Ja zum Gesetz der Gradualität, doch Nein zur Gradualität des Gesetzes

9. Oktober 2014 in Kommentar


Johannes Paul II. wiederholte die Worte von Paul VI.: „In keinem Punkte Abstriche an der Heilslehre Christi zu machen, ist eine hohe Form seelsorglicher Liebe.“ Ein Gastkommentar des Moraltheologen Josef Spindelböck


St. Pölten (kath.net) Bei der vom 5.-19. Oktober 2014 im Vatikan stattfindenden Sondersynode über „die pastoralen Herausforderungen der Familie im Kontext der Evangelisierung“ können die Teilnehmer in offener und freier Aussprache ihre jeweilige Sichtweise vortragen. In den offiziellen Verlautbarungen, welche vom Vatikanischen Pressebüro verbreitet werden, finden sich Auszüge aus den Stellungnahmen der Redner, jedoch ohne namentliche Zuordnung der Beiträge. Mitunter ist in den Synodenbeiträgen, aber auch in darauf bezogenen Presseberichten und Reflexionen die Rede vom „Gesetz der Gradualität“, welchem die Pastoral der Kirche verstärkt folgen müsse. Worum geht es hier?

Im Prinzip handelt es sich um das stufenweise Wachstum im Guten bzw. um die stufenweise Bekehrung. Für jeden Seelsorger, der in der Nachfolge des Guten Hirten die Seinen kennt und liebt, ist dies eine Selbstverständlichkeit: Als Menschen im Pilgerstand dieses irdischen Lebens sind wir nicht vollkommen. Wir sollen im Guten wachsen und reifen und erfahren uns angesichts der täglichen Herausforderungen immer wieder als schwache, sündige Menschen. Doch wer den guten Kampf täglich neu aufnimmt, darf mit der Hilfe der Gnade Christi rechnen, der uns liebt und begleitet. Der verständige Seelsorger wird darum jene Menschen, die sich um das Gute mühen, nicht anklagen, sondern ermutigen. Gerade der regelmäßige Empfang des Bußsakraments wird ihnen helfen, sich immer neu an der Wahrheit Christi auszurichten und nach der Vollkommenheit der Liebe, also nach wahrer Heiligkeit zu streben.

Nun könnte jedoch jemand auf die Idee kommen und sagen: „Die Anforderungen sind einfach zu hoch; wir müssen die Latte niedriger setzen. Nur dann werden die Menschen in der Lage sein, die kirchlichen Vorgaben zu erfüllen.“ Konkret schlagen manche jetzt tatsächlich vor, die Kirche solle die im Zusammenhang von Ehe und Familie geltenden sittlichen Normen an die Lebenswirklichkeit der Menschen „anpassen“, um so die oft erkennbare Kluft zwischen Lehre und Leben zu überwinden. Als konkrete Beispiele werden genannt: unverheiratet zusammenlebende Paare, Empfängnisverhütung, geschiedene und zivil wiederverheiratete Paare, Personen in homosexuellen Lebensgemeinschaften.

Aber Vorsicht! Wer so denkt und argumentiert, folgt nicht der anfangs beschriebenen Anerkennung eines Gesetzes der Gradualität, sondern erliegt der Versuchung das Gesetz Gottes, also seine Gebote zu relativieren, d.h. eine Gradualität des Gesetzes einzuführen. Der heilige Johannes Paul II., der große Papst der Familie, hat in seinem nachsynodalen Apostolischen Schreiben „Familiaris consortio“ anerkannt, dass der Mensch „das sittlich Gute auch in einem stufenweisen Wachsen“ vollbringt und auch die Eheleute auf einen solchen Weg gerufen sind, „getragen vom aufrichtig suchenden Verlangen, die Werte, die das göttliche Gesetz schützt und fördert, immer besser zu erkennen, sowie vom ehrlichen und bereiten Willen, diese in ihren konkreten Entscheidungen zu verwirklichen. Jedoch können sie das Gesetz nicht als ein reines Ideal auffassen, das es in Zukunft einmal zu erreichen gelte, sondern sie müssen es betrachten als ein Gebot Christi, die Schwierigkeiten mit aller Kraft zu überwinden.“ (FC 34) Um dem angeführten Missverständnis entgegenzutreten, stellte Johannes Paul II. anschließend fest, wobei er sich auf seine Homilie zum Abschluss der VI. Bischofssynode am 25.10.1980 bezog: „Daher kann das sogenannte ‚Gesetz der Gradualität‘ oder des stufenweisen Weges nicht mit einer ‚Gradualität des Gesetzes‘ selbst gleichgesetzt werden, als ob es verschiedene Grade und Arten von Gebot im göttlichen Gesetz gäbe, je nach Menschen und Situationen verschieden. Alle Eheleute sind nach dem göttlichen Plan in der Ehe zur Heiligkeit berufen, und diese hehre Berufung verwirklicht sich in dem Maße, wie die menschliche Person fähig ist, auf das göttliche Gebot ruhigen Sinnes im Vertrauen auf die Gnade Gottes und auf den eigenen Willen zu antworten."

Es wird also in der Pastoral der Kirche nicht darum gehen können, die Lehre in falscher Barmherzigkeit anzupassen, sondern die jeweiligen Möglichkeiten der Menschen zum sittlichen Wachstum und zur Erfüllung der Gebote zu berücksichtigen und sie genau hierin zu begleiten und zu unterstützen, ohne die Sünde jemals gutzuheißen. Zum Abschluss nochmals die Worte Johannes Pauls II.: „Deswegen hört die Kirche niemals auf, aufzurufen und zu ermutigen, die eventuellen ehelichen Schwierigkeiten zu lösen, ohne je die Wahrheit zu verfälschen oder zu beeinträchtigen. Sie ist nämlich davon überzeugt, dass es zwischen dem göttlichen Gesetz, das Leben weiterzugeben, und jenem, die echte eheliche Liebe zu fördern, keinen wirklichen Widerspruch geben kann (vgl. GS 51). Darum muss die konkrete pastorale Führung der Kirche stets mit ihrer Lehre verbunden sein und darf niemals von ihr getrennt werden. Ich wiederhole deshalb mit derselben Überzeugung die Worte meines Vorgängers: ‚In keinem Punkte Abstriche an der Heilslehre Christi zu machen, ist eine hohe Form seelsorglicher Liebe.‘ (Paul VI., Enzyklika Humanae vitae, Nr. 29)“ (FC 33).

Dr. Josef Spindelböck ist Mitglied der Gemeinschaft vom heiligen Josef und Priester der Diözese St. Pölten. Er unterrichtet als ordentlicher Professor für Moraltheologie und Ethik an der Phil.-Theol. Hochschule der Diözese St. Pölten sowie als Gastprofessor am Internationalen Theologischen Institut für Ehe und Familie in Trumau.

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