Sigmund Freud: Psychiater Bonelli für 'Entmythologisierung'

22. September 2014 in Chronik


Kathpress-Interview mit dem Wiener Psychiater Raphael Bonelli zum 75. Todestag des Begründers der Psychoanalyse - "Religion war für ihn ein Reibebaum - er hat sie abgelehnt, aber zugleich hat ihn Religion auch fasziniert"


Wien (kath.net/KAP) Sie ist 186 Zentimeter lang und 83 Zentimeter breit: Die wohl berühmteste Couch der Welt des österreichischen Neurologen, Psychologen und zugleich Kulturtheoretiker Sigmund Freud (1856-1939). Auf ihr hatte Freud fast ein halbes Jahrhundert lang seine Behandlungsmethode - die Psychoanalyse - entwickelt. Sie steht jedoch heute nicht etwa in Wien, wo Freud seine Hauptwerke verfasste und u.a. die Grundlagen der Psychoanalyse erarbeitete, sondern in London, wo Freud vor 75 Jahren, am 23. September 1939, starb.

Will man heute Freud angemessen gedenken, so braucht es ein gehöriges Maß an "Entmythologisieren", zeigt sich der Wiener Psychiater und Leiter der Forschungsgruppe Neuropsychiatrie an der Sigmund Freud Universität Wien, Raphael Bonelli (Foto), überzeugt. Das Denkmal muss gestürzt werden, um klarer zu sehen, was man ihm heute tatsächlich alles verdankt. Denn es wäre ebenso vermessen, Freud zum großen Übervater zu stilisieren, wie ihn und seine Beobachtungen und Methoden einfach zu alten Eisen zu legen, so Bonelli im Gespräch mit "Kathpress".

Besondere Beachtung verdiene dabei laut Bonelli Freuds Verhältnis zur Religion sowie seine ausgeprägte Wissenschaftsgläubigkeit. "Freud hat Religion schlichtweg abgelehnt, sie gar als Pathologie behandelt." Religion sei für ihn immer "ein Reibebaum" gewesen: "Er hat sie abgelehnt, aber zugleich hat ihn Religion auch fasziniert". Der Grund für diese Ablehnung sei "schlichtweg der Zeitgeist" gewesen: Es entsprach der Stimmung des ausgehenden 19. Jahrhunderts, dass Technik alles und Religion nichts war. "Darwin hat die Entstehung des Menschen erklärt, alles schien technisch machbar."

Gefangen im geschlossenen System

Freud sei ganz dieser Weltanschauung verfallen gewesen, so Bonelli. Das werde nicht zuletzt bei Freuds Skizze der menschlichen Psyche als "psychischer Apparat" deutlich. "Bei Freud gibt es keinerlei Freiheit", bringt Bonelli das Problem auf den Punkt: "Der Mensch ist eine Maschine, alles hat seinen Grund im Ich, Es oder Über-Ich".

Hinzu komme, dass Freuds Thesen - entgegen seinem eigenen Beharren auf strenger Wissenschaftlichkeit - bis heute "weder beweisbar noch falsifizierbar sind", so Bonelli, sondern "ein eigenes, in sich geschlossenes System" darstellen. Dieses System habe Freud so sehr gegen Kritik immunisieren wollen, dass er sogar einzelne Fälle, die er selbst zur Stützung seiner Thesen heranzog, "gefaked" hat, so Bonelli. Damit jedoch sei klar, dass Freud nicht etwa nüchterner Beobachter gewesen sei, sondern "seine Weltanschauung, vor allem seinen Materialismus, tief hineingesenkt hat in seine Theoriebildung".

Als Person sei Freud ein schwieriger Charakter gewesen, so der Psychiater Bonelli weiter - "wie man es oft bei narzistischen Persönlichkeiten feststellen kann": So verbat der aus jüdischer Familie stammende erklärte Atheist Freud etwa nach der Heirat mit seiner Frau Martha, einer gläubigen Jüdin, dieser jede Form der Religionsausübung. Seinen Kindern gegenüber sei Freud eher distanziert gewesen, wenngleich er sich für sie und ihre Entwicklung aus wissenschaftlich-psychologischer Sicht interessiert zeigte. Seinen Schülern und Mitarbeitern sei Freud "mal großväterlich, mal wie ein Tyrann" erschienen, der keine anderen Meinungen neben seinen eigenen duldete, so Bonelli. Kurz: "Er hat niemanden gleichgültig gelassen. Die Menschen haben ihn geliebt oder gehasst."

Biografische Notizen

Sigmund Freud wurde am 6. Mai 1856 im mährischen Freiberg als Sohn einer wohlhabenden jüdischen Familie geboren. Unter den Druck der Wirtschaftskrise zieht die Familie wenige Jahre später nach Wien, wo Freud als herausragender Schüler und Student Medizin studierte und anschließend als Arzt am Wiener Allgemeinen Krankenhaus arbeitet.

Von 1885-1886 studiert er an der Nervenklinik Salpetriere in Paris, wo er Schüler des Hysterie-Forschers Jean Martin Charcot war. 1886 heiratet Freud die Rabbinertochter Martha Bernays. Gemeinsam hat das Paar sechs Kinder. In Wien eröffnet Freud seine eigene Praxis, wo er vor allem Patientinnen aus dem gehobenen Bürgertum behandelte und dabei die Psychoanalyse entwickelte. Für Aufsehen sorgen Freuds Thesen über die allen psychischen Störungen zugrundeliegenden unterdrückten sexuellen Wünsche und Träume. In Studien und Büchern wie der "Traumdeutung" von 1899 vertieft Freud diese Thesen.

Als er während seiner Selbstanalyse eigene Träume interpretiert und seine Familiengeschichte durchforstet, entdeckt er das Phänomen, das heute als "Ödipuskomplex" bekannt ist: Als zweijähriger Junge war er in seine Mutter verliebt und wurde von heftiger Eifersucht gegen den eigenen Vater gequält, die selbst den Gedanken an Mord nicht ausschlossen.

Der Religion steht der Atheist Freud ablehnend gegenüber und versteht sie als eine Art Kindheitsneurose. Gleichwohl fühlt er sich mit zunehmenden Antisemitismus dem Judentum verbunden, wird Mitglied in einer B'nai B'rith-Loge. Bis zu seinem Lebensende setzt er sich mit dem Thema Religion auseinander. Wenige Tage vor seinem Tod im Herbst 1939 veröffentlicht er im britischen Exil sein letztes Buch: eine Studie über den Religionsgründer Moses.

Prof. Raphael M. Bonelli im Interview mit Martin Lohmann, Teil 1:


Teil 2:


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Foto Bonelli (c) Raphael Bonelli


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