Liessmann: Selektion von Embryonen zeigt Optimierungswahn

14. Dezember 2014 in Österreich


Wiener Philosoph in "Standard"-Interview zu Perfektionismusansprüchen z.B. bei Fortpflanzung und Kindererziehung: Wir verlernen, "mit Defiziten, Unterschieden, Enttäuschungen, Versagungen umzugehen". Er warnt vor Paradigmenwechsel.


Wien (kath.net/KAP) Die zunehmenden Ansprüche auf Optimierung und Perfektionierung, die sich z.B. bei der Fortpflanzung und der Kindererziehung zeigen, hat der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann kritisiert. In der Medizin sei gerade ein Paradigmenwandel beobachtbar vom Bestreben, Kranke zu heilen hin zur Haltung: "Der Mensch ist defizitär, und ich muss ihn verbessern." Dies sei "qualitativ ein anderer Ansatz", so Liessmann im Interview mit der Tageszeitung "Der Standard" vor einigen Tagen. Kritisch äußerte er sich im diesem Zusammenhang über die auch kirchlicherseits abgelehnte Präimplantationsdiagnostik (PID). Sie ermögliche, "suboptimale" Embryonen auszusortieren. "Es soll ja das Optimale sein. Gemessen an dieser Erwartung wird das, was wirklich herauskommt, immer defizitär sein", so Liessmann.

Durch die heute oft gestellte Frage nach optimalen Reproduktionsbedingungen entstünden neue Erwartungshaltungen und auch Verantwortlichkeiten. Der Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Uni Wien hält es für denkbar, "dass es einmal Vorhaltungen der Art geben könnte: Ich habe alles für dich getan, Samen- und/oder Eizellen gezielt ausgesucht, genetisch gescreent, von einer vitalen Leihmutter austragen lassen und jetzt machst du mir trotzdem Ärger".

Es gehöre zu den Grundeinsichten der Moderne, dass es keine "vorgegebene Natur des Menschen" gebe. Der Mensch begreife sich spätestens seit der Renaissance als Wesen, das sich selbst entwerfen kann, erklärte Liessmann. In letzter Zeit trete zu der Vorstellung eines unfertigen Wesens, das sich entfalten, entwickeln und seine Talente pflegen soll, zunehmend jene eines "defizitären Wesens, das auf allen Ebenen verbesserungsbedürftig ist". Es genüge dann nicht mehr, ein Kind mit allen Stärken und Schwächen zu sein, die Kinder nun mal haben, sagte Liessmann. "Eigentlich sollten schon Samen- und Eizellen optimale genetische Eigenschaften aufweisen, Eltern müssen sich dann immer richtig verhalten, die sozialen Umgebungen und die Lehrer müssen perfekt sein."

Das führt nach den Worten des Philosophen auch zu folgendem Umdenken im Bildungsbereich: Hinter dem beteuerten Wunsch, dass Kinder aus allen sozialen Schichten gemeinsam erzogen und unterrichtet werden sollen, stehe heute das Argument, "dass dies das Beste vor allem für das eigene, natürlich begabte Kind wäre". Liessmann: "Da kommen kaum mehr soziale oder, sagen wir es biblisch, Barmherzigkeitsargumente: Auch Kinder aus armen Schichten sollen in eine schöne Schule gehen." Heute heiße es vielmehr: "Es ist für mein Kind besser, wenn es auch Kinder aus anderen Schichten kennenlernt, das verstärkt seine sozialen Kompetenzen und optimiert seine Wettbewerbschancen." Dass trotz dieses rhetorischen Bekenntnisses viele Eltern, die es sich leisten könnten, ihre Kinder lieber in soziale homogene Privatschulen geben, "ist eine feine Ironie", fügte Liessmann hinzu.

Defizitäres integrieren - oder eliminieren?

Die sozialen Spannungen werden sich durch diese hohen Perfektionsansprüche verstärken, mutmaßt Liessmann. Durch das vermeintliche Recht auf Optimierung werde verlernt, "mit Defiziten, Unterschieden, Enttäuschungen, Versagungen umzugehen".

Gleichzeitig werde paradoxerweise die inklusive Gesellschaft gefordert, "die alles, was anders und nicht optimal ist, freudig integrieren soll". Dieser Widerspruch treibe Menschen - so Liessmann - "in den Wahnsinn oder permanenten Selbstbetrug". Man könne "nicht auf der einen Seite sagen, nur das Beste zählt, und was nur ein bisschen abweicht von diesen Ansprüchen, wird ausgeschieden, und gleichzeitig fordern, dass jeder sein Herz ganz weit öffne für alle, die diesen optimierten Konzepten nicht entsprechen".

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