10. Jänner 2014 in Kommentar
»Diese Wirtschaft tötet.« Mit diesem kurzen Satz hat Papst Franziskus für Aufregung gesorgt und eine breite Diskussion angestoßen. Von Reinhard Kardinal Marx (Osservatore Romano)
Vatikan (kath.net/Osservatore Romano) »Evangelii gaudium« ist eine geistliche Regierungserklärung, ein Dokument voller positiver Dynamik und Ermutigung zum Zeugnis für das Evangelium. Auch die weltlichen Medien haben den Text mit großer Aufmerksamkeit aufgenommen und sich besonders auf die sozialethischen Aspekte bezogen. Die weltweite Debatte über diese Äußerungen des Hl. Vaters ist weiterhin intensiv. Dazu will ich einige Anmerkungen machen.
»Diese Wirtschaft tötet.« Mit diesem kurzen Satz hat Papst Franziskus für Aufregung gesorgt. Und es ist eben nicht so, wie immer wieder gerne behauptet wird: »Roma locuta causa finita«. Nein, ganz im Gegenteil. Papst Franziskus hat mit dieser Aussage eine breite Diskussion angestoßen. Und wie sehr sind gerade weltweite Debatten über Wege in eine gemeinsame Zukunft heute wichtig! Ohne eine Sensibilisierung für unsere gemeinsame, weltweite Verantwortung kann auch die politische Arbeit am Weltgemeinwohl nicht vorankommen. Die Diskussionen um das Weltklima in Warschau und das Ringen um ein neues Welthandelsabkommen der WTO in Bali zeigen es. So schwierig es auch sein mag: Wir müssen Wege finden zu globalen politischen Rahmenbedingungen, die orientiert sind am Wohl der Völker, besonders der ärmeren.
Gerade im Zeitalter der Globalisierung hat die Katholische Kirche, die weltweit präsent ist und arbeitet, hier eine besondere Aufgabe. Sie kann Debatten über die Zukunft der Welt mit anstoßen und begleiten. Sie muss sich mit ihren Argumenten und Ansichten der öffentlichen Auseinandersetzung stellen, aber sie darf sich nicht aus Angst vor dem rauen Wind der Kritik und des Widerspruches zurückziehen, sozusagen in eine religiöse Sonderwelt. Papst Franziskus hat sich mit seinem Apostolischen Schreiben »Evangelii Gaudium« in diesem Sinn eingemischt und er wird damit weltweit gehört.
Auch wenn der Papst zunächst und vor allem die Kirche und ihr Handeln im Blick hat, gibt es Reaktionen aus allen Bereichen der Gesellschaft. Wie die Kirche die Welt sieht und verändern will, findet nicht nur Zuspruch, sondern auch Kritik. Gut so! Denn das Christentum ist eine öffentliche Angelegenheit. Das Evangelium soll der ganzen Schöpfung verkündet werden. Deshalb gehören Politik, Wirtschaft und Kultur in den Evangelisierungsauftrag der Kirche hinein. Für manche ist das störend und verstörend. Sie möchten Religion beschränken auf die Frage nach dem Seelenheil und halten Glaube und Kirche eher für Restbestände aus einer Zeit, die durch Aufklärung und Fortschritt eigentlich überwunden sein sollte. Man wird der Kirche und dem Papst nicht verübeln können, dass sie sich dieser Meinung nicht anschließen können und wollen. Und insofern ist es gut, dass eine so umfangreiche, pointierte und aufrüttelnde Botschaft des Papstes auf begeisterte Zustimmung, aber auch auf offene Kritik stößt.
Besonders die Aussagen zur Wirtschaft haben die Diskussion in den letzten Wochen bestimmt. Kern der Auseinandersetzung ist der Vorwurf, die Kirche verstehe im Grunde genommen den Kapitalismus nicht, der doch letztlich die Welt besser gemacht habe. Sie verachte die Reichen und trage im Grunde nichts bei zur Verbesserung der Lebenssituation der Armen. Sie habe für die sozialen Probleme nur eine Antwort der Caritas. Entspricht das dem, was Papst Franziskus in seinem Schreiben vorlegt? Ist das wirklich der rote Faden, der sich vom Evangelium her durch die Verkündigung der Kirche hindurch zieht bis hin zur Katholischen Soziallehre? Ich kann nicht erkennen, wie man eine solche Behauptung aufrechterhalten kann. Aber der Reihe nach.
Die Diskussion über die Krise des Kapitalismus ist ja nicht entstanden, weil der Papst sich geäußert hat, sondern weil wir eine seit den 90er Jahren sich verschärfende Entwicklung hin zu einem Finanzkapitalismus erlebt haben, der in eine katastrophale Krise geführt hat. Selbst Ökonomen haben den neuen »Casino-Kapitalismus« beklagt. »Diese Wirtschaft tötet«, sagt der Papst. Ja, ein solcher Kapitalismus zerstört Menschenleben und schadet dem Gemeinwohl. Nach einer Phase des ungebrochenen Selbstbewusstseins eines so beschleunigten Kapitalismus, für den schon das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft eine sozialistische Verirrung war all das unterstützt durch den Mainstream der Ökonomen , kam die Krise, die aber, so denke ich, noch nicht zu einer wirklichen Neuorientierung geführt hat. Ich meine: Kapitalismus und Marktwirtschaft sind nicht dasselbe! Der Begriff Kapitalismus führt in die Irre wie alle »-ismen«, die vorgeben das ganze Leben von einem bestimmten Punkt aus definieren zu können. Was wäre das für eine Sicht von Wirtschaft und Gesellschaft, die den Ausgangspunkt beim Kapital nimmt und die handelnden Menschen zu Randbedingungen beziehungsweise Kostenfaktoren macht? Wer wirtschaftliches Handeln auf Kapitalismus reduziert, hat nicht nur den moralisch falschen Ausgangspunkt gewählt, sondern irrt auch langfristig ökonomisch.
Aber zurück zu Papst Franziskus. Der Papst will keine Sozialenzyklika schreiben, keine Abhandlung über Wirtschaft, sondern es geht ihm um Evangelisierung. Es geht ihm um die Verkündigung der Frohen Botschaft von Jesus Christus, die Auswirkungen haben muss auf das ganze Leben der Menschen. Er verweist in seinem Schreiben auf die große Tradition der Katholischen Soziallehre. Und er stellt klar: »Weder der Papst noch die Kirche« besitzen »das Monopol für die Interpretation der sozialen Wirklichkeit oder für einen Vorschlag zur Lösung der gegenwärtigen Probleme«. Franziskus stellt sich ganz in die Tradition seiner Vorgänger, wenn auch sein Stil eher ein prophetischer Aufruf ist, eine Ermunterung, neu zu denken und neu zu handeln. Dieser Aufruf des Papstes geht nach innen und nach außen und ist in beide Richtungen beunruhigend und folgenreich. Nach innen, in die Kirche hinein, macht er deutlich, dass Evangelisierung nicht nur bedeuten kann, Menschen in die Glaubensinhalte des Katechismus einzuführen und ihnen die Sakramente zu spenden, sondern eine neue Art des Lebens zu finden, eine neue Gemeinschaft, eine neue Vorstellung von der Zukunft aller Menschen. Das Evangelium ist eben nicht wie manche meinen und es sich wünschen die Fortsetzung der Religion mit anderen Mitteln. Es geht um eine ganzheitliche Evangelisierung, die Kultur, Gesellschaft, Politik, Wirtschaft einschließt. Was das für die Kirche in einer modernen, pluralen, freien und offenen Gesellschaft bedeutet, ist noch längst nicht wirklich erfasst und erst recht nicht umgesetzt.
Und auch der Aufruf des Papstes nach außen hin, in die Welt hinein, stößt auf unruhige Reaktionen. Denn mit einem ganzheitlichen Ansatz stört man immer die Einzelinteressen und die »Ausdifferenzierungen«. Die sich selbst genügenden Teilsysteme, wie Wirtschaft oder Politik, wehren sich gegen eine Einmischung von außen. Denn natürlich haben wir uns an die Ausdifferenzierung der Lebensbereiche, wie es die Soziologen für die moderne Welt beschreiben, gewöhnt. Und doch spüren wir: Wenn wir ein Gemeinwesen, ein Volk, eine Gemeinschaft von Völkern auf diesem Planeten sein wollen, können wir nicht nur von unseren eigenen Interessen und von getrennten ausdifferenzierten Lebensbereichen ausgehen, sondern müssen den Blick auf das Ganze wagen. Außerdem wird dann sichtbar, dass es mit der Ausdifferenzierung nicht so weit her ist, denn unter der Hand hat sich in der Moderne eine neue ganzheitliche Sicht entwickelt, die Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Und genau das kritisiert der Papst zu Recht. Und die Ökonomisierung bedeutete und bedeutet letzten Endes nichts anderes, als den Rhythmus der Gesellschaft von den Kapitalverwertungsinteressen, und zwar global, abhängig zu machen. Also im Grunde den Kapitalismus zum globalen und ganzheitlichen Maßstab zu machen und zwar vor dem Hintergrund einer unaufgeklärten Ideologie, die den Fortschritt als Prozess der Evolution dieses Kapitalismus versteht, dem sich die Menschen, ihre Kulturen und Lebensweisen anzupassen haben. Der Kapitalismus wird im Grunde wie ein urwüchsiges Geschehen betrachtet und die Aufgabe der Menschen und der Politik ist eine Anpassungsaufgabe. Die Gestaltung von Märkten, die politische Korrektur von Marktergebnissen, die Regelung und Ordnung von Kapitalmärkten, all das ist dann eher störend oder ein notwendiges Übel.
Aber: Die Vorstellung, es gäbe irgendwo reine Märkte, die dann das Gute in einem freien Wettbewerb hervorbringen würden, ist ja eine Ideologie. Der Kapitalismus darf nicht zum Gesellschaftsmodell werden, denn zugespitzt formuliert er hat keinen Blick für die Einzelschicksale, die Schwachen und die Armen. Das kritisiert der Papst. Gerade weil wir im christlichen Menschenbild von Freiheit und Verantwortung ausgehen, dürfen wir solchen Vorstellungen keinen Raum geben. Das hat nichts zu tun mit einer Ablehnung der Marktwirtschaft, die notwendig ist und vernünftig, aber dem Menschen zu dienen hat. Davon sprechen die Texte der Soziallehre der Kirche, das sind die geistigen Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft, die geprägt ist vom Ordo-Liberalismus, der wiederum wesentlich inspiriert wurde von christlichen Impulsen.
Aber diese Ideen haben in der großen, weltweiten ökonomischen Debatte nie eine wirkliche Rolle gespielt. Dass Märkte »Zivilisationsprodukte« sind, Gestaltungsaufgaben, dass die Wirtschaft dem Gemeinwohl zu dienen hat, dass die materiellen Grundlagen Voraussetzung sind, aber nicht das Ziel des Miteinanders der Menschen angeben können, all das sind Diskussionen, die doch gerade heute nötig, wichtig und weiterführend sind. Wenn ein falscher Kapitalismus die neue Weltkultur darstellen würde, darf man sich dann über die Kritik des Papstes wundern? Dieses Mahnschreiben des Papstes ist durchaus vereinbar mit dem Ziel, eine globale soziale Ordnungspolitik für die Wirtschaft zu entwickeln, die sich an der Überzeugung orientiert, dass jeder Mensch immer wieder eine neue Chance braucht und bekommt. Aber wo sind die Protagonisten für ein solches Programm? Das Abkommen von Bali scheint nach langen Jahren der Auseinandersetzung richtige Akzente zu setzen, um global eine Lobby für die Ärmsten zu sichern. Aber wo sind die politischen Parteien, auch gerade die, die sich vom christlichen Menschenbild her verstehen, die das aufgreifen und weltweit in die Debatte einbringen? Ja, wo sind auch die Christinnen und Christen, die sich im Bereich von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft engagieren? Es ist ja richtig: Nur auf den Kapitalismus zu schimpfen ist keine Lösung. Es geht um Programme, die Markt, Gesellschaft und Staat in ein neues Beziehungsfeld zueinander setzen und das global. So hat es etwa Benedikt XVI. gefordert.
Nein, die Kirche verachtet die Reichen nicht, wie manche Kommentatoren geschrieben haben. Aber sie erinnert daran, dass die materiellen Güter Mittel zum Zweck sind, aber nicht den Sinn des Lebens darstellen können. Eine Gesellschaft, in der zum »Lob der Gier« öffentlich aufgerufen werden kann, ist auf dem Weg der Entfremdung und trennt die Menschen voneinander. Immerhin sind Demokratie und Marktwirtschaft auf dem Boden des Christentums entstanden und nicht unbedingt gegen den Geist des Evangeliums. Aber in ihren Auswüchsen zum primitiven Kapitalismus hin, kommen die alten Dämonen wieder. Ja, es ist wahr, dass die Diskussionen über das Armutsideal und die Option für die Armen die Geschichte der Kirche begleiten. Aber es ist nicht wahr, dass der Papst in der Verteidigung dieser Option die Armen arm lassen will, sondern er ruft auf, sie nicht auszuschließen, eine Gesellschaft der Inklusion und der Partizipation zu schaffen und die Armut nicht nur karitativ, sondern strukturell zu bekämpfen.
Und deswegen muss der Ort der Kirche bei den Armen sein, weil wir nur von ihnen her und mit ihnen auf das Ganze der Gesellschaft und der Wirtschaft und der Politik schauen können, sonst verlieren wir den Blick auf das, was Priorität hat. Darum geht es dem Papst auch bei der Herausforderung der Evangelisierung. Es geht nicht in erster Linie um karitatives Bemühen im Blick auf die Armen, sondern um Evangelisierung, um Einbeziehung der Armen, die materiell und/oder auch existenziell an der Peripherie leben. Sie sind nicht »Objekte« unserer Betreuung, sondern sie müssen einen Platz finden in der Kirche und der Gesellschaft. Wir sehen die Welt nicht richtig, wenn wir nicht versuchen, sie mit den Augen der Armen zu sehen. Ohne diesen Blick haben wir eine unvollständige Vorstellung von der Wirklichkeit. Darauf weist der Papst in der Kontinuität mit dem Evangelium hin.
Der Appell, über den Kapitalismus hinauszudenken, ist kein Kampf gegen die Marktwirtschaft oder eine Abkehr von jeder wirtschaftlichen Vernunft, sondern auch angesichts der realen Krise des Kapitalismus die wichtige und notwendige Intervention des Papstes, ein Aufruf, die Prioritäten neu zu ordnen und die Welt als eine Gestaltungsaufgabe zu sehen, die in Freiheit und Verantwortung übernommen werden muss. Nicht der Kapitalismus ist die Zukunft, sondern eine Weltgemeinschaft, die immer stärker Raum gibt für das Leitbild einer verantwortlichen Freiheit und die nicht akzeptiert, dass Völker, Gruppen und Einzelne ausgeschlossen und marginalisiert werden. Ist das wirklich so abwegig und weltfremd?
Foto Kardinal Marx (c) Erzbistum München und Freising
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