gewisse Personen, die mir sagen: ›Man soll nicht zu viel beraten, sondern entscheiden.‹ Ich glaube jedoch, dass die Konsultation sehr wichtig ist. Die Konsistorien und die Synoden sind zum Beispiel wichtige Orte, um diese Konsultation wahrhaftig und aktiv durchzuführen. Man sollte sie in der Form allerdings weniger starr gestalten. Ich wünsche mir wirkliche, keine formellen Konsultationen. Das Gremium der acht Kardinäle - diese Beratungsgruppe von außen - ist nicht allein meine Entscheidung, sondern Frucht des Willens der Kardinäle, wie er bei den Generalkongregationen vor dem Konklave zum Ausdruck gebracht wurde. Und ich will, dass es echte, keine formellen Beratungen geben wird.«

»Mit der Kirche fühlen«

Ich bleibe beim Thema Kirche und versuche zu verstehen, was es für Papst Franziskus genau bedeutet »mit der Kirche zu fühlen«, wovon der heilige Ignatius in seinen Geistlichen Übungen schreibt. Der Papst antwortet, ohne zu zögern, mit einem Bild:

»Das Bild der Kirche, das mir gefällt, ist das des heiligen Volkes Gottes. Die Definition, die ich oft verwende, ist die des Konzilsdokuments Lumen gentium in Nummer 12. Die Zugehörigkeit zu einem Volk hat einen großen theologischen Wert: Gott hat in der Heilsgeschichte ein Volk erlöst. Es gibt keine volle Identität ohne die Zugehörigkeit zu einem Volk. Niemand wird allein gerettet, als isoliertes Individuum. Gott zieht uns an sich und betrachtet dabei die komplexen Gebilde der zwischenmenschlichen Beziehungen, die sich in der menschlichen Gesellschaft abspielen. Gott tritt in diese Volksdynamik ein.«

»Das Volk ist das Subjekt. Und die Kirche ist das Volk Gottes auf dem Weg der Geschichte - mit seinen Freuden und Leiden. Fühlen mit der Kirche bedeutet für mich, in dieser Kirche zu sein. Und das Ganze der Gläubigen ist unfehlbar im Glauben. Es zeigt diese Unfehlbarkeit im Glauben durch den übernatürlichen Glaubenssinn des ganzen Volkes Gottes auf dem Weg. So verstehe ich heute das Sentire cum ecclesia, von dem der heilige Ignatius spricht. Wenn der Dialog der Gläubigen mit dem Bischof und dem Papst auf diesem Weg geht und loyal ist, dann hat er den Beistand des Heiligen Geistes. Es ist also kein Fühlen, das sich auf die Theologen bezieht.«

»Es ist wie bei Maria: Wenn man wissen will, wer sie ist, fragt man die Theologen. Wenn man wissen will, wie man sie liebt, muss man das Volk fragen. Ihrerseits liebte Maria Jesus mit dem Herzen des Volkes - wie wir im Magnificat lesen. Man muss also nicht denken, dass das Verständnis des Sentire cum ecclesia nur an das Fühlen mit dem hierarchischen Teil der Kirche gebunden sei.«

Der Papst präzisiert nach einer Denkpause trocken, um Missverständnisse zu vermeiden: »Freilich muss man aufpassen, dass man nicht meint, diese Form der Unfehlbarkeit aller Gläubigen, von der ich im Licht des Konzils spreche, sei eine Art Populismus. Nein, es ist die Erfahrung der ›heiligen hierarchischen Mutter Kirche‹, wie sie der heilige Ignatius genannt hat, der Kirche als Volk Gottes, die Hirten und das Volk zusammen. Die Kirche ist die Ganzheit des Volkes Gottes. Ich sehe die Heiligkeit im Volk Gottes, seine tägliche Heiligkeit. Es gibt eine ›Mittelklasse der Heiligkeit‹, an der wir alle teilhaben können, von der Malègue spricht.«

Der Papst bezieht sich auf Joseph Malègue, einen ihm lieben französischen Schriftsteller, geboren 1876 und gestorben 1940. Er meint besonders seine unvollendete Trilogie Pierres noires - die Mittelklassen des Heils. Manche französische Kritiker nennen Malègue auch den »katholischen Proust«.

Der Papst fährt fort: »Ich sehe die Heiligkeit im geduldigen Volk Gottes: eine Frau, die ihre Kinder großzieht, ein Mann, der arbeitet, um Brot nach Hause zu bringen, die Kranken, die alten Priester, die so viele Verletzungen haben, aber auch ein Lächeln, weil sie dem Herrn gedient haben, die Schwestern, die so viel arbeiten und eine verborgene Heiligkeit leben. Das ist für mich die allgemeine Heiligkeit. Ich bringe Heiligkeit oft in Verbindung mit Geduld: nicht nur die Geduld als hypomoné,20 als das Auf-sich-Nehmen von Ereignissen und Lebensumständen, sondern auch als Ausdauer im täglichen Weitergehen. Das ist die Heiligkeit der kämpfenden Kirche, von der Ignatius auch spricht. Das war die Heiligkeit meiner Eltern, meines Vaters, meiner Mutter, meiner Großmutter Rosa, die mir so viel Gutes getan hat. In meinem Brevier habe ich das Testament meiner Großmutter Rosa. Ich lese es oft: Es ist für mich wie ein Gebet. Sie ist eine Heilige, die so viel gelitten hat - auch moralisch. Sie ist immer mit Mut vorangegangen.«

»Diese Kirche, mit der wir denken und fühlen sollen, ist das Haus aller - keine kleine Kapelle, die nur ein Grüppchen ausgewählter Personen aufnehmen kann. Wir dürfen die Universalkirche nicht auf ein schützendes Nest unserer Mittelmäßigkeit reduzieren. Und die Kirche ist Mutter. Die Kirche ist fruchtbar, und das muss sie sein. Schau, wenn ich negative Verhaltensweisen von Dienern der Kirche oder von Ordensmännern oder -frauen bemerke, ist das Erste, was mir in den Sinn kommt: ›eingefleischter Junggeselle!‹ oder ›alte Jungfer!‹ Sie sind weder Väter noch Mütter. Sie sind nicht imstande gewesen, Leben weiterzugeben. Wenn ich hingegen die Biografien der Salesianer-Missionare lese, die nach Patagonien gegangen sind, lese ich Geschichten von Leben, von Fruchtbarkeit.«

»Ein anderes Beispiel aus diesen Tagen: Ich habe gesehen, dass das Telefongespräch, das ich mit einem Jungen geführt habe, von den Zeitungen aufgegriffen wurde. Ich habe angerufen, weil er mir einen sehr schönen Brief geschrieben hatte, ganz einfach. Das war für mich ein Akt der Fruchtbarkeit. Ich habe mir bewusst gemacht, dass ein heranwachsender Junge einen als Vater angesehen hat und ihm etwas von seinem Leben erzählt. Der Vater kann nicht sagen: ›Darauf pfeife ich!‹ - Diese Fruchtbarkeit tut mir sehr gut.«

Junge und alte Kirchen

Ich bleibe beim Thema Kirche und stelle dem Papst eine Frage im Licht des jüngsten Weltjugendtages: »Dieses große Ereignis hat erneut die Scheinwerfer auf die Jugend gerichtet, aber auch auf diese ›geistlichen Lungen‹, die die jungen Kirchen darstellen. Welche Hoffnungen fließen aus diesen Kirchen für die Gesamtkirche?«

»Die jungen Kirchen entwickeln eine Synthese aus Glauben, Kultur und Leben auf dem Weg. Sie ist anders als die entwickelte Synthese der älteren Kirchen. Für mich ist das Verhältnis zwischen den älteren Kirchen und den jüngeren ähnlich dem Verhältnis von Jüngeren und Älteren in einer Gesellschaft: Sie bauen die Zukunft - die Einen mit ihrer Kraft, die Anderen mit ihrer Weisheit. Sie gehen selbstverständlich immer Risiken ein. Die jüngeren Kirchen halten sich für selbständig und autonom, die älteren wollen den jüngeren ihre kulturellenModelle aufdrücken. Die Zukunft baut man aber miteinander.«

Die Kirche - ein Feldlazarett

Papst Benedikt XVI. hat bei der Ankündigung seines Rücktritts die Welt als ein Subjekt rascher Veränderungen gezeichnet. Sie sei bewegt von sehr relevanten Fragen für das Glaubensleben, die Körper- und Geisteskräfte verlangten. Ich frage den Papst auch im Licht dessen, was er mir eben gesagt hat: »Was braucht die Kirche in diesem historischen Moment besonders? Sind Reformen nötig? Was sind Ihre Wünsche für die Kirche in den kommenden Jahren? Von welcher Kirche ›träumen‹ Sie?«

Papst Franziskus geht vom Anfang meiner Frage aus und beginnt: »Papst Benedikt hat einen Akt der Heiligkeit vollbracht, einen Akt der Größe, der Demut. Er ist ein Mann Gottes.« Papst Franziskus zeigt große Zuneigung und enorme Hochachtung für seinen Vorgänger.

»Ich sehe ganz klar« - fährt er fort -, »dass das, was die Kirche heute braucht, die Fähigkeit ist, Wunden zu heilen und die Herzen der Menschen zu wärmen - Nähe und Verbundenheit. Ich sehe die Kirche wie ein Feldlazarett nach einer Schlacht. Man muss einen Schwerverwundeten nicht nach Cholesterin oder nach hohem Zucker fragen. Man muss die Wunden heilen. Dann können wir von allem anderen sprechen. Die Wunden heilen, die Wunden heilen… Man muss ganz unten anfangen.«

»Die Kirche hat sich manchmal in kleine Dinge einschließen lassen, in kleine Vorschriften. Die wichtigste Sache ist aber die erste Botschaft: ›Jesus Christus hat dich gerettet.‹ Die Diener der Kirche müssen vor allem Diener der Barmherzigkeit sein. Der Beichtvater - zum Beispiel - ist immer in Gefahr, zu streng oder zu lax zu sein. Keiner von beiden ist barmherzig, denn keiner nimmt sich wirklich des Menschen an. Der Rigorist wäscht sich die Hände, denn er beschränkt sich auf das Gebot. Der Laxe wäscht sich die Hände, indem er einfach sagt: ›Das ist keine Sünde‹ - oder so ähnlich. Die Menschen müssen begleitet werden, die Wunden geheilt.«

»Wie behandeln wir das Volk Gottes? Ich träume von einer Kirche als Mutter und als Hirtin. Die Diener der Kirche müssen barmherzig sein, sich der Menschen annehmen, sie begleiten - wie der gute Samariter, der seinen Nächsten wäscht, reinigt, aufhebt. Das ist pures Evangelium. Gott ist größer als die Sünde. Die organisatorischen und strukturellen Reformen sind sekundär, sie kommen danach. Die erste Reform muss die der Einstellung sein. Die Diener des Evangeliums müssen in der Lage sein, die Herzen der Menschen zu erwärmen, in der Nacht mit ihnen zu gehen. Sie müssen ein Gespräch führen und in die Nacht hinabsteigen können, in ihr Dunkel, ohne sich zu verlieren. Das Volk Gottes will Hirten und nicht Funktionäre oder Staatskleriker. Die Bischöfe speziell müssen Menschen sein, die geduldig die Schritte Gottes mit seinem Volk unterstützen können, so dass niemand zurückbleibt. Sie müssen die Herde auch begleiten können, die weiß, wie man neue Wege geht.«

»Statt nur eine Kirche zu sein, die mit offenen Türen aufnimmt und empfängt, versuchen wir, eine Kirche zu sein, die neue Wege findet, die fähig ist, aus sich heraus und zu denen zu gehen, die nicht zu ihr kommen, die ganz weggegangen oder die gleichgültig sind. Die Gründe, die jemanden dazu gebracht haben, von der Kirche wegzugehen - wenn man sie gut versteht und wertet - können auch zur Rückkehr führen. Es braucht Mut und Kühnheit.«

Ich fasse zusammen, was der Papst sagt, und beziehe mich dann auf das Faktum, dass es Christen gibt, die in kirchlich nicht geregelten oder komplexen Situationen leben, Christen, die in einer oder anderer Weise offene Wunden haben. Ich denke an wiederverheiratete Geschiedene, homosexuelle Paare, andere schwierige Situationen. Wie kann man in solchen Fällen eine missionarische Seelsorge pflegen? Was betonen? Der Papst zeigt, dass er mich verstanden hat, und antwortet:

»Wir müssen das Evangelium auf allen Straßen verkünden, die frohe Botschaft vom Reich Gottes verkünden und - auch mit unserer Verkündigung - jede Form von Krankheit und Wunde pflegen. In Buenos Aires habe ich Briefe von homosexuellen Personen erhalten, die ›sozial verwundet‹ sind, denn sie fühlten sich immer von der Kirche verurteilt. Aber das will die Kirche nicht. Auf dem Rückflug von Rio de Janeiro habe ich gesagt, wenn eine homosexuelle Person guten Willen hat und Gott sucht, dann bin ich keiner, der sie verurteilt. Damit habe ich das gesagt, was der Katechismus sagt. Die Religion hat das Recht, die eigene Überzeugung im Dienst am Menschen auszudrücken, aber Gott hat uns in der Schöpfung frei gemacht: Es darf keine spirituelle Einmischung in das persönliche Leben geben. Einmal hat mich jemand provozierend gefragt, ob ich Homosexualität billige. Ich habe ihm mit einer anderen Frage geantwortet: ›Sag mir: Wenn Gott eine homosexuelle Person sieht, schaut er diese Existenz mit Liebe an oder verurteilt er sie und weist sie zurück?‹ Man muss immer die Person anschauen. Wir treten hier in das Geheimnis der Person ein. Gott begleitet die Menschen durch das Leben und wir müssen sie begleiten und ausgehen von ihrer Situation. Wir müssen sie mit Barmherzigkeit begleiten. Wenn das geschieht, gibt der Heilige Geist dem Priester ein, das Richtige zu sagen.«

»Das ist auch die Größe der Beichte: jeden Fall für sich zu bewerten, unterscheiden zu können, was das Richtige für einen Menschen ist, der Gott und seine Gnade sucht. Der Beichtstuhl ist kein Folterinstrument, sondern Ort der Barmherzigkeit, an dem der Herr uns anregt, das Bestmögliche zu tun. Ich denke auch an die Situation einer Frau, deren Ehe gescheitert ist, in der sie auch abgetrieben hat. Jetzt ist sie wieder verheiratet, ist zufrieden und hat fünf Kinder. Die Abtreibung belastet sie und sie bereut wirklich. Sie will als Christin weitergehen. Was macht der Beichtvater?«

»Wir können uns nicht nur mit der Frage um die Abtreibung befassen, mit homosexuellen Ehen, mit Verhütungsmethoden. Das geht nicht. Ich habe nicht viel über diese Sachen gesprochen. Das wurde mir vorgeworfen. Aber wenn man davon spricht, muss man den Kontext beachten. Im Übrigen kennt man ja die Ansichten der Kirche, und ich bin ein Sohn der Kirche. Aber man muss nicht endlos davon sprechen.«

»Die Lehren der Kirche - dogmatische wie moralische - sind nicht alle gleichwertig. Eine missionarische Seelsorge ist nicht davon besessen, ohne Unterscheidung eine Menge von Lehren aufzudrängen. Eine missionarische Verkündigung konzentriert sich auf das Wesentliche, auf das Nötige. Das ist auch das, was am meisten anzieht, was das Herz glühen lässt - wie bei den Jüngern von Emmaus. Wir müssen also ein neues Gleichgewicht finden, sonst fällt auch das moralische Gebäude der Kirche wie ein Kartenhaus zusammen, droht, seine Frische und den Geschmack des Evangeliums zu verlieren. Die Verkündigung des Evangeliums muss einfacher sein, tief und ausstrahlend. Aus dieser Verkündigung fließen dann die moralischen Folgen.«

»Wenn ich das sage, denke ich auch an unsere Predigt und die Inhalte der Predigten. Eine schöne Predigt, eine echte Predigt muss beginnen mit der ersten Verkündigung, mit der Botschaft des Heils. Es gibt nichts Solideres, Tieferes, Festeres als diese Verkündigung. Dann muss eine Katechese kommen. Dann kann auch eine moralische Folgerung gezogen werden. Aber die Verkündigung der heilbringenden Liebe Gottes muss der moralischen und religiösen Verpflichtung vorausgehen. Heute scheint oft die umgekehrte Ordnung vorzuherrschen. Die Homilie ist der Maßstab, um Nähe und Fähigkeit der Begegnung zwischen Seelsorger und Volk zu messen. Wer predigt, muss das Herz seiner Gemeinschaft kennen, um zu sehen, wo die Frage nach Gott lebendig und heiß ist. Die evangelische Botschaft darf nicht auf einige Aspekte verkürzt werden. Auch wenn diese wichtig sind, können sie nicht allein das Zentrum der Lehre Jesu zeigen.«

Erster Papst aus einem Orden nach 182 Jahren

Papst Franziskus ist der erste Papst, der aus einem religiösen Orden kommt - nach dem Kamaldulenser Gregor XVI., der 1831, vor 182 Jahren, gewählt wurde. Ich frage also: »Was ist heute der spezifische Platz der Ordensmänner und Ordensfrauen in der Kirche?«

»Ordensleute sind Propheten. Sie sind diejenigen, die eine Nachfolge Jesu gewählt haben, die sein Leben im Gehorsam gegen den Vater nachahmt, Armut, Gemeinschaftsleben und Keuschheit. In diesem Sinn dürfen die Gelübde nicht zu Karikaturen werden, sonst wird zum Beispiel das Gemeinschaftsleben zur Hölle, die Keuschheit zum Leben als alter Junggeselle. Das Gelübde der Keuschheit muss ein Gelübde der Fruchtbarkeit sein. In der Kirche sind Ordensleute besonders berufen, Propheten zu sein, die bezeugen, wie Jesus auf dieser Erde gelebt hat, und die zeigen, wie das Reich Gottes in seiner Vollendung sein wird. Ein Ordensmann oder eine Ordensfrau darf nie auf Prophetie verzichten. Das bedeutet nicht, dass man sich gegen die hierarchische Seite der Kirche stellt, wenn die prophetische Funktion und die hierarchische Struktur nicht übereinstimmen. Ich spreche von einem positiven Vorschlag, der aber keine Angst machen darf. Denken wir daran, was so viele große heilige Mönche, Ordensfrauen und -männer seit dem Abt Antonius getan haben. Prophet zu sein, bedeutet manchmal, laut zu sein - ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll. Die Prophetie macht Lärm, Krach - manche meinen ›Zirkus‹. Aber in Wirklichkeit ist es ihr Charisma, Sauerteig zu sein: Die Prophetie verkündet den Geist des Evangeliums.«

Teil 2 des Interviews





Anmerkungen:
1 Henri de Lubac SJ (1896 -1991): französischer Theologe; nach der Enzyklika Humani generis zeitweiliger Entzug der Lehrerlaubnis, Peritus beim Zweiten Vatikanischen Konzil, 1983 Kardinal.
2 Michel de Certeau SJ (1925 -1986): französischer Soziologe, Historiker und Kulturphilosoph. Certeau hat über die Mystik von Pierre Favre SJ (Peter Faber) promoviert und die Werke des Mystikers Jean-Joseph Surin SJ herausgegeben.
3 Vgl. Udienza di Papa Francesco a La Civiltà Cattolica, in: La Civiltà Cattolica 164 (2013/III) 3-7 (Ausgabe 3913 vom 6. 7. 2013).
4 Vgl. Dekret 2 (Erklärung: Jesuiten heute) der 32. Generalkongregation der Gesellschaft Jesu (1974/75).
5 Santa Maria Maggiore ist eine der vier Patriarchalbasiliken Roms, gelegen auf dem Esquilinhügel (unweit des Hauptbahnhofs Stazione Termini). Am Morgen nach seiner Wahl besuchte Papst Franziskus kurz die Basilika und betete in einer Kapelle, wo er auch Blumen ablegte. Auch vor dem Abflug zum Weltjugendtag in Rio de Janeiro stattete er der dort aufbewahrten Marien-Ikone einen Besuch ab, zündete eine Kerze an und legte wieder ein Blumengebinde ab. Auch nach seiner Brasilienreise kam er kurz nach Santa Maria Maggiore und legte diesmal unter der Marien-Ikone einen Fußball und ein Trikot nieder, das Jugendliche ihm in Rio geschenkt hatten.
6 »Ich bin ein Sünder, aber im Vertrauen auf die Barmherzigkeit und die unendliche Geduld unseres Herrn Jesus Christus und im Geist der Buße nehme ich an.«
7 In den ignatianischen Exerzitien (Exerzitienbuch, Nr. 32) spielt die Unterscheidung der Geister (vgl. 1 Kor 12,10; 1 Joh 4,1- 6) eine entscheidende Rolle und stellt dort die zentrale Übung dar; vgl. Michael Schneider, Unterscheidung der Geister. Die ignatianischen Exerzitien in der Deutung von E. Przywara, K. Rahner und G. Fessard, Innsbruck 21987; Marianne Schlosser (Hg.), Die Gabe der Unterscheidung. Texte aus zwei Jahrtausenden, Würzburg 2008.
8 »Nicht begrenzt werden vom Größten und dennoch einbeschlossen im Kleinsten, das ist göttlich.« Diese Formulierung der flämischen Jesuiten zum 100-jährigen Bestehen des Ordens 1640 übernahm Hölderlin als Motto für seinen Hyperion.
9 Vgl. 1 Kor 1,27 sowie 1 Kor 9,22.
10 Vgl. Satzungen der Gesellschaft Jesu, Nr. 551.
11 1924 wurde ein Handbuch der für die Gesellschaft Jesu relevanten rechtlichen Bestimmungen herausgegeben. Es erschien unter dem Titel Epitome Instituti Societatis Iesu und wurde mehrfach überarbeitet. Entgegen ihrem Titel gibt es nicht nur das Eigenrecht der Gesellschaft Jesu wieder, sondern auch einschlägige Bestimmungen des allgemeinen Kirchenrechts. Eine stark von den Epitome geprägte Mentalität kann zum Rubrizismus führen, dem Regeln wichtiger sind als der Geist der Exerzitien.
12 Anspielung auf geschichtliche ›Problemfelder‹ bei der Missionierungsarbeit der Jesuiten, die zu Konflikten mit Rom führten.
13 Pedro Arrupe SJ (1907-1991): von 1965 bis 1983 Generaloberer der Gesellschaft Jesu.
14 Ignatius von Loyola SJ (1491-1556): baskischer Gründer der Gesellschaft Jesu (Jesuiten), 1622 heiliggesprochen.
15 Franz Xaver SJ (1506 -1552): Mitbegründer der Gesellschaft Jesu und Wegbereiter der christlichen Mission in Asien, 1622 heiliggesprochen, Patron der Missionen.
16 Die ersten Jesuiten, die in Oberitalien im Einsatz waren, wurden auch »pretiriformati« (Reformpriester) genannt, was in den 30er und 40er Jahren des 16. Jahrhunderts durchaus Assoziationen zu Anliegen reformatorischer Theologen wachwerden ließ und auch zu Verwechslungen führte.
17 Louis Lallement SJ (1578 -1635): französischer Theologe und Mystiker mit nachhaltigem Einfluss auf die Spiritualität der Gesellschaft Jesu und des geistlichen Lebens (»zweite Bekehrung«, »inneres Beten«).
18 Jean-Joseph Surin SJ (1600 -1665): französischer Theologe und Mystiker.
19 Redensartlich etwa: »ein Tugendlamm«.
20 Das im Neuen Testament verwendete griechische Wort für Geduld.


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