Wozu ist eigentlich Gender gut?

12. Juni 2014 in Interview


Was für die einen Schimpfwort ist, ist für andere Notwendigkeit: „Gender-Mainstreaming“. Streitgespräch zwischen der Leiterin des EKD-Zentrums für Genderfragen, Claudia Janssen, und der Gender-Kritikerin Birgit Kelle. Von Karsten Huhn (idea)


Wetzlar (kath.net/idea) Kaum ein anderer Begriff sorgt bei Debatten so für Aufregung wie „Gender-Mainstreaming“. Was für die einen ein Schimpfwort ist, ist für andere eine Notwendigkeit. Der englische Ausdruck Gender will im Unterschied zum biologischen das soziale oder psychologische Geschlecht bezeichnen. Nach dieser Theorie gibt es keine grundsätzlichen Unterschiede zwischen Mann und Frau. Gender-Mainstreaming will entsprechend die Gleichstellung der Geschlechter auf allen Ebenen bewirken. Im April hat die EKD in Hannover ein Zentrum für Genderfragen in Theologie und Kirche eröffnet. idea bat die Leiterin des Zentrums, Claudia Janssen, und eine Kritikerin, Birgit Kelle, zum Streitgespräch (Foto). Es moderierte idea-Redakteur Karsten Huhn.

idea: Frau Prof. Janssen, Frau Kelle, wozu ist Gender gut?

Janssen: Ich halte Gender für eine wichtige Kategorie, um Wirklichkeit zu verstehen und Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den Geschlechtern zu sehen. Diese Kategorie muss mit Leben gefüllt werden – sie ist von sich aus nicht eindeutig –, und darüber müssen wir reden.

Kelle: Ich frage mich: Wie kann etwas hilfreich sein, was die meisten Menschen überhaupt nicht verstehen? Für mich ist Gender ein völlig ungeeignetes Mittel, um die Wirklichkeit zu begreifen. Gender versucht, mir eine neue Wirklichkeit zu präsentieren, an der ich mich orientieren soll. Gender-Studien beschreiben nicht, sie schreiben vor.

Janssen: Das EKD-Studienzentrum für Genderfragen versteht sich hier als Übersetzungsbüro: Wir übersetzen die Theorien der Sozialwissenschaften in die Theologie, die internationalen Debatten in den deutschen Kontext und wir fragen: Was hat das mit unserer Wirklichkeit zu tun? Wir verstehen uns als Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Praxis.

idea: Welche Ziele verfolgt das EKD-Studienzentrum?

Janssen: Wir betreiben zunächst theologische Grundsatzarbeit. Uns ist es wichtig, Dialoge zu führen – deshalb freue ich mich sehr über dieses Gespräch. Es gibt so viel Unsicherheit, Angst und Missverständnisse, die durch den Raum schweben. Wir stellen Expertisen zur Verfügung, um komplizierte Texte zu lesen und diese in den Alltag der Leute zu übersetzen. Eine schöne Definition ist für mich: Gender ist ein Begriff, der Räume der Diskussion öffnet.

Kelle: Gender schadet mir

Kelle: Ich habe das Gefühl, dass Gender mir nichts nutzt und dass es mir sogar noch schadet. Gender geht von der Voraussetzung aus, dass ich als verheiratete, nicht berufstätige Mutter von vier Kindern gefangen bin in einem tradierten Rollenverständnis, aus dem ich befreit werden muss. Warum beschäftigen sich Menschen damit, meinen Lebensentwurf als etwas darzustellen, was überwunden werden muss, anstatt mich in meinem Lebensentwurf zu belassen?

Janssen: Frau Kelle, Sie haben ganz viele Vorannahmen, was Gender bedeutet …

Kelle: … ich habe keine Vorannahmen, sondern ich habe die Gender-Theorie gelesen – und versuche, sie zu begreifen.

Janssen: Mit „männlich“ und „weiblich“ kommen wir nicht weiter

Janssen: Sie haben ein Verständnis von Gender, das nicht meinem entspricht. Gender ist wie ein großer Container, in den Leute ganz viele Inhalte reinlegen. Ich verstehe Gender als ein Mittel zur Beschreibung der Wirklichkeit, die immer komplizierter wird. Sozialwissenschaftler haben bemerkt, dass wir mit den Kategorien „männlich“ und „weiblich“ nicht mehr weiterkommen. Es gibt so viele andere Formen, in denen Menschen sich bewegen. Neben dem biologischen Geschlecht gibt es auch zahlreiche weitere Kategorien. Zum Beispiel fragen sich Sozialwissenschaftler: Wie kommt es, dass in Saudi-Arabien für Frauen das Autofahren verboten ist? Offenbar sind an das biologische Geschlecht unterschiedliche Rollenerwartungen geknüpft.

Zum Beispiel ist die Aussage „Ein Junge weint nicht“ eine Zuschreibung an das männliche Geschlecht. Die Vorstellung, was „männlich“ und „weiblich“ bedeutet, verändert sich im Laufe der Zeit und fällt je nach Kultur verschieden aus. Noch weiter geht die Hirnforschung: Sie sagt, dass eine eindeutige Zuordnung eines biologischen Geschlechts nicht möglich ist.

Kelle: Das bezweifle ich! Ich habe erst kürzlich den Vortrag eines renommierten Hirnforschers gehört, der genau das Gegenteil sehr anschaulich belegte.

Janssen: Nein, auch das biologische Geschlecht ist vielfältiger, als wir denken – dies ergeben die neuesten medizinischen Forschungen. Das ist eine ganz neutrale Feststellung.

Kelle: Wenn es denn so neutral wäre! Ziel der Gender-Studien ist die „Dekonstruktion“ des biologischen Geschlechts – also die Infragestellung bis hin zur Abschaffung des biologischen Daseins als Mann und Frau. Da hakt es bei mir aus! Ich ziehe Mädchen und Jungs groß und stelle fest, dass viele Dinge bei ihnen absolut biologisch festgelegt sind. Da können wir uns auf den Kopf stellen, und trotzdem werden sie so bleiben. Dennoch haben es die Gender-Studien bis in unsere Bildungspläne geschafft – als sogenannte „Gender-Kompetenz“. Gender ist keine neutrale Beschreibung, sondern eine Wunschvorstellung, die im Widerspruch zum christlichen Menschenbild steht.

Ist Gender eine Ideologie oder nicht?

Janssen: Wir müssen die Diskussion versachlichen. Sie vermuten hinter Gender eine Ideologie …

Kelle: … ich vermute es nicht, sondern ich lese das in den Schriften der Gender-Vertreter. Die Gender-Forscher an den Universitäten haben sich in ihrem Elfenbeinturm eingeschlossen. Bei ihnen dreht sich alles nur noch um Sexualität. Für mich ist das ein Ärgernis, das Steuergelder kostet, ohne dass ich einen Nutzen davon habe.

Janssen: Die Gender-Studien zeigen, wo Männer und wo Frauen präsent sind. In Kindergärten und Grundschulen gibt es nur wenige Männer, an den weiterführenden Schulen ist das Geschlechterverhältnis ausgeglichen, dagegen lehren an den Universitäten deutlich mehr Männer als Frauen. Wie kommt das? Und ist das sinnvoll? Dann greift das Instrument des Gender-Mainstreaming: Was können wir tun, damit Männer und Frauen in der Erziehung gleichberechtigt tätig sind? Wie können wir den Anteil von Männern in Kindergärten steigern und den Anteil von Frauen an den Universitäten? Eine weitere Frage sind die Lehrinhalte: Als ich Anfang der 70er Jahre eingeschult wurde, stand in meinem Lesebuch die Mutter am Herd und hat gekocht, und der Vater hat das Auto repariert. Das ist eine Zuschreibung von Geschlechterrollen: Frauen kochen, Männer reparieren Autos. Ist das so richtig? Oder soll auch mal der Vater am Herd stehen und die Mutter am Auto? Darüber müssen wir diskutieren.

Kelle: Wir diskutieren aber nicht, es hat nie eine Diskussion gegeben, ob wir das alles wollen oder sinnvoll finden. Stattdessen ist Gender-Mainstreaming doch auf Europa- und Bundesebene längst Gesetz: Auf allen Ebenen sollen ebenso viel Frauen wie Männer tätig sein – das ist die Zielvorgabe der Politik.

Für eine 50-Prozent-Quote an der Universität wie bei der Müllabfuhr?

idea: Frau Kelle, was spricht gegen eine 50-Prozent-Quote für Frauen an Universitäten?

Kelle: Was spricht überhaupt für eine Quote? Lasst doch die Frauen den Beruf ergreifen, den sie möchten! Welchen Sinn hat es, dass es überall gleich viele Frauen wie Männer gibt? Damit verneinen wir die Neigungen, die eben auch etwas mit dem Geschlecht zu tun haben.

Janssen: In der evangelischen Kirche ist die angestrebte Gleichberechtigung bald erreicht: Wir haben zurzeit ca. 35 Prozent Pfarrerinnen in unseren Gemeinden. Das ist für mich ein Erfolg.

idea: Frau Janssen, fordern Sie auch eine 50-Prozent-Quote für Frauen bei der Müllabfuhr?

Janssen: Hier liegt ein großes Missverständnis in der Debatte: Wir wollen nichts vorgeben …

Kelle: … Entschuldigen Sie, aber um nichts anderes geht es den Gender-Vertretern als um die Forderung einer Quote! Sie verwechseln Gleichberechtigung mit Ergebnisgleichheit.

Janssen: Keine Frau kann gezwungen werden, Professorin zu werden. Es gibt aber eine Reihe von hoch qualifizierten Frauen, die beim Aufstieg an eine gläserne Decke kommen und denen Leitungspositionen verwehrt bleiben.

Kelle: Die gläserne Decke halte ich für einen Mythos! Sie gehen von vornherein davon aus, dass es eine gläserne Decke gibt, genauso wie Sie davon ausgehen, dass es sinnvoll wäre, dass überall 50 Prozent Frauen sitzen.

Janssen: Ich habe den Eindruck, dass Sie mir eine „Diktatur des Genderismus“ unterschieben wollen. Sie müssen schon unterscheiden: Nur weil Alice Schwarzer etwas sagt, muss ich es nicht auch vertreten. Der Feminismus ist sehr vielfältig.

idea: Warum konzentriert sich die Quoten-Diskussion nur auf Berufe wie den der Professorin und nicht auch auf die Müllabfuhr?

Janssen: In Deutschland ist die Arbeit bei der Müllabfuhr ein Männerberuf, in Rom ist das nicht so. Wenn viele Frauen Müllfrauen werden wollen – gerne! Wir müssen uns fragen: Liegt die ungleiche Verteilung an der Rollenzuschreibung, an der Bezahlung oder an den Arbeitsbedingungen?

Kelle: Aber Sie fordern die Quote nicht für die Müllabfuhr, sondern nur für die gut bezahlten Posten.

Was für eine Rolle spielen Mütter?

idea: Ein naheliegender Grund, warum Frauen in der Berufswelt nicht gleichermaßen wie Männer vertreten sind: Sie widmen sich der Erziehung der eigenen Kinder und scheiden dafür für kürzere oder längere Zeit aus der Erwerbsarbeit aus.

Janssen: Als Beschreibung ist das zutreffend.

Kelle: Die Gender-Theorie empfindet das Rollen-Modell der Mutter als Problem. Im Europarat hat man bereits monatelang darüber diskutiert, den Begriff der Mutter nicht mehr zu verwenden, weil er Rollen-Stereotypen verstärke. Es ist aber mein Leben, und ich bin glücklich darin!

Janssen: Ich gratuliere Ihnen aus vollem Herzen, dass Sie ein glückliches Leben führen. Kinder zu erziehen ist eine beglückende Aufgabe.

Kelle: Warum wollen mich die meisten Gender-Vertreter dann aus diesem Leben retten?

Janssen: Ich habe Ihr Buch „Dann mach doch die Bluse zu“ gelesen. Diplomatisch formuliert: Sie beziehen alles sehr auf sich …

Kelle: … nicht nur auf mich, sondern auf Hunderttausende Frauen, denen es ähnlich geht wie mir und denen ständig erklärt wird, dass ihr Lebensentwurf als Mutter und Hausfrau falsch ist.

Janssen: Was ich aus Ihrem Buch herausgehört habe: Es geht Ihnen um die Anerkennung des von Ihnen gewählten Lebensentwurfs. Diese Kultur der Anerkennung fehlt in unserer Gesellschaft – und auch in unserer Kirche.

Kelle: Wo bietet mir denn Gender-Mainstreaming Anerkennung? Nirgendwo!

Janssen: Jetzt grätschen Sie mir doch nicht ständig dazwischen! Was mir an Ihrem Entwurf fehlt, ist die Offenheit für andere Lebensentwürfe. Da ist die EKD mit ihrer Orientierungshilfe zur Familie einen mutigen Schritt vorangegangen. Denn auch lesbische und schwule Paare wollen Anerkennung! Zudem habe ich mich bei Ihrem Buch immer gefragt: Wer ist eigentlich Ihr Gegner?

Den Feminismus, den Sie beklagen, kenne ich so nicht. Ich verstehe, dass Veränderungen Angst und Unsicherheit auslösen. Und mit Ihren einfachen Wahrheiten ziehen Sie sich viel Beifall heran, aber die Wirklichkeit ist vielfältiger. Wir haben fast 50 Prozent Scheidungen, und es gibt sehr viele Single-Haushalte. Und viele Frauen und Männer wollen beides: Kinder und berufstätig sein. Sie haben sich für einen anderen Lebensentwurf entschieden, und meines Erachtens setzen Sie ihn sehr absolut.

Kelle: Mir gefällt Ihre Argumentation nicht. Wenn ich mich gegen Gender-Mainstreaming wende, bedeutet das nicht, dass ich ein Opfer meiner Ängste wäre oder Vorurteile habe. Ich werte auch nicht andere Lebensentwürfe ab. Ich möchte allerdings auch nicht Dinge gleichsetzen müssen, die in meinen Augen nicht gleich sind. Die Ehe gibt es nur zwischen Mann und Frau – das ist das christliche Verständnis von Ehe. Ich habe aber kein Problem damit, dass es auch andere Lebensentwürfe gibt. Soll doch jeder leben, wie er will.

Muss Familie neu definiert werden?

Janssen: Wir müssen Familie neu definieren, damit es ein tragfähiges, menschenwürdiges Überleben gibt. Für die evangelische Kirche macht Familie aus, dass man verbindlich Verantwortung für andere Menschen übernimmt. Gender-Mainstreaming kann dabei als Instrument dienen, dass diese Verantwortung auch wahrgenommen werden kann. Es sollten zum Beispiel nicht nur die Töchter sein, die ihre Eltern oder Schwiegereltern pflegen, sondern auch die Söhne. Diese gesellschaftliche Ungerechtigkeit müssen wir überwinden. Es sind eben überwiegend die Frauen, die Kinder erziehen und alte Menschen pflegen.

Kelle: Wer sagt denn, dass das ungerecht ist? Vielleicht sollten wir nicht nur fragen, wie kriegen wir mehr Männer zu dieser Arbeit, sondern vor allem: Wie können wir es finanzieren? Ich muss Familie nicht neu definieren, um zu ermöglichen, dass jemand sein Kind erzieht oder seine Eltern pflegt. Gerade bei diesem Beispiel sieht man sehr gut, dass die Frage des Geschlechts dabei völlig bedeutungslos ist. In unserer Gesellschaft ist Familienarbeit und Pflege nichts wert, egal ob Mann oder Frau sie erledigen. Um das zu ändern, braucht es kein Gender-Mainstreaming, sondern mehr Geld.

Janssen: Was das Gender- Mainstreaming fördern möchte

Janssen: Genau das möchte Gender-Mainstreaming fördern: dass es egal ist, welches Geschlecht jemand hat, wenn es um gesellschaftlich wichtige Arbeit geht. Oft geht es dabei auch um Geld – da sind wir einer Meinung.

idea: Ein Schlüsselvers für Gender-Theologen ist Galater 3,28: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.“ Wie verstehen Sie diese Aussage?

Janssen: Es ist eine Taufformel und eine Vision von Gemeinde. Wörtlich heißt es „weder männlich noch weiblich“. Der Apostel Paulus greift hier die sozialen Kategorien seiner Zeit auf. Es soll keine Hierarchien und keine sozialen Unterschiede geben, sondern ein Miteinander. Schon damals wurde über Gender-Kategorien gestritten. Die Griechen gingen von der Eingeschlechtlichkeit des Menschen aus. Der Unterschied war nur, dass bei den Männern die Geschlechtsorgane nach außen gestülpt waren und bei den Frauen nach innen.

Kelle: Ich vermute, wenn wir die griechischen Männer und Frauen befragen könnten, würden sie uns sehr klar sagen, ob sie männlich oder weiblich sind.

Janssen: Ich lese Galater 3,28 so, dass es nicht vom Geschlecht abhängt, welche Aufgabe jemand übernimmt. Wer die Gabe hat, zu leiten oder zu unterrichten, soll es tun.

Kelle: Ich verstehe den Vers so, dass im Leib Christi kein Unterschied gemacht wird, woher ich komme, wie vermögend ich bin und welches Geschlecht ich habe. Was ich jedoch nicht verstehe: Wie verträgt sich Gender-Mainstreaming mit der Schöpfungsgeschichte? Diese beschreibt den Menschen als Mann und Frau, so hat Gott sie erschaffen, oder hat er sich etwa geirrt? – Gender verneint genau diese Unterscheidung. In einer Rede zur Eröffnung des EKD-Gender-Zentrums hieß es: „Wissenschaftlich ist die Existenz von mindestens 4.000 Varianzen der geschlechtlichen Differenzierung bekannt.“ Meines Wissens braucht es aber nur zwei, nämlich Mann und Frau, um sich fortzupflanzen.

Was hat Gott geschaffen?

Janssen: Gott schafft Frauen und Männer und Menschen, die geschlechtlich nicht eindeutig sind, wie zum Beispiel Intersexuelle und Transsexuelle, Gott schafft hetero- oder homosexuelle Menschen. Gender verneint nicht die Unterschiede der Menschen, sondern lobt Gott für die Vielfalt der Schöpfung.

Kelle: Das ist eine interessante Interpretation von Genesis 1, Frau Janssen. In meiner Bibel steht da: „Als Mann und Frau schuf er sie“, aber meine Bibel ist auch nicht in gendergerechter Sprache, daran wird es sicher liegen.

idea: Hebt Galater 3,28 die Unterscheidung zwischen Mann und Frau auf?

Kelle: Nein, aufgehoben wird die Unterscheidung der Wertigkeit. Vor Christus sind alle gleich viel wert! Aber der Jude bleibt auch vor Christus immer noch Jude und der Grieche immer noch Grieche. Und so bleibt der Mann immer noch Mann und die Frau immer noch Frau. Wir müssen auch berücksichtigen, dass wir unterschiedliche Gaben haben: Im Gegensatz zu Männern haben Frauen die Gabe, Kinder zu gebären. Wo unterstützt mich die Gender-Theologie in der Gabe der Mutterschaft?

Janssen: In meinen Augen ist Paulus ein früher Gender-Theologe, der die Gender-Konflikte der damaligen Zeit auflöste. Auch Leitungspositionen sind nicht an ein Geschlecht gebunden. Wie damals stellt sich auch heute die Frage: Wer leitet, und wer deckt den Tisch? Leitung gilt nach wie vor als männlich und das Tischdecken als weiblich. Das geht so nicht!

idea: Derzeit erstellt das Gender-Zentrum einen EKD-Gleichstellungsatlas, der im Herbst vorgestellt werden soll. Welche Ergebnisse sind zu erwarten?

Janssen: Wir untersuchen in allen Landeskirchen, wie das Geschlechterverhältnis in den Gemeinden, in den Pfarrämtern und auf der Führungsebene ist.

idea: Die EKD-Synode beschloss bereits vor 25 Jahren, dass binnen zehn Jahren der Anteil weiblicher Führungskräfte mindestens 40 Prozent betragen solle.

Janssen: Auf der mittleren Führungsebene wird dieser Wert noch längst nicht erreicht, da sind wir erst bei ca. 20 Prozent Frauen. Um die Quote weiter zu steigern, brauchen wir andere Instrumente, zum Beispiel mehr Führungspositionen, die auch in Teilzeit ausgeübt werden können.

Kelle: Ist es für Sie ein Problem, dass mehr Männer als Frauen Führungspositionen ausüben? Und Sie reden schon wieder von Quoten.

Janssen: Für Frauen, die Theologie studiert hatten, aber nicht Pfarrerin werden konnten, war es ein Problem – bis die Frauenordination eingeführt wurde.

Kelle: Ich stelle mir aber immer noch die Frage, wozu die EKD ein Gender-Zentrum braucht? Die Aufgabe der Kirche ist es doch nicht, Gender-Kompetenz zu vermitteln, sondern den christlichen Glauben weiterzugeben.

Janssen: Das Zentrum hat zwei Schwerpunkte: Biblische Theologie und Genderfragen sowie Praktische Theologie und Organisationsstruktur. Unser Anliegen ist es, die biblische Botschaft von Gerechtigkeit und Gleichwertigkeit der Geschlechter zu vermitteln.

Ist eine Toilettentür genug?

idea: Die Frauen- und die Männerarbeit der EKD haben die Kampagne „Eine Tür ist genug“ vorgestellt. Sie soll zeigen, dass zweiteilige Geschlechtertrennung widersinnig ist. Genügt eine Toilettentür?

Janssen: Sie haben wahrscheinlich zu Hause auch keine getrennten Toiletten für Mann und Frau. Ich verstehe die Kampagne als Anregung zur Diskussion: Was ist Geschlecht? Was ist männlich, was ist weiblich? Warum steht die Wickelkommode in öffentlichen Toiletten nie auf der Herrentoilette? Den Anstoß zu dieser Diskussion begrüße ich.

Kelle: Zu Hause sind wir eine Familie, da brauchen wir keine getrennten Toiletten. Wenn sich aber eine Kirche mehr mit Toilettentüren als mit Glaubensfragen befasst, macht sie sich lächerlich.

idea: Frau Janssen, Kritiker der Gender-Studien sagen, diese seien eine Pseudo-Wissenschaft.

Janssen: Das ist falsch. Wir haben es mit einem neuen Zweig in den Wissenschaften zu tun, der die neuesten Erkenntnisse von Sozial- und Naturwissenschaften, Psychologie und Theologie berücksichtigt.

idea: Frau Kelle, der EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider warf Ihnen in seiner Rede zur Eröffnung des EKD-Studienzentrums für Genderfragen vor, Sie übten „polemische Kritik“, bedienten sich „vorurteilsvoller Argumentationsketten“ und betrieben „populistische Anbiederei an veränderungsunwillige konservative Kreise“.

Kelle: Das ist eine Anmaßung. Jeder, der von Gender nicht sofort begeistert ist, ist also vorurteilsvoll und veränderungsunwillig. Ich finde das ziemlich intolerant. Und es ist das gleiche Schema, nach dem Frau Janssen hier argumentiert. Vielleicht sollte Herr Schneider die Möglichkeit in Erwägung ziehen, dass die Leute keine Angst und Vorurteile haben, sondern einfach recht. Die Mehrheit der Menschen versteht das Gender-Konzept nicht und sieht keinen Bezug zum eigenen Leben. Deshalb muss sachliche Kritik an Gender möglich sein.

Wer steht heute rechts?

Janssen: Das Anliegen für Geschlechtergerechtigkeit ist parteiübergreifend und wird auch von Vertretern der CDU mitgetragen. Was mich jedoch schockiert: Frau Kelle, exakt die Argumente, die Sie gegen Gender verwenden, finden sich auch in Programmen von Parteien am politisch rechten Rand. Sie selbst schreiben für die Junge Freiheit, die auch eine rechtsextreme Klientel bedient.

Kelle: Ich bin selbst Mitglied der CDU. Was Sie tun, ist, Geschlechtergerechtigkeit fälschlicherweise mit Gender-Mainstreaming gleichzusetzen.

Janssen: Gender-Mainstreaming ist ein Instrument zur Umsetzung von Geschlechtergerechtigkeit – nicht mehr und nicht weniger. In manchen Kreisen ist „Gender“ jedoch mittlerweile ein echtes Hasswort geworden. Wie grenzen Sie sich von diesen rechten Strömungen ab?

Kelle: Jeder, der Gender-Mainstreaming ablehnt, ist also rechts? Das ist so armselig! Auf dem Niveau kann ich nicht diskutieren.

Was ist mit der „Jungen Freiheit“?

Janssen: Und was ist mit der „Jungen Freiheit“ aus Berlin?

Kelle: Ich schreibe für diese Zeitung – sie ist konservativ–, auch wenn es Ihnen nicht gefällt. Ein Land, in dem man Zeitungen wie „die tageszeitung“ (taz), den „Freitag“ oder das ehemalige Propaganda-Blatt der SED-Diktatur, das „Neue Deutschland“, für normale Zeitungen hält, muss auch eine „Junge Freiheit“ aushalten können. Im Übrigen schrieb selbst die linke „taz“ anerkennend zu meinem Buch, es sei längst überfällig gewesen, um die eingefahrene, feministische Dialektik zu beleben. Steht die „taz“ jetzt auch am rechten Rand? Ich schreibe auch für den „Focus“ und „The European“. Offensichtlich haben diese Publikationen weniger Berührungsängste als Sie. All meine Kollegen, die Gender für Unsinn halten, wie Volker Zastrow von der „FAZ“, Harald Martenstein von der „Zeit“ oder Alexander Kissler im „Cicero“ stehen dann also nach Ihrer Definition auch am rechten Rand.

Janssen: Ich sage nicht, dass Sie am rechten Rand stehen, sondern frage Sie, wie Sie sich davon abgrenzen. Ich bleibe dabei: Wer für die Junge Freiheit schreibt, muss sich dafür auch erklären.

Kelle: Nein, das muss ich nicht! Das Thema Familie, wie ich es vertrete, wird genauso übrigens von der CDU vertreten. Und über 75 Prozent der Bevölkerung leben das Familienmodell, das ich verteidige. Es ist schon eine steile These, die Mitte der Gesellschaft an den rechten Rand zu rücken. Weil Sie gerade keine Argumente mehr haben, kommen Sie mit der Faschismuskeule. Ich möchte das Gespräch jetzt abbrechen, das hat so keinen Sinn!

idea: Vielen Dank für das Gespräch!

Claudia Janssen (47) ist Studienleiterin des EKD-Zentrums für Genderfragen in Theologie und Kirche in Hannover. Sie ist zudem außerplanmäßige Professorin für Neues Testament in Marburg und Mitherausgeberin der Bibel in gerechter Sprache. Janssen lebt in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft.

Birgit Kelle (39) ist Journalistin und Vorsitzende des Vereins „Frau 2000plus“. Bekannt wurde sie durch ihre Kolumnen in Tages- und Wochenzeitungen sowie durch ihr Buch „Dann mach doch die Bluse zu: Ein Aufschrei gegen den Gleichheitswahn“ (adeo Verlag). Kelle ist verheiratet und Mutter von vier Kindern. Vor drei Jahren trat sie von der evangelischen zur katholischen Kirche über.

kath.net-Buchtipp
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Dann mach doch die Bluse zu
Ein Aufschrei gegen den Gleichheitswahn
Von Birgit Kelle
Gebundene Ausgabe, 192 Seiten
2013 Adeo
ISBN 978-3-942208-09-3
Preis 18.50 EUR

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Birgit Kelle: Gender-Mainstreaming ist ´wirre Ideologie´ (pro medienmagazin)


Foto: v.l.: Claudia Janssen, Studienleiterin des EKD-Zentrums für Genderfragen, und die katholische Publizistin Birgit Kelle. Foto: idea/Kwerk.eu


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