18. Mai 2014 in Kommentar
Nur über eins grübele ich seit diesem Sieg nach: alle sagen, Europa habe gezeigt, dass es so tolerant sei. - Ist das so? Ein Gastkommentar von Sr. Barbara Offermann OP
Schwalmtal (kath.net/Bethanien bloggt) Mal ganz im Vertrauen: Mir hat der ESC besser gefallen, als er noch Grandprix hieß und es noch um Musik ging und nicht um Politik. Aber sei's drum.
Thomas Neuwirth hat gewonnen - herzlichen Glückwunsch! Ne schöne Stimme hat er ja, das muss ihm der Neid lassen. Lied und Auftritt müssen auch gut gewesen sein, ich habe beides verpasst, glaube aber gerne, dass Österreich den ersten Platz verdient hat. Nur über eins grübele ich seit diesem Sieg nach: alle sagen, Europa habe gezeigt, dass es so tolerant sei. - Ist das so?
Ja, Homosexualität ist nicht mehr strafbar, wie sie es noch vor wenigen Jahrzehnten war und wie sie es nur wenige Kilometer weiter nach Osten und nach Süden immer noch ist. Sie ist nicht nur nicht strafbar: wir fördern sie nach Kräften mit unseren Gesetzen und in unserer Kultur, mit Umzügen und eben damit, dass ein Transvestit einen Musikwettbewerb gewinnt. Europa ist sexuell freizügiger geworden.
Ist das allein schon Toleranz?
Wie tolerant ist unsere Gesellschaft z.B., wenn jemand (um beim Thema Sex zu bleiben) enthaltsam leben möchte? Alle Fakten helfen nicht, alle Versuche der Transparenz und der Aufklärung schlagen fehl - für einen erheblichen Teil unserer Bevölkerung steht fest, dass Männer, die (aus religiösen Gründen!) keinen Sex haben, quasi automatisch zu Kinderschändern werden. Mindestens scheint für viele aber sicher, dass Priester nur deshalb enthaltsam leben wollen, weil sie in Wirklichkeit ein Problem mit Frauen haben oder schwul sind - was in dem Fall plötzlich gar nicht mehr so unbedenklich und normal zu sein scheint.
Ist das tolerant?
Aber Toleranz sollte sich ja eigentlich auch nicht nur auf die Frage der sexuellen Freizügigkeit beschränken. Wie sieht es also, sagen wir mal, mit der Bekenntnisfreiheit aus? In mehreren europäischen Staaten wird vor den verschiedenen Gerichten erbittert darum gestritten, ob und wann muslimische Frauen Kopftücher tragen dürfen oder ob in Klassenzimmern Kreuze abgenommen werden müssen.
Toleranz? Sieht für mich anders aus.
In Berlin wollten in diesem Jahr Moslems das Ende des Ramadan feiern. Die Stadt genehmigte das Straßenfest - aber nur unter dem Namen Frühlingsfest. Ähnliches ist für die Weihnachtsmärkte geplant. Religiöse Bezeichnungen für öffentliche Veranstaltungen sind mehr und mehr verpönt und wo die Wirtschaft nicht sowieso schon alles regelt und aus Ostern das Hasenfest macht, da müssen eben Gesetze her.
Jetzt könnten wir weitermachen mit den Asylbewerbern, die an der Festung Europa abprallen, aber dann nimmt dieser Artikel kein Ende. Mein Fazit: Ich gönne Thomas Neuwirth seinen Sieg und freue mich mit seinen Fans, dass Homosexualität bei uns nicht mehr geächtet wird. Aber bis ich die Toleranz Europas feiern kann, werde ich wohl doch noch etwas warten müssen...
Foto (c) Sr. Barbara Offermann OP
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