Papst Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium

28. November 2013 in Weltkirche


Ein flammendes Plädoyer für eine missionarische Kirche. Von Rudolf Voderholzer, Bischof von Regensburg


Regensburg-Vatikan (kath.net) Zum Abschluss des „Jahres des Glaubens“ hat sich Papst Franziskus mit einem Apostolischen Schreiben an alle Bischöfe, Priester, Ordensleute und christgläubige Laien gewandt. Es knüpft inhaltlich an die Beratungen der Bischofssynode an, die sich im Oktober 2012 mit dem Thema „Neuevangelisierung“ beschäftigt hatte (vgl. Nr. 16).

Im Folgenden möchte ich kurz das Hauptanliegen des Schreibens, das insgesamt ein breites Themenspektrum berührt, herausarbeiten und zur Lektüre einladen.

Freude als Leitmotiv

Papst Franziskus versteht sein Schreiben als „programmatisch“ (Nr. 25). Insbesondere das schon im Titel verwendete Wort „Freude“ durchzieht das ganze Dokument: Die Botschaft Jesu und die von ihm in seiner Verkündigung wie auch in seinem Tod und seiner Auferstehung erwiesene Liebe Gottes zum Menschen begründet eine tiefe Freude, die auch von den vielfältigen Bedrängnissen des Lebens nicht umzubringen ist. Es widerspreche deshalb dem Evangelium, wenn die Lebensart mancher Christen, so Franziskus in deutlichen Worten, „wie eine Fastenzeit ohne Ostern“ erscheint (Nr. 6). Oder, ebenso markant formuliert: „Der Verkünder des Glaubens darf nicht ständig ein Gesicht wie bei einer Beerdigung haben!“ (Nr. 10) Freude aber will sich mitteilen. Deshalb ist Mission nicht eine dem Glauben äußerlich und zusätzlich beigefügte Aufgabe, sondern ein Impuls, der aus dem Inneren des Glaubens selbst kommt. Der Ausdruck „missionarische Kirche“ ist somit eigentlich ein „weißer Schimmel“, weil Jesu Jüngerinnen und Jünger ihren Glauben umso freudiger mitteilen wollen, je tiefer sie aus der täglich erneuerten Freundschaft mit Jesus leben.

Viele Dienste – eine Berufung

Der Aufruf zu einer neuen Etappe in der Mission betrifft alle Christgläubigen und alle Ebenen, Erscheinungsformen und Traditionen des kirchlichen Lebens. Strukturen in der Kirche müssen daraufhin überprüft werden, ob sie diesem Grundauftrag der Kirche dienen oder nicht. Gerade für die hochorganisierte Kirche in Deutschland leiten sich daraus sehr ernste Anfragen ab. Aber auch jede Pfarrei muss sich fragen: Sind wir ein abgeschlossener Zirkel, oder werden Fragende und Suchende bei uns mit offenen Armen empfangen, ja, gehen wir denen nach, die sich von uns entfernt oder vielleicht noch gar nicht entdeckt haben, welchen Schatz das Evangelium auch für sie bereithält?

Besonders die Prediger (Bischöfe, Priester, Diakone) und hauptamtlich zur Verkündigung und Katechese in der Kirche Bestellten finden im 2. Abschnitt des dritten Teils „Die Homilie“ nicht nur eine ausführliche Predigtlehre, sondern auch etliche Anregungen zur Gewissenserforschung. Nehmen wir uns genügend Zeit, die Schrifttexte, die wir im Rahmen der Liturgie auszulegen haben, zu betrachten und auf ihre Botschaft hier und jetzt hin zu befragen? In Nr. 128 überrascht uns der Heilige Vater mit einer konkreten Hilfestellung zum Aufbau und Ablauf eines missionarischen Einzelgesprächs, bei dem deutlich werden muss, dass es dem Boten Jesu Christi immer um die Person des Gegenüber gehen muss, dem freilich auch das Wichtigste, das Zeugnis für den Glauben, nicht vorenthalten werden darf. Auf jeden Fall ist die ganze Kirche aufgerufen, sich immer von einer bewahrenden zu einer missionarischen Pastoral hin zu reformieren (vgl. Nr. 15).

Die soziale Dimension von Glaube und Verkündigung

Papst Franziskus hat nicht nur die Christgläubigen als Adressaten seines Aufrufs zur Mission im Blick, sondern ebenso die besonderen Bedingungen, unter denen sich die Neuevangelisierung gerade in den postmodernen Zivilisationen zu bewähren hat, deren Versuchungen sich freilich im Innern der Kirche breit machen. Vor allem im zweiten Teil wird in bemerkenswerter Schärfe die Kritik der Soziallehre der Kirche an einem entfesselten und schrankenlosen Kapitalismus fortgeführt, aber auch Konsumismus und Individualismus als Gefahren für das Wohl der Menschen benannt. Franziskus schärft ein, dass die Botschaft des Evangeliums die Kirche dazu aufruft, gerade auch die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse besonders in den benachteiligten Regionen der Welt immer wieder deutlich anzuprangern. Mit allen ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten muss sie für eine Verbesserung der konkreten Lebensverhältnisse eintreten. Ganz offenkundig auf Gedanken seines Lehrers und Ordensbruders Henri de Lubac (1896-1991) greift Papst Franziskus zurück, wenn er von der sozialen Dimension des Glaubens selbst spricht, die letztlich im dreifaltigen Gott als vollkommenes Urbild aller Gemeinschaft ihren Grund hat (vgl. Nr. 117).

Gesamtwürdigung und Einladung zur Lektüre

Papst Franziskus hat mit dem Schreiben „Evangelii Gaudium“ der ganzen Kirche eine von seinen spirituellen und pastoralen Erfahrungen geprägte leidenschaftliche Einladung zur Konzentration auf ihre Hauptaufgabe geschenkt. Immer wieder scheint die ignatianische Spiritualität des Jesuitenordens durch, wenn er von der täglich zu erneuernden Suche nach und Begegnung mit Jesus spricht (vgl. Nr. 3) oder für die Predigtvorbereitung die entsprechenden Betrachtungsmethoden empfiehlt (vgl. Nr. 152f.). Im Zentrum des Christentums steht nicht eine Lehre, sondern eine Person, und aus der Begegnung mit ihr erwächst der Glaube. Die Aufrufe zur missionarischen Pfarrgemeinde setzen oft den lateinamerikanischen Hintergrund voraus, erinnern aber in vielerlei Hinsicht auch an die Erfahrungen, die wir hierzulande mit dem Modell „Volksmission“ gemacht haben. Das Anliegen der Neuevangelisierung entspricht in vollem Umfang der Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils (siehe besonders „Lumen gentium“, „Apostolicam actuositatem“). Darüber hinaus schöpft der Papst in reichem Maße aus der Lehre seiner Vorgänger (Johannes Paul II. wird an die 40 Mal, Benedikt XVI. gut 20 Mal zitiert), die er mit Rücksicht auf sein zentrales Anliegen behutsam weiterführt.

Ich empfehle das Schreiben des Heiligen Vaters allen Gläubigen zur persönlichen oder gemeinschaftlichen Lektüre. Ich habe es mit wachsender Begeisterung und zugleich wachsender Nachdenklichkeit gelesen und bin dabei, nun in einem zweiten Durchgang die mich besonders betreffenden Passagen zu studieren. Es ist für mich wie ein großer Exerzitienvortrag, der meinen Dienst der regelmäßig notwendigen Inspektion unterzieht. Besonders den hauptamtlich mit der Verkündigung Beauftragten, allen voran den Priestern und Diakonen, lege ich das Schreiben ans Herz.
Einige Lesefrüchte zur Steigerung der Neugier und des Interesses:

Nr. 20: „Hinausgehen an die Ränder“

Jeder Christ und jede Gemeinschaft soll unterscheiden, welches der Weg ist, den der Herr verlangt, doch alle sind wir aufgefordert, diesen Ruf anzunehmen: hinauszugehen aus der eigenen Bequemlichkeit und den Mut zu haben, alle Randgebiete zu erreichen, die das Licht des Evangeliums brauchen.

Nr. 24: „Freudige Evangelisierung und Schönheit der Liturgie“

Die freudige Evangelisierung wird zur Schönheit in der Liturgie inmitten der täglichen Anforderung, das Gute zu fördern. Die Kirche evangelisiert und evangelisiert sich selber mit der Schönheit der Liturgie, die auch Feier der missionarischen Tätigkeit und Quelle eines erneuerten Impulses zur Selbsthingabe ist.

Nr. 49: „Lieber eine verbeulte Kirche“

Brechen wir auf, gehen wir hinaus, um allen das Leben Jesu Christi anzubieten! Ich wiederhole hier für die ganze Kirche, was ich viele Male den Priestern und Laien von Buenos Aires gesagt habe: Mir ist eine „verbeulte“ Kirche, die verletzt und beschmutzt ist, weil sie auf die Straßen hinausgegangen ist, lieber, als eine Kirche, die aufgrund ihrer Verschlossenheit und ihrer Bequemlichkeit, sich an die eigenen Sicherheiten zu klammern, krank ist. Ich will keine Kirche, die darum besorgt ist, der Mittelpunkt zu sein, und schließlich in einer Anhäufung von fixen Ideen und Streitigkeiten verstrickt ist. Wenn uns etwas in heilige Sorge versetzen und unser Gewissen beunruhigen soll, dann ist es die Tatsache, dass so viele unserer Brüder und Schwestern ohne die Kraft, das Licht und den Trost der Freundschaft mit Jesus Christus leben, ohne eine Glaubensgemeinschaft, die sie aufnimmt, ohne einen Horizont von Sinn und Leben.

Nr. 95: „Versuchungen für das geistliche Leben“

Bei einigen ist eine ostentative Pflege der Liturgie, der Lehre und des Ansehens der Kirche festzustellen, doch ohne dass ihnen die wirkliche Einsenkung des Evangeliums in das Gottesvolk und die konkreten Erfordernisse der Geschichte Sorgen bereiten. Auf diese Weise verwandelt sich das Leben der Kirche in ein Museumsstück oder in ein Eigentum einiger weniger. Bei anderen verbirgt sich dieselbe spirituelle Weltlichkeit hinter dem Reiz, gesellschaftliche oder politische Errungenschaften vorweisen zu können, oder in einer Ruhmsucht, die mit dem Management praktischer Angelegenheiten verbunden ist, oder darin, sich durch die Dynamiken der Selbstachtung und der Selbstverwirklichung angezogen zu fühlen.

Nr. 103: „Frauen in der Kirche“

Die Kirche erkennt den unentbehrlichen Beitrag an, den die Frau in der Gesellschaft leistet, mit einem Feingefühl, einer Intuition und gewissen charakteristischen Fähigkeiten, die gewöhnlich typischer für die Frauen sind als für die Männer. Zum Beispiel die besondere weibliche Aufmerksamkeit gegenüber den anderen, die sich speziell, wenn auch nicht ausschließlich, in der Mutterschaft ausdrückt. Ich sehe mit Freude, wie viele Frauen pastorale Verantwortungen gemeinsam mit den Priestern ausüben, ihren Beitrag zur Begleitung von Einzelnen, von Familien oder Gruppen leisten und neue Anstöße zur theologischen Reflexion geben. Doch müssen die Räume für eine wirksamere weibliche Gegenwart in der Kirche noch erweitert werden.

Nr. 104: Von der Berufung der „Laien“

Die Laien sind schlicht die riesige Mehrheit des Gottesvolkes. In ihrem Dienst steht eine Minderheit: die geweihten Amtsträger. Das Bewusstsein der Identität und des Auftrags der Laien in der Kirche ist gewachsen. Wir verfügen über ein zahlenmäßig starkes, wenn auch nicht ausreichendes Laientum mit einem verwurzelten Gemeinschaftssinn und einer großen Treue zum Einsatz in der Nächstenliebe, der Katechese, der Feier des Glaubens. Doch die Bewusstwerdung der Verantwortung der Laien, die aus der Taufe und der Firmung hervorgeht, zeigt sich nicht überall in gleicher Weise. In einigen Fällen, weil sie nicht ausgebildet sind, um wichtige Verantwortungen zu übernehmen, in anderen Fällen, weil sie in ihren Teilkirchen aufgrund eines übertriebenen Klerikalismus, der sie nicht in die Entscheidungen einbezieht, keinen Raum gefunden haben, um sich ausdrücken und handeln zu können. Auch wenn eine größere Teilnahme vieler an den Laiendiensten zu beobachten ist, wirkt sich dieser Einsatz nicht im Eindringen christlicher Werte in die soziale, politische und wirtschaftliche Welt aus. Er beschränkt sich vielmals auf innerkirchliche Aufgaben ohne ein wirkliches Engagement für die Anwendung des Evangeliums zur Verwandlung der Gesellschaft.

Nr. 104: „Weihevorbehalt“

Das den Männern vorbehaltene Priestertum als Zeichen Christi, des Bräutigams, der sich in der Eucharistie hingibt, ist eine Frage, die nicht zur Diskussion steht, kann aber Anlass zu besonderen Konflikten geben, wenn die sakramentale Vollmacht zu sehr mit der Macht verwechselt wird. […] Das Amtspriestertum ist eines der Mittel, das Jesus zum Dienst an seinem Volk einsetzt, doch die große Würde kommt von der Taufe, die allen zugänglich ist.

Nr. 104: „Maria“

Die Gleichgestaltung des Priesters mit Christus, dem Haupt – das heißt als Hauptquelle der Gnade – schließt nicht eine Erhebung ein, die ihn an die Spitze alles Übrigen setzt. […] Tatsächlich ist eine Frau, Maria, bedeutender als die Bischöfe.

Nr. 159: „Positive Sprache“

Sie sagt nicht so sehr, was man nicht tun darf, sondern zeigt vielmehr, was wir besser machen können. Wenn sie einmal auf etwas Negatives hinweist, dann versucht sie immer, auch einen positiven Wert aufzuzeigen, der anzieht, um nicht bei der Klage, beim Gejammer, bei der Kritik oder bei Gewissensbissen stehen zu bleiben. Außerdem gibt eine positive Verkündigung immer Hoffnung, orientiert auf die Zukunft hin und lässt uns nicht eingeschlossen im Negativen zurück.

Nr. 168: „Frohe Boten sein!“

Es ist gut, dass man in uns nicht so sehr Experten für apokalyptische Diagnosen sieht bzw. finstere Richter, die sich damit brüsten, jede Gefahr und jede Verirrung aufzuspüren, sondern frohe Boten, die befreiende Lösungen vorschlagen, und Hüter des Guten und der Schönheit, die in einem Leben, das dem Evangelium treu ist, erstrahlen.

Nr. 200: „Offenheit der Armen für den Glauben“

Die riesige Mehrheit der Armen ist besonders offen für den Glauben; sie brauchen Gott, und wir dürfen es nicht unterlassen, ihnen seine Freundschaft, seinen Segen, sein Wort, die Feier der Sakramente anzubieten und ihnen einen Weg des Wachstums und der Reifung im Glauben aufzuzeigen. Die bevorzugte Option für die Armen muss sich hauptsächlich in einer außerordentlichen und vorrangigen religiösen Zuwendung zeigen.

Nr. 214: „Begleitung von Frauen, die durch eine Schwangerschaft in Not geraten“

Es ist nicht fortschrittlich, sich einzubilden, die Probleme zu lösen, indem man ein menschliches Leben vernichtet. Doch es trifft auch zu, dass wir wenig getan haben, um die Frauen angemessen zu begleiten, die sich in sehr schweren Situationen befinden, wo der Schwangerschaftsabbruch ihnen als eine schnelle Lösung ihrer tiefen Ängste erscheint, besonders, wenn das Leben, das in ihnen wächst, als Folge einer Gewalt oder im Kontext extremer Armut entstanden ist. Wer hätte kein Verständnis für diese so schmerzlichen Situationen?

Nr. 262: „Das Gebet als Lunge der Kirche“

Evangelisierende mit Geist sind Verkünder des Evangeliums, die beten und arbeiten. Vom Gesichtspunkt der Evangelisierung aus nützen weder mystische Angebote ohne ein starkes soziales und missionarisches Engagement noch soziales oder pastorales Reden und Handeln ohne eine Spiritualität, die das Herz verwandelt. Diese aufspaltenden Teilangebote erreichen nur kleine Gruppen und haben keine weitreichende Durchschlagskraft, da sie das Evangelium verstümmeln. Immer ist es notwendig, einen inneren Raum zu pflegen, der dem Engagement und der Tätigkeit einen christlichen Sinn verleiht. […] Ohne längere Zeiten der Anbetung, der betenden Begegnung mit dem Wort Gottes, des aufrichtigen Gesprächs mit dem Herrn verlieren die Aufgaben leicht ihren Sinn, werden wir vor Müdigkeit und Schwierigkeiten schwächer und erlischt der Eifer. Die Kirche braucht dringend die Lunge des Gebets, und ich freue mich sehr, dass in allen kirchlichen Einrichtungen die Gebetsgruppen, die Gruppen des Fürbittgebets und der betenden Schriftlesung sowie die ewige eucharistische Anbetung mehr werden.
Nr. 273: „Mission als Wesenselement der christlichen Existenz“

Die Mission im Herzen des Volkes ist nicht ein Teil meines Lebens oder ein Schmuck, den ich auch wegnehmen kann; sie ist kein Anhang oder ein zusätzlicher Belang des Lebens. Sie ist etwas, das ich nicht aus meinem Sein ausreißen kann, außer ich will mich zerstören. Ich bin eine Mission auf dieser Erde, und ihretwegen bin ich auf dieser Welt. Man muss erkennen, dass man selber gebrandmarkt ist für diese Mission, Licht zu bringen, zu segnen, zu beleben, aufzurichten, zu heilen, zu befreien. Da zeigt sich, wer aus ganzer Seele Krankenschwester, aus ganzer Seele Lehrer, aus ganzer Seele Politiker ist – diejenigen, die sich zutiefst dafür entschieden haben, bei den anderen und für die anderen da zu sein.

Link zur deutschen Übersetzung des Schreibens „Evangelium gaudii”

Der komplette Text von „Evangelium gaudii“ als pdf-Datei – downloadbar:


Foto Bischof Voderholzer (c) Bistum Regensburg


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