«Katholischsein ist etwas Exotisches»

20. Februar 2014 in Spirituelles


Der Journalist Anciberro zur Rolle der Kirche in Frankreich - „Wenn ein 40-Jähriger seinen Freunden abends in der Bar erzählt, dass er in die Messe geht, steht er im Verdacht, ein Extremist zu sein“. Von Claudia Zeisel (KNA)


Paris (kath.net/KNA) Sterbehilfe, «Homo-Ehe», künstliche Befruchtung - Frankreich ist in ethischen Fragen gespalten wie nie. Während die sozialistische Regierung neue Gesetze vorlegt, gehen Zehntausende auf die Straße, um für ihr Bild von Familie und Leben zu demonstrieren. Die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) sprach mit dem Chefredakteur der christlichen Wochenzeitung «La Vie», Jerome Anciberro (41), über die Chancen der Rechten bei den Europawahlen, den Stand der Regierung und ein Unverständnis gegenüber christlichen Überzeugungen.

KNA: Herr Anciberro, Staatspräsident Francois Hollande hat zu Jahresbeginn angekündigt, aktive Sterbehilfe zu erlauben. Im Fall des Koma-Patienten Vincent Lambert tut sich der oberste Gerichtshof derzeit schwer, eine Entscheidung zu treffen. Zeichnet sich eine gesetzliche Lösung ab?

Anciberro: Der Fall Lambert ist kompliziert. In Ausnahmefällen ist Beihilfe zum Tod nach dem «Leonetti-Gesetz» ja erlaubt. Einer der Mediziner, der eigentlich Gegner der aktiven Sterbehilfe ist, plädiert in diesem Fall für ein Abstellen der Ernährung. Insgesamt scheint es, als sei eine Mehrheit der Franzosen für eine Ausweitung des Gesetzes auf aktive Sterbehilfe. Doch das hängt meiner Ansicht auch damit zusammen, dass viele offenbar die Bedeutung des Begriffs nicht ganz verstanden haben und die Dinge durcheinanderbringen.

KNA: Braucht es mehr Zeit zur Aufklärung?

Anciberro: Zu Fragen des Lebens und der Familie gibt es in Frankreich heftige Diskussionen, und die verschiedenen Standpunkte radikalisieren sich immer sofort. Spätestens seit Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe im vergangenen Jahr hat die Debatte Ausmaße angenommen, die nicht vergleichbar sind mit anderen Ländern. Es gibt ein totales Unverständnis zwischen den beiden Lagern. Es gibt jene, die mit der Zeit gehen wollen und Änderungen wie die Legalisierung aktiver Sterbehilfe begrüßen. Eine ganze Politikergeneration, besonders im linken Lager, hat kein Verständnis mehr für eine christliche Anthropologie. Dagegen wiederum positionieren sich extreme katholische Gruppen.

KNA: Im Lager der konservativen «Manif pour tous» kämpfen aber auch Muslime gegen eine französische Familienpolitik, die etwa die Rechte homosexueller Paare stärken will.

Anciberro: Ja, angefangen hat es mit der Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe. Damals protestierten nur wenige Muslime, doch das hat in jüngster Zeit stark zugenommen. Der Protest der Muslime richtet sich vor allem gegen das vom französischen Bildungsministerium herausgegebene Bildungskonzept «ABCD der Gleichstellung», das Schüler für die Gleichheit der Geschlechter sensibilisieren soll. Nun protestieren sie gemeinsam mit den Anhängern der «Manif pour tous».

KNA: Unter anderem auf die Proteste hin hat die Regierung geplante grundlegende Änderungen des Familiengesetzes auf 2015 verschoben. Eine kluge Entscheidung?

Anciberro: Für die sozialistische Regierung ist es ein Scheitern ihrer Politik. Hollande ist es offenbar leid, in diesen Fragen ständig auf Gegenwind zu stoßen, und widmet sich lieber Wirtschafts- und Sozialthemen.

KNA: Gleichzeitig erstarkt die rechte Partei «Front National».

Anciberro: Der Front National hält sich in den aktuellen Debatten um gleichgeschlechtliche Ehe und Sterbehilfe eher im Hintergrund. Insgesamt gibt es zwischen Konservativen und Liberalen innerhalb der rechten Parteien eine Spaltung. Die einen springen auf den Zug der «Manif pour tous» auf und wenden sich gegen die Familienpolitik der Sozialisten. Andere, liberalere rechte Parteien hingegen sind mit den Neuerungen einverstanden. Die «Manif pour tous» ist als Opposition momentan effizienter als die klassischen rechten Parteien. Nur wissen wir noch nicht, was aus dieser Bewegung wird.

KNA: Es gibt Anzeichen, dass die französische Rechte bei den Europawahlen gewinnen könnte.

Anciberro: Der Front National wird von der Krise der Sozialisten profitieren und einen Rekord bei den Europawahlen erzielen. Das liegt aber nicht an seiner besonderen Stärke, sondern weil die Franzosen den anderen Parteien misstrauen. Insgesamt haben die Rechten kein starkes Alternativprogramm.

KNA: Bei der «Manif pour tous» haben auch einige katholische Bischöfe mitprotestiert. Welche Rolle spielt die Kirche bei der Diskussion um die Familienpolitik?

Anciberro: Die Katholiken bilden in der «Manif pour tous» die absolute Mehrheit. Nur ein kleiner Teil ist evangelisch, muslimisch oder eines anderen religiösen Bekenntnisses. Die Institution Kirche und die Französische Bischofskonferenz allerdings sind stark im Hintergrund geblieben. Zwar drückten sie in einigen Botschaften ihre Besorgnis über Änderungen im Familiengesetz aus, das künstliche Befruchtung und Leihmutterschaft legalisieren sollte. Das taten sie allerdings in deutlich milderem Ton als die Demonstranten der «Manif». Manche Bischöfe riefen dazu auf, sich an den Protesten zu beteiligen, andere grenzten sich öffentlich ab. Es gibt keine Einstimmigkeit der Kirche bei diesen gesellschaftlichen Fragen.

KNA: Sie sagten, Kirche und Christentum würden von einigen Politikern nicht mehr verstanden. Woran liegt das?

Anciberro: In Frankreich verschwindet die christliche Kultur – ein Prozess, der sehr schnell verläuft. Wenn ich in Deutschland jemanden frage, was Ostern oder Auferstehung bedeutet, wissen die meisten es noch so ungefähr. In Frankreich könnten es vielleicht drei von zehn Leuten erklären. Zwar gibt es in Frankreich noch eine katholische Mehrheit, doch die Zugehörigkeit besteht meist nur auf dem Papier. Es gibt vielleicht noch etwa zehn Prozent praktizierende Katholiken. Die anderen haben lediglich eine von Klischees geprägte Außenansicht auf die Kirche. Deshalb verstehen die meisten auch nicht, was die Kirche sagen will. Alles, was von der Kirche kommt, ist ihnen fremd und in ihren Augen radikal.

KNA: Inwiefern hängt das mit der Laizität zusammen, die ja schon in der Schule mit dem Ausschluss von Religionsunterricht beginnt?

Anciberro: Die Laizität mit ihrer strikten Trennung von Kirche und Staat gibt es bereits seit 100 Jahren. Ich denke nicht, dass sie der Auslöser für dieses eher junge Phänomen ist. Es handelt sich um eine gesellschaftliche Veränderung, die weit über diesen Aspekt hinausgeht. Die Veränderung passiert rasend schnell, schneller als in anderen Ländern.

KNA: Was kann die Kirche in Frankreich entgegenhalten?

Anciberro: Das ist eine gute Frage. Die Katholiken versuchen schon, präsent zu sein, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen, ihnen Dinge zu erklären. Tatsächlich ist Katholischsein in Frankreich etwas Exotisches. Wenn ein 40-Jähriger seinen Freunden abends in der Bar erzählt, dass er in die Messe geht, steht er im Verdacht, ein Extremist zu sein. Katholiken müssten sich heutzutage einfach zeigen, wie sie sind. Sie müssten auch eine andere Sprache sprechen – denn die Sprache, die die Kirche verwendet, wird nicht mehr verstanden.

KNA: Andererseits findet die mehrheitlich aus Katholiken bestehende «Manif pour tous» Gehör.

Anciberro: Das bedeutet aber nicht, dass die Katholiken an Einfluss gewinnen. Hier mischen sich christliche Überzeugungen mit einem Hass auf die Regierung. Umfragen zufolge unterstützen nur noch weniger als 20 Prozent der Bürger Präsident Hollande. Und das sind nicht nur die Katholiken. Unmut herrscht in der ganzen Gesellschaft.

KNA: Schaut man da manchmal mit Neid auf den Nachbarn Deutschland?

Anciberro: Ab und zu gibt es antideutsche Stimmungen im Land. Etwa, wenn ein Minister einen Spruch über Deutschland loslässt. Aber das ist natürlich weit weniger schlimm als im Süden Europas, etwa in Spanien, Griechenland oder Italien. Die extreme Linke teilt am ehesten die scharfen Urteile gegenüber Angela Merkel und dem Euro. Aber natürlich gibt es ein wenig Neid auf die geringe Arbeitslosigkeit und die gut laufenden Exporte in Deutschland.

Primas von Frankreich, Philippe Kardinal Barbarin (Lyon), beteiligte sich am Pariser ´Marsch für das Leben 2014´


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