Oberster Glaubenshüter auf der Seite der Armen

24. Juni 2014 in Interview


Kurienkardinal Müller spricht im Interview über die USA "als Weltpolizist", den Einsatz für die Armen, die Befreiungstheologie und seine Freundschaft mit dem bekannten Befreiungstheologen Gustavo Gutierrez. Von Marie Czernin (Missio)


Wien (kath.net/Missio) Kardinal Gerhard Ludwig Müller, Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre, zeigt sich in der aktuellen Ausgabe des Missio-Magazins "alle welt" von seiner unbekannten Seite (siehe Fotos): Jahrelang besuchte er - teils ganz leger gekleidet - die armen Pfarreien der Indios in Peru, wo er viele Freunde hat.

Im ausführlichen Interview mit Missio unterstreicht Müller: "Wir dürfen die Armen nicht von oben herab betrachten." Die Kirche kritisiere die "Einseitigkeit des Kapitalismus genauso wie die Einseitigkeit des Sozialismus. Die soziale Marktwirtschaft ist die Synthese, durch die beide Extreme vermieden werden." Auch dürfe man nicht den Individualismus in den USA verabsolutieren: "Wenn sich die USA als Weltpolizist aufspielen, wird es dadurch nicht friedlicher auf der Welt."

Auch auf seine Freundschaft mit dem Befreiungstheologen Gustavo Gutierrez ging Müller ein: "Er ist kein ,Stubengelehrter', sondern einer, der sich wirklich einsetzt für die Menschen." Die Kirche habe sich in ihren Instruktionen zur Befreiungstheologie "nicht gegen bestimmte Theologen gerichtet". Es sei darum gegangen, "einseitige Interpretationen in der Befreiungstheologie zu vermeiden und zu überwinden."

Für das Elend großer Teile der Gesellschaft in Südamerika macht Müller auch "die Besitzenden und politisch Mächtigen" verantwortlich, die "ihre Macht und ihren Besitz zur Selbstbereicherung ausnützen. So entstehen Hass- und Neidkomplexe oder die Abwehrhaltung der Reichen gegenüber den Armen. Sowohl die Struktur wie die Mentalität müssen hier verändert werden, damit ein Solidaritätsbewusstsein entstehen kann."

Missio: Warum haben Sie gerade jetzt ein Buch über die Armut verfasst?

Gerhard Kardinal Müller: Immer schon stellt sich die Frage, was die Kirche aus ihrem Fundus dazu sagen und was sie beitragen kann, damit diese menschenunwürdige Situation überwunden wird. Die Kirche ist von Christus eingesetzt, um die Menschen zum ewigen Heil zu führen. Sie hat aber auch den Auftrag, das soziale Leben zu fördern und macht deutlich, dass der Mensch nach Gottes Bild und Gleichnis geschaffen worden ist. Wir dürfen die Armen nicht von oben herab betrachten, etwa so, dass für die armen Länder von unserem reich gedeckten Tisch etwas abfällt. Alle sollen am Tisch Platz nehmen können, denn die Güter der Erde hat Gott allen Menschen gegeben.

Missio: Papst Franziskus übt in seinem Schreiben „Evangelii gaudium“ Kritik am Kapitalismus. Lehnt er sich da nicht etwas zu weit hinaus?

Müller: Die Möglichkeiten der Globalisierung müssen sozial und ethisch abgefangen werden. Einige wollen die Wirtschaft jedoch abschotten gegen jeden ethischen Anspruch. Es gibt schon auch eine kapitalistische Ideologie.

Die Kirche kritisiert die Einseitigkeit des Kapitalismus genauso wie die Einseitigkeit des Sozialismus. Wir sind nicht Partei in einem Kampf, sondern die Kampfsituation ist der Ursprung allen Übels. Die soziale Marktwirtschaft ist die Synthese, durch die beide Extreme vermieden werden.

Missio: Für US-Amerikaner, auch für dortige Katholiken, klingt unsere europäische soziale Marktwirtschaft bereits zu sozialistisch.

Müller: Es muss ein Gleichgewicht gefunden werden zwischen Freiheit und sozialer Verantwortung. Man kann den Individualismus in den USA, den diese Kultur dort geprägt hat, nicht einfach verabsolutieren. Wenn sich die USA als Weltpolizist aufspielen, wird es dadurch nicht friedlicher auf der Welt.

Ich kann keinen Kompromiss machen und sagen: Ich bin zwar Christ, aber was die christliche Soziallehre betrifft, da halte ich mich fein raus.

Missio: Dort gibt es ja auch viel Armut und starke Klassenunterschiede.

Müller: Der Staat muss nicht alles regulieren, aber er muss die Voraussetzung dafür schaffen, dass soziale Gerechtigkeit existiert. Es muss ein Gleichgewicht geschaffen werden zwischen Freiheit und sozialer Verantwortung.

Missio: Papst Franziskus mahnt, dass Profit und Solidarität zusammen gehören.

Müller: Jeder hat das Recht, danach zu streben, dass er Grundlagen für sein Leben, für seine Familie in der Gemeinschaft erwerben kann, aber eben nicht auf Kosten der anderen. Profitdenken kann zu einer Selbstbereicherung auf Kosten der anderen führen. Daraus entsteht die Spaltung der Gesellschaft in Besitzende und Nichtbesitzende, in Reiche und Arme.

Das muss auch aus dem christlichen Geist heraus überwunden werden.

Wir sprechen von der Sozialpflichtigkeit des Eigentums. Es gibt keine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, ohne Verantwortung zu übernehmen.

Missio: Manche meinen, die sozialen Errungenschaften Europas seien selbstverständlich.

Müller: Was uns selbstverständlich vorkommt, wie die Nächstenliebe, geht auch in den säkularisierten Ländern des Westens wieder zurück. Menschen werden hier meist nach Nützlichkeit bewertet: Was tragen sie bei für das Bruttosozialprodukt? Wenn sie alt und krank sind, weiß man nichts mehr mit ihnen anzufangen.

Wir können uns nicht auf unsere Kultur der Solidarität verlassen. Es bedarf immer wieder einer neuen Auslegung der Verkündigung und der Motivation, aus dem Glauben heraus zu handeln.

Missio: Besteht eine Korrelation zwischen unserem Verhalten gegenüber den Armen und unserer Beziehung zu Gott?

Müller: Gott hat die Menschen als Gemeinschaftswesen geschaffen. Darum hat unser Verhältnis zum Nächsten unmittelbar auch mit Gott zu tun.

Wir glauben ja an den Gott der Schöpfung und der Erlösung und nicht an einen Gott der bürgerlichen Kultur, der nur für ästhetische Bedürfnisse zuständig ist.

Der Glaube darf nicht auf ein Kulturchristentum reduziert werden.

Missio: Um welche Formen der Armut geht es?

Müller: Der Begriff wird geprägt durch die materielle Armut: Jemand hat nicht das Nötigste zum Leben. Aber der Begriff kann auch im übertragenen Sinne gebraucht werden.

Es gibt die allgemeine Bedürftigkeit des Menschen gegenüber Gott. In seiner geistigen Armut weiß der Mensch sich ganz abhängig von Gott. Auch der besitzende Mensch muss merken, dass er bedürftig ist nach der Liebe der anderen, dass er hungert nach dem Wort Gottes. So lernt er von den Armen, dass das, was wir besitzen, letztlich eine Gabe Gottes ist.

Weil wir alles von Gott her empfangen, sind wir auch Brüder und Schwestern, die miteinander teilen können. Es geht deshalb nicht nur um eine soziale Tätigkeit, sondern auch darum, das Evangelium zu verkünden.

Missio: In Südamerika gibt es immer wieder Klassenkämpfe zwischen den Reichen und den Armen. Sind die Reichen automatisch die Bösen?

Müller: Der Klassenkampf entspringt aus dieser Konfliktsituation, aus der Kluft zwischen Arm und Reich. Dass große Teile der Gesellschaft so elend sind, hängt auch damit zusammen, dass die Besitzenden und politisch Mächtigen ihre Macht und ihren Besitz zur Selbstbereicherung ausnützen.

So entstehen Hass- und Neidkomplexe oder die Abwehrhaltung der Reichen gegenüber den Armen. Sowohl die Struktur wie die Mentalität müssen hier verändert werden, damit ein Solidaritätsbewusstsein entstehen kann.

Missio: Besteht die Gefahr, dass sich die Kirche von der Politik instrumentalisieren lässt und sich so von ihrem religiösen Auftrag entfernt?

Müller: Die Kirche muss versuchen, diese Konflikte zu überwinden, aber nicht in der Weise, dass das System, das solche Konflikte hervorbringt, stabilisiert wird.

Es besteht die Gefahr, dass man sich auf irgendwelche Ideologien stützt, die von oben herab, patriarchalisch soziale Einzelaktionen in die Wege leitet.

Das andere Extrem wäre, dass man die Kirche zur Speerspitze einer Revolution macht, die meint, man könne gewaltsam die eine Klasse durch die andere austauschen.

Das sind rein politische Lösungen. Wir können uns weder auf die kapitalistische noch auf die sozialistische Seite schlagen oder eine Partei werden.

Aber wir sollen auch nicht ein System stabilisieren und aufs Jenseits vertrösten. Wir haben nicht die Aufgabe, ideologisch zu rechtfertigen, dass die einen alles besitzen und die anderen nichts. Es geht nicht darum, Sklaven gut zu behandeln, sondern wir müssen die Sklaverei abschaffen.

Missio: Für viele ist überraschend, dass Sie mit dem Befreiungstheologen Gustavo Gutierrez befreundet sind.

Müller: Als ich Professor in München war, habe ich die Semesterferien oft genutzt, um in Peru an Priesterseminaren zu lehren und in Pfarreien tätig zu sein. Ich kenne Gutierrez von daher ganz gut. Unsere Freundschaft ist mit der Zeit gewachsen, und wir sind auch heute noch in Kontakt.

Er ist kein „Stubengelehrter“, sondern einer, der sich wirklich einsetzt für die Menschen. Wir haben gemeinsam ein Seminar zur „Theologie der Befreiung“ gehalten, als sie noch umstritten war. Es war eine Gelegenheit, diese Theologie besser kennenzulernen und ihre Intention zu erfassen.

Missio: Aber es gab doch zwei Schreiben der Glaubenskongregation, in denen einige Aspekte der Theologie der Befreiung kritisiert und verurteilt wurden.

Müller: Die beiden Instruktionen haben sich nicht gegen bestimmte Theologen gerichtet und sie verurteilt, sondern wurden verfasst, um einseitige Interpretationen in der Befreiungstheologie zu vermeiden und zu überwinden.

Auch wenn man einzelne Aspekte des Marxismus würdigen kann, muss man sagen, dass dem Marxismus ein falsches Menschenbild und gar kein Gottesverständnis zugrunde liegen und er letztlich nicht für die Lösung gesellschaftlicher Fragen dienen kann.

Es handelt sich um ein rein materialistisches Weltbild, dem die Vorstellung eines Paradieses auf Erden zugrunde liegt. Das ist eine Utopie, die besagt, dass diejenigen, die sich schuldig machen, vernichtet werden müssen. Das kann nicht das Ziel einer christlichen Weltvorstellung sein.

Missio: War Papst Johannes Paul II. auf Grund seiner Erfahrung mit dem Kommunismus besonders kritisch gegenüber der Befreiungstheologie?

Müller: Er war besonders sensibel und hat sich nicht täuschen lassen vom Kommunismus. Er hat die Realität gesehen, die sich hinter diesem Projekt verbirgt, während andere nur Bücher über schöne Theorien gelesen haben.

Missio: Verstehen Sie durch Ihre vielen Reisen nach Lateinamerika Papst Franziskus besser?

Müller: Durch meine Südamerika-Erfahrung habe ich auch Zugang zur Mentalität der Menschen dort. Die ganze Herangehensweise an Themen und Probleme unterscheidet sich von unserer Denkweise.

Es tut der Weltkirche gut, dass wir nicht immer nur aus unserer europäischen Perspektive an die Probleme herangehen, sondern selbst aus einer anderen Sichtweise betrachtet werden.

Missio: In welche Richtung wird das Pontifikat gehen?

Müller: Gerade durch seine Haltung der Bescheidenheit im Erscheinungsbild, seine Zuwendung zu den Hirten und zu vielen Gläubigen, durch seinen realistischen Zugang zu den Herausforderungen, spricht er viele Menschen an.

Seine Botschaft ist für alle verständlich und sehr direkt. Das ist doch ein Erfolg, den er für die Kirche bereits errungen hat.

Er hat manche Frontstellungen überwunden, indem er das Augenmerk auf den allergrößten Teil der Menschheit hinlenkt, nämlich auf die Armen.

Missio: Wie gehen Sie damit um, wenn Medien versuchen, Sie als konservativen Gegenspieler von Franziskus hinzustellen?

Müller: Es hat keinen Sinn, sich solchen Phantasiegeschichten zur Wehr zu setzen, weil es diejenigen, die solche Geschichten erfinden, nur noch mehr bestärkt. Die Leute brauchen halt solche Klischees, damit sie meinen können, den Papst für ihre ideologischen Ziele vereinnahmen zu können.

Wir können ja auch zurückverfolgen, von wo das kommt und welche Interessen dahinter stehen. Sie wollen den Papst als Leitfigur für ganz bestimmte linke Ideologien missbrauchen.

Ich glaube, dass der Papst sich nicht instrumentalisieren lässt. Man kann nur allen empfehlen, seine ganze Verkündigung zur Kenntnis zu nehmen. Der Papst hat von Christus einen klaren Auftrag, nämlich die Menschen im Glauben zu stärken.

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Foto Kurienkardinal Müller in Lateinamerika (c) Missio


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