Pastoraltheologe: Vielen Ehen fehlt der notwendige kulturelle Kontext

9. Juni 2015 in Interview


„Die Zahl der ungültigen Ehen könnte deutlich höher sein als angenommen“, sagt Prof. Andreas Wollbold mit Blick auf die Diskussion um wiederverheiratete Geschiedene vor der römischen Bischofssynode. kath.net-Interview von Rudolf Gehrig


München (kath.net/rg) „Unsere Kultur hat in den letzten Jahrzehnten beinahe an allen Schrauben gedreht, die zu einer christlichen Ehe gehören: Ausrichtung auf Kinder, Opferbereitschaft, unbedingte Treue, Gebet usw. Das kann nicht ohne Folgen bleiben.“ Darauf weist Prof. Andreas Wollbold (Foto), Pastoraltheologe der Ludwig-Maximilians-Universität München, im kath.net-Interview hin. Über den Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen wird in der katholischen Kirche vor der Bischofssynode im kommenden Oktober stark diskutiert. Der Münchner Pastoraltheologe gibt zu bedenken: Möglicherweise „haben viele Brautleute ihr Vermählungswort zwar hundertprozentig ernst genommen. Nur dass sie es so verstanden haben, wie ihr soziokulturelles Umfeld es eben versteht: als den begründeten Versuch, miteinander das Glück zu finden. Und wenn der Versuch eines Tages negativ ausgeht, ist für sie die ‚zweite Chance‘ bei einem anderen Partner eingeschlossen. Damit ist aber die Unbedingtheit der Treue ausgeschlossen und damit ein Wesensmerkmal der Ehe.“

kath.net: Papst Franziskus hat zu Beginn des Jahres gesagt, seiner Meinung nach seien viele katholische Ehen tatsächlich ungültig. Was meint der Heilige Vater damit?

Wollbold: In seiner Ansprache an die Römische Rota vom 23.1.2015 hat er eine Beobachtung aufgegriffen, die viele Gläubige und Seelsorger machen: Der kulturelle Kontext der Eheschließung hat sich radikal geändert. Was Mann und Frau heute mit ihrem Jawort verbinden, hat sich oft weit von dem entfernt, was für eine sakramentale Ehe wesentlich ist.

Darum könnte die Zahl der ungültigen Ehen deutlich höher sein als angenommen. Nicht nur ausnahmsweise kommt es zu einem willensbestimmenden Irrtum über die Ehe (can. 1099), und das ist ein Nichtigkeitsgrund.

In der Tat hat unsere Kultur in den letzten Jahrzehnten beinahe an allen Schrauben gedreht, die zu einer christlichen Ehe gehören: Ausrichtung auf Kinder, Opferbereitschaft, unbedingte Treue, Gebet usw. Das kann nicht ohne Folgen bleiben.

kath.net: Welche Gründe können zu einer Eheannullierung führen?

Wollbold: Alle Gründe, durch die festgestellt wird, dass eine wirkliche sakramentale Ehe nie bestanden hat. Zumeist zeigt sich aber, dass beim Konsens, d.h. dem Jawort, eine wesentliche Eigenschaft der Ehe ausgeschlossen wurde, z.B. die Bereitschaft zu Kindern oder die Treue.

kath.net: Ist die Eheannullierung nicht eigentlich nur ein theologischer Trick, um durch die Hintertür doch die Ehescheidung zu erlauben?

Wollbold: Alles andere als das! Die Nichtigkeitserklärung stellt fest, dass eine Ehe im Vollsinn nicht bestanden hat. Darum sind die Partner auch nicht an ein Eheband gebunden und sind frei zu heiraten. Das hat mit Scheidung nichts zu tun.

kath.net: In Ihrem neuen Buch „Pastoral mit wiederverheirateten Geschiedenen. Gordischer Knoten oder ungeahnte Möglichkeiten?“ bringen Sie die Möglichkeit einer Ehenichtigkeit aus soziokulturellen Gründen ins Spiel. Was bedeutet das?

Wollbold: Bisher hat man beim einzelnen nachgefragt: Haben Braut und Bräutigam wirklich in vollem Ernst die Eigenschaften der Ehe bejaht? Dadurch sind die Eheverfahren ein bisschen in Verruf gekommen. Denn auch unter kirchenverbundenen Gläubigen entstand der Eindruck, ein Eheverfahren bedeute das Eingeständnis, es beim Jawort irgendwie nicht ganz ernst gemeint zu haben.

Wenn aber die Beobachtung von Papst Franziskus stimmt – und ich bejahe dies nachdrücklich -, dann haben viele Brautleute ihr Vermählungswort zwar hundertprozentig ernst genommen. Nur dass sie es so verstanden haben, wie ihr soziokulturelles Umfeld es eben versteht: als den begründeten Versuch, miteinander das Glück zu finden. Und wenn der Versuch eines Tages negativ ausgeht, ist für sie die „zweite Chance“ bei einem anderen Partner eingeschlossen. Damit ist aber die Unbedingtheit der Treue ausgeschlossen und damit ein Wesensmerkmal der Ehe.

kath.net: Könnte dieser Vorschlag die Lösung in der Debatte um den Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen sein?

Wollbold: Unbedingt. Mit ihm wird kein Jota von der kirchliche Lehre und Ordnung weggenommen. Gleichzeitig hätte die Kirche für die gewandelte Realität von Trennung und Scheidung heute ein hilfreiches Instrument in der Hand.

Die Kirche kann keine Kompromisse mit der Unauflöslichkeit machen, aber sie kann nachfragen: Welche Ehen waren wirklich und bindend vor Gott sakramentale Ehen?

kath.net: Einige Presseberichte sprechen auch davon, Ehen könnten „aus Glaubensmangel“ ungültig sein. Hängt die Gültigkeit einer Ehe davon ab, ob die Ehepartner die Dreifaltigkeit richtig erklären können?

Wollbold: Die sakramentale Ehe hängt an sich nicht davon ab, ob Mann und Frau tief gläubig sind oder nur „Taufscheinchristen“. Entscheidend ist nur, dass sie die Ehe im Vollsinn eingehen wollen.

Doch hier tut sich heute ein Problem auf: Wer nicht um das Geheimnis des Kreuzes weiß, wird seine Ehe spätestens in einer Krise so auffassen wie etwa die Berufswahl oder eine andere große Entscheidung: als Abwägen von Gewinn und Verlust.

kath.net: Wenn der Wandel im öffentlichen Bewusstsein Einfluss auf die Gültigkeit der Ehe hat, sind dann nicht in letzter Konsequenz alle Ehen der letzten Jahrzehnte in Westeuropa und den USA ungültig?

Wollbold: Zunächst gilt kirchenrechtlich: Jede geschlossene Ehe hat die sogenannte Rechtsvermutung ihrer Gültigkeit. Einfacher gesagt: Sie steht nicht automatisch unter Verdacht, gar nicht gültig zu sein.

Erst wenn ernsthafte Gründe dies nahelegen, kann man es vor einem Ehegericht prüfen lassen. Es wird die Nichtigkeit aber nur feststellen, wenn sie nachweisbar feststeht.

Wenn allerdings soziokulturelle Gründe dafür anerkannt würden, könnte tatsächlich in nicht wenigen Fällen eine solche Prüfung in Frage kommen, wo es bisher aussichtslos war.

kath.net: Für die meisten protestantischen kirchlichen Gemeinschaften ist die Ehe kein Sakrament. Ist die Ehe zweier evangelischer Christen trotzdem gültig?

Wollbold: Selbstverständlich, jede Ehe unter Getauften ist ein Sakrament, auch wenn sie dies nicht ausdrücklich bekennen. Denn die Ehe ist Sakrament kraft der Taufe.

In der Taufe ist alles, was wir tun, auf Christus hingeordnet, und so wird der Bund zwischen Mann und Frau zum heiligen Zeichen für den Bund Christi mit der Kirche.

kath.net: Wie sieht es bei konfessionsverschiedenen Ehen aus?

Wollbold: Zweifellos steht eine solche Ehe vor besonderen Herausforderungen, etwa bei der Gestaltung des Sonntags oder bei der Taufe der Kinder.

Dabei kann das Bewusstsein eine große Hilfe sein, sakramental miteinander verbunden zu sein und bei allen Schwierigkeiten aus der Gnade Christi schöpfen zu können.

kath.net-Buchtipp
Pastoral mit wiederverheirateten Geschiedenen
Gordischer Knoten oder ungeahnte Möglichkeiten?
Von Andreas Wollbold
Taschenbuch, 272 Seiten
2015 Pustet, Regensburg
ISBN 978-3-7917-2661-8
Preis 22.70 EUR

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Foto Prof. Wollbold


Video: Interview mit Prof. Andreas Wollbold, Pastoraltheologe der Ludwig-Maximilians-Universität München, über die ZdK-Forderung Segnung homosexueller Paare


Foto Prof. Wollbold (c) Andreas Wollbold


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