Spontifex Maximus? Nein. Papst Franziskus SJ

13. März 2014 in Aktuelles


Mythos und Wirklichkeit: Ein Jahr amtiert der erste Lateinamerikaner auf dem Petrus-Stuhl – und wird von vielen immer noch nicht verstanden. Von Armin Schwibach (VATICAN magazin)


Rom (kath.net/as/VATICAN magazin) „Brüder und Schwestern! Guten Abend! Ihr wisst, es war die Aufgabe des Konklaves, Rom einen Bischof zu geben. Es scheint, meine Mitbrüder, die Kardinäle, sind fast bis ans Ende der Welt gegangen, um ihn zu holen“. Buona sera – diese beiden Worte sind am 13. März 2013 in die Geschichte der Kirche eingegangen. Später sollten noch „Guten Tag“ bei jeder Audienz und beim sonntäglichen Gebet des Angelus hinzukommen, der nunmehr traditionell mit einem „Gesegnete Mahlzeit“ endet. Mit seinem „Guten Abend“ löste der neu gewählte Papst, der sich zum ersten Mal auf der Mittelloggia der vatikanischen Basilika „urbi et orbi“ präsentierte, eine Spannung, die in den Tagen des Vorkonklaves und des Konklaves viele Gemüter wie Saiten vibrieren ließ, die auch hätten springen können.

Um 19:06 Uhr dann die „fumata bianca“: Üppiger weißer Rauch quoll aus dem Kamin, der aus dem Dach der Sixtinischen Kapelle in die Nacht ragte. Nur die katholische Kirche teilt heute noch das Wichtigste über Rauchsignale mit, statt Twitter, Facebook, WhatsApp oder einfach eine auch schon antiquierte SMS zu nutzen.

Kurz nach 20 Uhr verkündigte dann der Kardinalprotodiakon Jean-Louis Tauran: „Habemus Papam“: Jorge Mario Bergoglio, „qui sibi nomen imposuit: Franciscum“. Franziskus! Ein Papst hat es gewagt, den Namen des „poverello“ von Assisi anzunehmen, nach Gregor XVI. vor 167 Jahren der erste Ordensmann auf dem Stuhl Petri, ein Jesuit noch dazu. Zu viel Neues auf einmal für die Menge, die dem neuen Bischof von Rom trotz des kalten Nieselregens ihre Begeisterung zum Ausdruck brachte. Und als solcher hatte er sich vorgestellt: als Bischof von Rom, der mit seinem Volk einen Weg beginnt, „den Weg der Kirche von Rom, die den Vorsitz in der Liebe führt gegenüber allen Kirchen; einen Weg der Brüderlichkeit, der Liebe, des gegenseitigen Vertrauens“.

Schon beim Weggehen vom Petersplatz machte sich bei einigen ein Emotionsstau in den Worten „revolutionär“ und „Begeisterung“ Luft. Begeisterung auf den Gesichtern, in den ersten Kommentaren: nach dem „einfachen und bescheidenen Arbeiter im Weinberg des Herrn“ war ein argentinischer Gaucho gekommen, dem der Heilige Geist die Schlüsselgewalt übertragen hat. Ein Mann in Weiß auf dem berühmtesten Balkon der Welt, ein Weiß, das in die kalte Nacht strahlte, ein Weiß, dem alles fehlte, was man bisher von einem Papst gewohnt war, ein Weiß, das sich sofort in die Augen und in die Herzen einer Vielzahl von Menschen bohrte. Der „nackte Papst“, Sohn des heiligen Ignatius von Loyola, der es wagte, als Franziskus entkleidet vor sein Volk zu treten: diese offensichtliche Spontaneität, dieses Ablegen von Altem, Hergekommenem, dieser Bruch mit einer Tradition des Gewohnten überraschte vielleicht mehr als die Tatsache, dass der neue römische Pontifex vom Ende der Welt gekommen war.

Die Medien – und nicht nur diese – kürten Franziskus überraschend schnell zu ihrem Liebling. Ein für die Kirche und das Papsttum nicht gerade positives Jahr war soeben erst zu Ende gegangen. Die Dramatik des Amtsverzichts Benedikts XVI. – ein in seiner Art singuläres Ereignis in der Kirchengeschichte – prägte noch zutiefst die Erinnerung, bei nicht wenigen gepaart mit großer Wehmut. Da mutete der Auftritt von Jorge Mario Bergoglio gleichsam als befreiendes Aufatmen an. Das Bild vom „bescheidenen“ und „demütigen“ Papst wurde geschaffen und einer Masse geboten, die es so gerne hat, wenn einer „da oben“ sich angeblich als „einer von uns“ offenbart.

Der Name Franziskus schien sofort in sich eine Maßgabe für den Pontifikat zu sein – erklärte nicht der Papst selbst bei seiner Begegnung mit den Medienvertretern am 16. März: „Ach, wie möchte ich eine arme Kirche für die Armen!“ Armut – ein Wort, das vor allem in Wohlstandsgesellschaften in Bezug auf eine (wie „man“ weiß) „reiche Kirche“ seine Faszination ausübt und gern auch mit unübersehbarer Häme im Mund geführt wird: Armut – herunterdekliniert auf eine rein materielle Ebene, weit weg von dem, was Christus in seiner Bergpredigt seligpries.

Dass die Kirche arm sein soll, heißt für den Jesuitenpapst aber, sie zu entweltlichen, es heißt, die Weltlichkeit abzulegen und in den Kampf zu ziehen gegen jene satanische Versuchung, sich der Weltlichkeit hinzugeben und so Götzendienst zu treiben, die heidnischen Götzen an die Stelle des Allerheiligsten zu setzen. Der Geist der Welt, der Ungeist des Hungers, der Sklaverei, des Menschenhandels, der Prostitution, der Ausbeutung, der Zerstörung der natürlichen Umwelt, der Wegwerfkultur, der Kultur des Vorläufigen, der Verdorbenheit, der Korruption, der Entwürdigung des Menschen, der Abtreibung – für den Papst ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit –, dieser Geist muss für Franziskus als das erkannt werden, was er ist: als die Lepra, als das Krebsgeschwür unserer Gesellschaft. Mehr noch: Der Geist der Welt „ist das Krebsgeschwür der Offenbarung Gottes! Der Geist der Welt ist der Feind Jesu!“ (Assisi, 4. Oktober 2013).

Doch zurück ins Frühjahr 2013. Vom ersten Augenblick an stand Franziskus im Rampenlicht, wurde zum Gegenstand verschiedenster Konstruktionen, zum Spielball der widersprüchlichsten Gemeinplätze. All dem gemeinsam ist: Was der Papst wirklich sagt, interessierte und interessiert nach wie vor eher wenig. Wichtiger waren Eindrücke, Bilder, Bestätigungen von dem, was man selber meinte und wollte. Es war, als erwartete man sich, der Papst würde „alles abschaffen“, den Petersdom verkaufen, die Vatikanischen Museen verschenken, die römische Kurie zusammenschneiden oder doch wenigstens mit einem eisernen Besen auskehren. Ganz viel sollte er revolutionieren, vor allem all das, was der Welt so gern ein Dorn im Auge ist, angefangen bei äußeren Zeichen wie einer Mozzetta oder Schuhen, deren Farbe das innere Martyrium des Petrusdienstes repräsentiert, bis hin zur Glaubens- und Sittenlehre der Kirche. Um nicht von der Liturgie zu sprechen, ein von traditionalistischen und progressiven Kreisen gern beschrittener Kampfplatz, der dazu dient, die eigenen Positionen zu verfestigen und sie denen der anderen wild entgegenzusetzen.

Der Papst wurde zum „Superman“ hochstilisiert, zum „Mensch des Jahres“ für das „Time Magazin“, zum Hoffnungsträger für die ach so diskriminierten Homosexuellen, zur Pop-Ikone für die Zeitschrift „Rolling Stones“. Der „Superpope“ fand dann eines Tages im vergangenen Januar seinen kräftigsten Ausdruck in einem Graffiti auf Papier, das an eine Wand vor den Toren des Vatikans geklebt worden war. „Superpope“ – für nicht wenige eine Comicfigur, die in ihrer Spontaneität die Kirche schützt und in die Zukunft hineinträgt, Symbol eines hypothetischen und völlig emotional gefassten „neuen Frühlings“, ohne den Ballast alter Vorurteile, als hätte die Kirche bis zum 13. März 2013 in einem Dauerwinter gelebt.

„Superpope“ mitten unter uns – als „einer von uns“, mit einem Ford Focus unterwegs, mit einem Fiat Idea auf den Autobahnen von Rio de Janeiro, mit einem schrottreifen Renault 4 in der Garage neben den „alten“ SCV-1-Autos der Päpste seit Pius XI. Viele Bilder, Kommentare, Ideologisierungen unterschiedlichster Couleur weben sich um die Gestalt von Papst Franziskus, um den Mann des neuen Aufbruchs der Kirche, der mit der Kollegialität ernst machen und nach Meinung vieler die Kirche demokratisieren will. Oder fragte er etwa nicht das Gottesvolk, wie es zur Sexualmoral der Kirche steht und Familienleben gestalten will? Tut er all dies nicht als Vorspiel zu einem radikalen Einschnitt? Die Antwort ist ganz einfach: Nein.

Papst Franziskus fasst das, was er ist, ganz einfach zusammen und spricht dabei auf Jesuitisch: „Ich bin ein Sohn der Kirche“, der einen, heiligen, apostolischen, hierarchischen Mutter Kirche, in der Verehrung des allerheiligsten Namens Jesu und der Gottesmutter, der schönen Frau, die sogar noch höher als die Apostel steht. Franziskus ist ein marianischer Papst im echtesten und tiefsten Sinn: Er lebt mit Maria und lädt alle ein, an diesem Leben Anteil zu nehmen. So kann der Neu-Ultramontanismus in gewissen Kreisen der „Reformkatholiken“ nur erstaunen, zumal diese allzu oft auch eine erschütternde Unkenntnis der Lehre und der Geschichte der Kirche sowie der katholischen Lebensverwirklichung zeigen. Kann dem Papst also ein Wort wie „neue Spontaneität“ gerecht werden?

Franziskus hat einen Charakter, der ihn in der Wurzel von allen anderen Menschen und somit auch von seinen Vorgängern unterscheidet. War Benedikt XVI. sehr diskret und schüchtern gegenüber anderen, so ist Franziskus ein Papst zum Anfassen. Liebte der emeritierte Papst die tiefgehende theologische Durchdringung gerade auch dann, wenn er die Menschen lehrte und vor ihnen predigte, so zeichnet sich Franziskus durch ein kreisendes Denken, eine kreisende Sprache aus, denen seine ganz eigene Kasuistik zugrunde liegt.

Der Jesuit nimmt den Menschen um Christi willen und wie Christus an. Das Seelenheil des Menschen ist der Mittelpunkt seines Denkens und Handelns. Er tut dies nicht bedingungslos, sondern mit dem Anspruch, in die Fülle der Wahrheit des Christentums einzutauchen, um so die Verrohung, die Pervertierung des von Gott gerufenen und von ihm erwarteten Menschseins zu bekämpfen. Der Sünder muss geliebt, die Sünde muss gehasst, aber erkannt und Ernst genommen werden, nicht jedoch einem vorgefertigten Katalog entsprechend, sondern aus dem Einzelfall heraus, um der Tiefe des Individuums, seiner Seele gerecht zu werden. Jeder Fall ist für den Jesuiten zu unterscheiden, um die Wahrheit beurteilen zu können, da dies für ihn die Barmherzigkeit darstellt, die allein der Wahrheit Christi entspringen kann.

So führt Franziskus den von seinem Vorgänger – öffentlich wie im Verborgenen – begonnenen Prozess der Reinigung, der Läuterung von allem Schmutz fort. Der Jesuit tut dies vom Kern des Schmutzes aus, um der Welt die Notwendigkeit der Offenbarung Jesu Christi, seines Heils, seiner Erlösung deutlich zu machen. In dieser ignatianischen Substanz liegt der Sinn der Rede von den Randgebieten und existentiellen Peripherien, in die hinauszugehen ist. „Gehen – aufbauen – bekennen“: Mit diesen drei Worten bezeichnete der Papst am 14. März in seiner Predigt in der Sixtinischen Kapelle vor den Kardinälen den zu beschreitenden Weg, denn: „Wer nicht zum Herrn betet, betet zum Teufel. Wenn man Jesus Christus nicht bekennt, bekennt man die Weltlichkeit des Teufels, die Weltlichkeit des Bösen.“

Da der Jesuitenpapst das Individuum auf seinem Exerzitienweg durch das Leben in den Mittelpunkt rückt, weiß er, dass dieses der Leitung bedarf. Besonders deutlich wurde das in dem bisher einzig von ihm allein verfassten Apostolischen Schreiben „Evangelii gaudium“ (die Enzyklika „Lumen fidei“ ist ein „vierhändig“ verfasstes Lehrschreiben, wie dies der Papst nannte). Mit seinen 288 Unterkapiteln stellt es den Leser vor eine große Herausforderung. Weit über hundert Mal spricht der Papst in der Ich-Form. Klar ist: Der Papst redet als Ich-Papst und macht eine starke Ansage.

„Evangelii gaudium“ ist ein wenig alles: ein Programm, eine Beschreibung von Zuständen, es enthält konkrete und große Vorschläge. Vor allem aber macht es deutlich, dass die „Spontaneität“ des Papstes eine geregelte Spontaneität ist. Auch hinsichtlich so mancher Amtshandlungen führt der Text zur Erkenntnis: Da spricht jemand, der sich seiner Autorität bewusst ist, ja vielleicht sogar einer der autoritärsten Päpste der letzten 150 Jahre.

Der Papst setzt einen Kardinalsrat ein, der über wesentliche Elemente einer Reform der Kurie und des kirchlichen Lebens nachdenken soll? Er tut dies wie ein Jesuitengeneral, der seine für verschiedene Bereiche und Länder zuständigen „Assistenten“ hat, die ihm zuarbeiten, damit er die bestmögliche Entscheidung treffen kann, denn: Er ist es, der entscheidet. Der Papst will wissen, wie es um die vom Volk Gottes gelebte Lehre steht? Er fragt an, um gerade aus den Mängeln heraus das zu erkennen, was die Kirche im missionarischen Aufbruch braucht, damit die Lehre, das Christentum wieder unverkürzt und in Freude gelebt werden können.

Franziskus ist bisher das gelungen, was Benedikt XVI. so gern gehabt hätte: Dass allein durch sein Beispiel die Notwendigkeit von Erneuerung erkannt und deshalb diesem Beispiel gefolgt wird. Herzensanliegen und einer der Kernpunkte des Pontifikats Benedikts XVI. war die durch sein Beispiel stimulierte „neue liturgische Bewegung“. Aber dies reichte nicht für ein tiefes Verständnis und für eine Konsolidierung. Dagegen werden jeder Bischof und jeder Priester wohl heute nicht umhin kommen, ein schlechtes Gewissen zu haben, wenn sie sich in ihren teuren und gut ausgestatteten Dienstwagen setzen. Nicht umsonst ist der Autopark in vielen Generalvikariaten zum Standardthema geworden.

Ohne Mozzetta, ohne besondere Soutane, ohne auf das Zingulum gesticktes Wappen, ohne Thron ist Franziskus zweifellos „der mächtigste“ Papst geworden, ein Papst, dem in Italien der bekannte antiklerikale Intellektuelle Eugenio Scalfari sogar das Verdienst zuweist, dass durch ihn Rom nun wieder zur Hauptstadt der Welt geworden sei.

Zu Beginn des Pontifikats bemühten sich viele, gleichsam um eine Schreckstarre zu überwinden, die Kontinuität zwischen Benedikt XVI. und seinem Nachfolger zu betonen oder herbeizubeten, was wohl auch deshalb möglich war, weil man wenig von Jorge Mario Bergoglio wusste, obwohl er bereits im Jahr 2005 einer der starken „Gegenkandidaten“ Joseph Ratzingers gewesen war.

„Kein Blatt Papier“ passe zwischen die beiden, hieß es mancherorts. Heute wissen wir: Es passen Bibliotheken dazwischen. Denn Kontinuität in Lehre und Tradition meint nicht Gleichheit. Die Unterschiede – seien sie emotionaler, praktischer oder rationaler Art – liegen auf der Hand, allerdings auf einem gemeinsamen Boden der unverbrüchlichen Substanz. So schreibt Franziskus in „Evangelii gaudium“: „Ich werde nicht müde, jene Worte Benedikts XVI. zu wiederholen, die uns zum Zentrum des Evangeliums führen: ‚Am Anfang des Christseins steht nicht ein ethischer Entschluss oder eine große Idee, sondern die Begegnung mit einem Ereignis, mit einer Person, die unserem Leben einen neuen Horizont und damit seine entscheidende Richtung gibt’“ (Nr. 7).

Nach Benedikt Franziskus, vermittelt durch den heiligen Ignatius. Was Benedikt gesammelt und verwahrt hatte, streut Franziskus als Saatgut aus, frei nach einem Wort G. K. Chestertons: „Die Diener Gottes, die eine belagerte Garnison waren, wurden zu einer marschierenden Armee. Die Straßen der Welt wurden wie mit Donner vom Lärm ihrer Füße erfüllt und dem immer größer werdenden Heer weit voran ging ein Mann und sang; so einfach, wie er an jenem Morgen im winterlichen Wald gesungen hatte, in dem er allein unterwegs war” (Saint Francis of Assisi [1923], London 1964, S. 116).

So ruft der Papst wie sein Vater Ignatius von Loyola auf, „sub crucis vexillo Deo militare”, unter dem Banner des Kreuzes Gott besondere „Kriegsdienste” zu leisten, den Dienst der Armut und der Barmherzigkeit. Darin sieht Franziskus die wahre Macht und die „Macht des Papstes”. Das ist die Macht von Papst Franziskus SJ.

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