Warum Sex heilig ist

11. Juni 2015 in Kommentar


Es ist ja wirklich nervig. Ständig sind es die Christen, die irgendein Problem mit dem Sex haben. Homosexualität, Sex ohne Ehe, Seitensprung, Abtreibung, Porno, Prostitution. Total leibfeindlich. Oder? Gastkommentar von Dr. theol. Johannes Hartl


Augsburg (kath.net) „Sex ist doch schließlich nichts Schmutziges oder Verbotenes“. Es war mit dem Selbstverständnis der Befreiung aus Unterdrückung, dass die sexuelle Revolution in den 60er Jahren verkündete, die Zeit der spießbürgerlichen Befangenheit sei vorbei. Stattdessen: das blühende Leben einer selbstbestimmten und selbstbewussten Jugend, die sich nicht mehr für ihre sexuellen Wünsche schämt.

Und natürlich war schon klar, aus welcher Ecke die Bedenken kommen und wer moralische Zeigefinger erheben würde: die Ewig-Gestrigen von der Kirche. Die haben irgendwie Angst vor Sex. Wahrscheinlich sind sie so verklemmt, weil sie entweder von bigotten Nonnen erzogen wurden oder als zölibatär Lebende ein Leben lang ihre doktrinär verordnete Triebunterdrückung durch zwanghaftes Sich-Empören nach Außen kompensieren müssen.

Es ist ja wirklich nervig. Ständig sind es die Christen, die irgendein Problem mit dem Sex haben. Homosexualität, Sex ohne Ehe, Seitensprung, Abtreibung, Pornographie, Prostitution: überall schreien sie Zeter und Mordio. Der Papst ist sogar gegen die Kondome. Total leibfeindlich. Und das alles, weil sie nicht erkennen, dass Sex normal ist und nichts Böses, oder?

Szenenwechsel. „Sex ist einfach etwas, was mein Körper braucht“, sagt mir ein junger Mann. Tiere leben auch ihre Triebe aus. „Es ist doch nur Sex“, sagt mir eine junge Frau, die gerade eine Affäre mit einem verheirateten Mann begonnen hat, und „die ersten zehn Male zählen sowieso nicht“. Es ist also „nur Sex“. Die sexuelle Befreiung brachte eine größere Verfügbarkeit von Sex mit sich. Es ist leichter, Sex zu haben, wenn, wie und sooft man das will, als früher. Und bedeutend einfacher, dabei zuzusehen. Damit einher geht eine gewisse Normalisierung. „Sex ist wie Schlittschuhlaufen: irgendwann wird’s langweilig“ sagt das 15-jährige Partygirl zu einem meiner Freunde. Es ist also „nur Sex“. Die amerikanische Umgangssprache geht sogar noch weiter: „I don't give a fuck“ bedeutet „es ist mir absolut gleichgültig“, „es ist mir garnichts wert“. Sex zu haben: das normalste von der Welt. Und das Banalste von der Welt. Oder?

Warum also können die Christen sich nicht abregen? Die einen tun’s im Sitzen, die anderen im Liegen, manche mit Männern und manche mit Frauen und manche nochmal ganz anders. Sollen sie doch, haben wir keine anderen Probleme?!

Christen reden über Sex so wie sie darüber reden, weil sie zunächst einmal glauben, dass der Mensch kein Tier ist. Und dass deshalb alle Hinweise darüber, was es bei den Tieren sonst noch so gibt, genauso wenig schlagen wie der Hinweis, dass es bei den Hechten und Spinnen ja auch Kannibalismus gibt. Aber eben auch einiges nicht, was den Menschen ausmacht: Kunst, Moral und Schriftsprache.

Der Mensch ist eben nicht nur ein biologisches Wesen, sondern eines, das nach Sinn sucht, ein geistliches, spirituelles. Und Christen reden über Sex so wie sie das tun, weil sie glauben, dass Sex von spiritueller Bedeutung ist. Ja, Sie haben ganz recht gelesen. Nicht nur die Liebe, das Herz und wie man es eigentlich meint: der Leib hat im jüdischen und christlichen Verständnis eine herausragende geistliche Bedeutung. Nirgends kommt das klarer zum Ausdruck als in einem Paulusbrief, in dem Paulus den Körper des Menschen als Tempel des Heiligen Geistes bezeichnet (1 Kor 6). Paulus lebte zur Zeit des griechischen Platonismus, der im Leib und der materiellen Welt etwas tendenziell Böses, jedenfalls absolut nicht Entscheidendes vermutete. Der Körper als Grab der Seele, des eigentlichen Menschen: das ist beste griechische Philosophie.

Paulus kontert in gut jüdischer Tradition: das, was du mit deinem Körper tust, hat entscheidende Auswirkungen auf deinen Geist. Und ganz präzise: man kann nicht den Heiligen Geist im Tempel seines Leibes haben und mit dem gleichen Leib mit einer Prostituierten schlafen. Ja genau, so konkret schreibt Paulus das. Die Sache mit dem Tempel weckt interessante Assoziationen. Für den Juden ist der Tempel das Heilige schlechthin. Die Gewänder der Priester, der Altar, die Räume: all das ist heilig. Aber was bedeutet dieses „heilig“? Es heißt konkret, dass man dies oder jenes nicht anfassen oder verschmutzen darf, weil es an etwas rührt, was von größter, ja allergrößter Wichtigkeit ist. Weil es an etwas rührt, was in die Sphäre des Göttlichen gehört. Etwas, das es zu schützen gilt.

Warum sehen Christen bei so vielen Dingen Fragezeichen und Stoppschilder, die doch für die meisten Menschen unserer Kultur ganz normal geworden sind? Vielleicht, weil sie Sex für etwas Böses und Sündiges halten und noch nicht sexuell befreit genug sind? Ich denke nicht. Während Sex in unserer Kultur leicht verfügbar, alltäglich und billig geworden ist, ist das für Juden und Christen ganz anders. Sex gehört in den Bereich, der etwas von allergrößter Wichtigkeit berührt, ja der die Sphäre des Göttlichen berührt. Sex ist, wenn man so will, heilig. Wie kommt man zu dieser steilen Aussage?

Die tiefste Sehnsucht im Herzen des Menschen ist die Sehnsucht danach, geliebt zu werden und zu lieben. Diese Liebe möchte man auch körperlich ausdrücken. Ein besonderer Fall der menschlichen Liebe ist die erotische zwischen Mann und Frau. Die Sehnsucht nach einem Menschen, der so anders ist als man selbst, und dessen man als Ergänzung bedarf. Es gibt keine vollkommenere Hingabe an einen Menschen als das freiwillige und ausschließliche „Ja und für immer“. Für dieses totale Ja gibt es das Wort „Ehe“, der lebenslange Bund zwischen einem Mann und einer Frau. Nur dort, wo ein Mensch sich wirklich ganz und total schenkt, macht es auch Sinn und hat es auch Wahrheit, sich leiblich ganz zu schenken: in der erotischen Vereinigung von Mann und Frau. Und nun das vielleicht unbegreiflichste Geheimnis: aus der Liebe zwischen Mann und Frau entsteht neues Leben. Unfassbar. Menschliche Liebe nimmt Teil an etwas, was sie selbst nicht „machen“ und nicht einmal erklären kann: der Schöpfung eines neuen Menschen. Die Liebe, die sich vollkommen schenkt, wird auf wunderbare Weise fruchtbar für ein neues Leben.

Menschliche Sexualität: unendlich mehr als nur Ausdruck von Zuneigung oder „Spaߓ. Der Zeugungsakt ist zugleich der Anfang eines neuen Lebens.

Und hier wird relativ schnell klar, wie verstörend die Aussagen sind, es sei doch „nur Sex“. Oder Sex sei nur etwas Körperliches. Oder - wie mir jüngst jemand bei einer Diskussion im Internet schrieb - nur die „Zeugungsfähigkeit“ zeichne die besondere Situation einer Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau aus, alles andere sei gleich. Ich zuckte zusammen. „Zeugungsfähigkeit“. Welch schrecklicher, technischer Begriff für das alle Vorstellung sprengende Geschenk, Vater und Mutter eines Menschen zu werden. Eines Menschen, dessen Leben und Schicksal für immer mit dem meinen verbunden bleiben wird. Ein Mensch, dessen Vater ich bin und dessen Mutter die Frau ist, mit der ich geschlafen habe.

Sex sei doch etwas rein Körperliches und etwas, was niemand anders anginge an die zwei beteiligten Erwachsenen? Wirklich?

Es gibt keinen Akt, in dem ein Mensch sich einem anderen Menschen auf so tiefe Weise öffnet und hingibt wie in der Vereinigung zwischen Mann und Frau. Und bitte nein, es ist nicht nur entscheidend, was im Herzen passiert. Es ist eben auch entscheidend, was mit dem Körper passiert, denn Geist und Leib gehören aufs Tiefste zusammen. Wenn es anders wäre, wäre es ja garnicht so schlimm, vergewaltigt zu werden, denn das passierte ja „nur mit dem Körper". Es ist absolut entscheidend, was sexuell mit dem Körper geschieht! Und diese Aussage ist das exakte Gegenteil von Leibfeindlichkeit: sie erhebt den Leib des Menschen zu seiner eigentlichen Höhe und Würde.

Denn schließlich… Woran leiden Menschen ein Leben lang? An den Wunden der Kindheit. Welches Thema füllt praktisch alle Sitzungen bei allen Therapeuten? Vater und Mutter. Wer mein Vater und wer meine Mutter ist, wie die zu mir waren, was ich von ihnen mitbekommen oder schmerzlich leider eben nicht mitbekommen habe: das sind Lebensthemen. Keine Phase des menschlichen Lebens ist so sensibel, so verletzlich und so prägend wie die ersten Lebensjahre. Zwar lernen wir Lesen und Schreiben erst später. Doch in den ersten Lebensmonaten lernt das Baby etwas unendlich Wichtigeres. Es lernt: eine Heimat haben. Nicht erst, eine finden zu müssen. Denn die Liebe von Vater und Mutter und der Leib der Mutter selbst ist ganz buchstäblich der Ort, wo das Kind entstand und heranwachsen darf. Und es lernt: Empathie. An Hand der Reaktion der primären Bindungsperson lernt das Kind, Gefühle anderer wahrzunehmen und darauf einzugehen. Es lernt, Bindungen einzugehen. Man könnte auch sagen: der Mensch lernt in dieser Phase das Lieben. Und was braucht das Kind in dieser Phase? In erster Linie Präsenz. Also: dass die primäre Bindungsperson einfach da ist, reagiert, verfügbar ist, Wärme zeigt. Und wer ist die primäre Bindungsperson? Es ist die Mutter, zu der das Kind niemals erst eine Bindung aufbauen muss, weil es sie schon gibt, wenn es den ersten Atemzug nimmt. Die Mutter ist der Ort, in dem das Kind gezeugt wurde und in dem das Kind zu leben begann. Man wird mit dem Staunen nicht fertig.

Und an der Seite der Mutter: der Mann, den die Mutter liebt, der sie schon damals geliebt hat und der auch an ihrer Seite bleibt. Der Mann, der zugleich der Papa ist. Es gibt kein stabileres Lebensfundament als das einer intakten Familie. Und wie groß ist die geheime Sehnsucht nach und der Schmerz um eine solche Herzens-Heimat bei vielen, die nach außen fortschrittlich und aufgeklärt für die moderne Lebensrealität werben, in der es eben „ganz vielfältige Modelle von Familien“ gäbe. Ja, die gibt es schon. Es sind Modelle, in denen Kinder sich an das wiederholte Zerbrechen von Vertrauen und das Wechseln von Bezugspersonen gewöhnen müssen in einem Alter, wo ein Kind einfach Sicherheit und stabile Liebe bräuchte.

Weshalb Sex heilig ist? Weil das menschliche Leben ein Geschenk ist und eine Würde besitzt. Und weil das Leben jedes Menschen damit begann, dass ein Mann und eine Frau sich einander schenkten.

Unvorstellbar, was einer Gesellschaft auf die Dauer verloren geht, wenn Sex „nur noch Sex“ ist.

Dr. Johannes Hartl (Foto) ist katholischer Theologe und leitet das Gebetshaus Augsburg.

kath.net-Buchtipp
Die Kunst, eine Frau zu lieben.
Das große Geheimnis verstehen
Von Johannes Hartl
Hardcover, 120 Seiten
2014 Cap-music Musikverlag
ISBN 978-3-86773-198-0
Preis 12.40 EUR

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Johannes Hartl - Am sechsten Tag schuf Gott den Sex Teil 1



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