25. September 2015 in Deutschland
Bischof Overbeck bei Deutscher Bischofskonferenz im Blick auf aktuelle Fragen und Krisen: Unser stärkstes Fundament ist eben: Gott ist und bleibt uns nahe durch Jesus Christus in der Gemeinschaft unserer Kirche.
Fulda (kath.net/DBK) kath.net dokumentiert die Predigt von Bischof Dr. Franz-Josef Overbeck (Essen) in der Schlussandacht am 24. September 2015 in Fulda zur Herbst-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz
Dtn 4,12.68
Liebe Mitbrüder im Bischofsamt,
liebe Mitbrüder im geistlichen Dienst,
liebe Schwestern und Brüder,
verehrte Gäste,
liebe Gemeinde!
1. Die Menschen, die die deutschen Soldaten aus dem Mittelmeer gezogen haben, besitzen nichts außer dem, was sie am Leib tragen. Manche haben zwei T-Shirts und zwei Hosen übereinander gezogen oder einen Anorak mit Mütze, mitten im Sommer. Andere tragen nicht einmal Schuhe, sie sind barfuß unterwegs. Sie setzen alles auf eine Karte: Tod oder Leben. So beschreibt die Lage einer unserer Militärseelsorger, der Soldaten an Bord der Deutschen Marine begleitet, die im Mittelmeer vor der Küste Libyens kreuzt, um Flüchtlinge aus Seenot zu retten.
Das aktuelle Massenphänomen flüchtender Menschen hat weitreichende nationale und internationale, gesellschaftspolitische und kulturelle, religiöse und andere bisher ungeahnte Dimensionen. Es scheint, als würden sich die Völkerwanderungen des frühen Mittelalters in unserer Zeit in neuer Form fortsetzen. Die vielen ertrunkenen Flüchtlinge offenbaren nicht nur unvorstellbare Nöte von Menschen, sondern zugleich auch das Scheitern politischer Systeme und einer bestimmten Flüchtlingspolitik; was sich im Mittelmeer zeigt, setzt sich auf verschiedene Weise an Land fort. Die Flüchtlinge, die in den letzten Wochen und Monaten in ungemein hoher Zahl zu uns nach Deutschland gekommen sind und weiterhin kommen, stehen für ein Phänomen, das uns heute und in Zukunft in vielfacher Hinsicht weiter beschäftigen wird. Die Globalisierung und die Zunahme an Gewalt, oftmals auch religiösen und ethnisch-nationalen Ursprungs, wie auch die Sehnsucht der Menschen nach mehr Wohlstand, stellen uns alle vor neue Fragen. Unsere Welt mischt sich neu. Wir leben mitten darin. Niemand kann sich entschuldigen oder wegsehen. Was sich seit Jahren angekündigt hat, wird nun mit einer bisher unvorstellbaren Dynamik erfahrbar, die nicht mehr beherrschbar ist. Zorn oder allgemeine Betroffenheit helfen nicht. Unsere Identität steht auf dem Prüfstand, und unsere Solidarität ist gefragt.
2. Wir machen Grenzerfahrungen. Sie sind mit Schwäche verbunden, mit Ohnmacht und Hilflosigkeit. Grenzerfahrungen bedeuten aber auch Provokation und Unruhe, setzen Gewohntes außer Kraft und öffnen neue Felder, zwingen zu Wegen, die noch nie begangen worden sind, machen neue Orientierung notwendig. Die Phänomene der letzten Tage und Wochen zeigen deutlich: Wir kommen an eine Grenze.
Was sich hier offenbart, hat auch zu tun mit den Phänomenen von Globalisierung und Digitalisierung. Die Grenzen bisheriger Welten brechen auf, Informationsfluten ungeahnten Ausmaßes weiten die Horizonte, überfordern aber auch. Hinter dem Negativen und Gefährlichen dieser Entwicklung steckt jedoch auch das Positive, nämlich Entdeckerfreude, Mut zum Wagnis und Suche nach Neuem. Die Grenzerfahrungen von heute, im Inneren des Menschen wie im Äußeren, sind Ausdruck von Wachstums-Phänomenen. Denn Grenzen können Wachstum provozieren. Darin zeigt sich auch die tiefe religiöse Wahrheit des christlichen Glaubens: Jedes Ende birgt einen neuen Anfang in sich; aus dem Verlust des Alten entsteht der Gewinn des Neuen; aus dem Tod erwächst Leben!
3. Wir deutschen Bischöfe gedenken heute gemeinsam mit Ihnen der Beendigung des Zweiten Vatikanischen Konzils vor fünfzig Jahren. Der Festakt am heutigen Nachmittag wie auch das gemeinsame Gebet in dieser Stunde am Grab des hl. Bonifatius sind nicht einfach nur eine Erinnerungsstunde an ein Ereignis, das damals viele Menschen in Euphorie versetzte, weil sich Fenster öffneten und die Frische des Heiligen Geistes durch die Räume der Kirche zog. Wir bitten zugleich darum, im Heute glauben zu können, wie es der überdiözesane Gesprächsprozess unserer Bischofskonferenz in den Jahren 2011 bis 2015 formuliert hat.
Für die Zeitzeugen von damals war das II. Vaticanum eine ungemein inspirierende Erfahrung. Die Wirkungsgeschichte ist vieldeutig. Der Zukunftsoptimismus, der z. B. wesentliche Texte der Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils Gaudium et spes durchzieht, war bereits mit dem Ende der 1960er Jahre verflogen. Er ist heute bei vielen Menschen einer großen Skepsis gewichen, gerade auch in unserer Kirche. Es gab in den vergangenen fünfzig Jahren erstaunlich offene Gespräche und Auseinandersetzungen zu unterschiedlichen Themen, aber auch viel Verunsicherung, Widerspruch und Konflikte. Wir spüren auch hier Grenzen, die mit dem lebendigen Weiterschreiben unserer Tradition und dem Verständnis der Heiligen Schrift zu tun haben, aber auch mit einer ethischen Bewertung der unendlich gewachsenen Möglichkeiten des Menschen sowohl im Blick auf seine individuelle als auch auf seine gesellschaftliche und sozial-politische Lebenswelt. Die letzten fünfzig Jahre haben aufwühlende Entwicklungen mit sich gebracht. Da treten innerkirchliche Konflikte offen zutage; da nimmt der radikale Traditionsabbruch Ausmaße an, die unser kirchliches Leben immer weiter infrage stellen; da kommen viele Menschen an wirtschaftliche Grenzen, manche Bistümer ebenso, während sich andere eines wirtschaftlichen Wachstums erfreuen, was aber keinesfalls mit der Verheißung einer wachsenden Glaubenssubstanz zusammengeht. Gleichzeitig brechen in unserem Land und in der Welt ganz neue Fragen auf, die unsere innerkirchlichen Probleme geradezu harmlos erscheinen lassen, z. B. die ungeheuren Kriegserfahrungen und Gräueltaten im Mittleren Orient wie eben auch der große Strom an Flüchtlingen und Asylsuchenden.
4. Mich berührt all dies sehr, weil wir an Grenzen stoßen, die große Veränderungen und Entwicklungen mit sich bringen, unendliche Ängste auslösen, aber auch große Hoffnungen wecken. Im konkreten Alltag unserer Kirche erleben wir die Grenzen radikal, wenn wir auf die Menschen schauen, die noch aktiv bei uns wie wir zu sagen pflegen mitmachen. In unseren Gottesdiensten, in unseren Gruppen, Gemeinschaften und Gremien werden wir weniger. Wenn wir ehrlich sind, spüren wir auch, dass die alten Rituale nicht nur liturgisch, sondern auch in allen anderen Räumen wenig, oft keine Wirkung mehr zeigen. Viele unserer Riten, Traditionen und Sprachmuster sind heute nicht nur den allermeisten der jüngeren Generation fremd geworden. Sich das ehrlich einzugestehen und von daher diese Grenze als Chance auf Wachstum zu begreifen, führt in die Tiefe. Dies auszusprechen ist befreiend, denn es berührt und mobilisiert neue Kräfte schon allein durch die Fragen, die sich derzeit viele in unserer Kirche stellen und die in die Tiefe führen: Woran glauben wir eigentlich? Worauf setzen wir unser Leben, was ist wirklich wichtig und wesentlich? Was bleibt jenseits aller Veränderungen?
Die Auseinandersetzung mit diesen Fragen angesichts der gegenwärtigen Grenzerfahrungen stärkt und motiviert die vielen Christen, die an die Kraft des Evangeliums glauben und mitbauen wollen an einer Kirche, die auch morgen noch anziehend und ansprechend wirkt. Sie wollen die jetzt spürbaren Grenzen weiten, sogar überwinden, um nach vorne zu gehen, wie wir es an der Gestalt des Mose sehen, der mit seinem Volk auch an eine Grenze kam, nämlich an die Grenze zum Übergang in das verheißene Land der Zukunft. Das Volk war sicherlich ängstlich und unsicher, was wohl jenseits der Grenze geschehen würde. Mose aber gab den sinngemäß einfachen Rat: Behaltet euer Fundament im Blick, dann werdet ihr leben! Achtet auf das, was Gott euch sagt und mitgegeben hat! Seid euch der tiefen Weisheit bewusst, die ihr in euch tragt! Bewahrt die Nähe eures Gottes! Unser stärkstes Fundament ist eben: Gott ist und bleibt uns nahe durch Jesus Christus in der Gemeinschaft unserer Kirche. Er gibt die Kraft und leitet uns, auf das Lebenswissen und das Heute zu hören sowie auf neues Leben hin zu wachsen.
So gilt es auch, das Erbe des Zweiten Vatikanischen Konzils nicht einfach zu verwalten, sondern in eine neue Zeit zu überführen, in eine neue Sprache und damit auch in eine neue Form, ohne die dessen bin ich gewiss wir in unserer Kultur, die lokal wie gleichzeitig global zu verstehen ist, die Menschen nicht mehr erreichen werden. Das pilgernde Volk Gottes, von dem beim Konzil so viel die Rede war, darf nicht stehen bleiben, es muss in Bewegung sein. In seinen Begegnungen auf dem Weg durch die Zeit wird es immer neue Veränderungsimpulse erleben, die es aufnehmen muss, will es nicht sein Ziel aus den Augen verlieren, die Orientierung an dem Gelobten Land. Von Papst Franziskus ist hier viel zu lernen, nämlich von den Rändern, von der Peripherie, von den Grenzen her zu glauben, zu handeln, zu beten und zu denken. Normalerweise sind wir es gewohnt, Kontrolle auszuüben, die Wirklichkeit von ihrer Mitte her zu betrachten und von hierher alles zu bestimmen. Plötzlich aber leben wir in einer neuen Welt. Nicht mehr die Mitte, das Gewohnte und das Zentrum sind von Interesse; es sind die Ränder, die interessieren. Von den Grenzen, von der Peripherie her, bekommen wir als Kirche einen neuen Ort von Gott zugewiesen und sollen unseren Alltag wie ein gastfreundliches Haus der Begegnung gestalten. Nicht die Unglückspropheten unserer Zeit sollen uns Angst einflößen und lähmen, vielmehr treibt uns eine wirkliche Kompassion, eine Mitleidenschaft für die Menschen von heute. Wiederum sind es die Flüchtlinge und Asylsuchenden, die zu uns kommen, von denen wir lernen können. Viele von ihnen sind tief religiöse Menschen. Sie zeigen uns, was Exodus heißt, nämlich sich mit einer Hoffnung auf Erlösung aufzumachen, in Bewegung zu geraten, im Vertrauen auf Gott seinen Verheißungen zu folgen.
5. Das Zweite Vatikanische Konzil fortzuschreiben, ist deswegen eine Aufgabe, Kirche in der Welt von heute zu leben und zu sein; nicht neben der Welt oder gar über der Welt, sondern ganz klar und unmissverständlich in der Welt und für die Welt. Dort, wo die Menschen leben, soll die Kirche sein. Wenn wir angesichts des demografischen Wandels und der kirchlichen Schrumpfungserfahrungen der vergangenen Jahrzehnte so manches nicht aufrechterhalten können, so darf es genau nicht um den Rückzug aus der Welt und die ausschließlich kontemplative Konzentration auf den Innenbereich gehen. Vielmehr müssen wir auf die geistliche Kraft des Glaubens vertrauen, von dem auch das Zweite Vatikanische Konzil durchdrungen ist, um Orientierung und Erneuerung durch ein doppeltes Prinzip zu erfahren: durch das Prinzip der geistlichen Sammlung und durch das Prinzip der missionarischen Sendung. Beide Prinzipien sind so eng aufeinander verwiesen, dass die geistliche Sammlung ohne die missionarische Sendung nicht bestehen kann und umgekehrt. Diese innere Beziehung zwischen Sammlung und Sendung ist Ausdruck jener Kraft, die uns hilft, von den Grenzen, von der Peripherie her die Kirche zu erneuern und den Weg des Zweiten Vatikanischen Konzils weiterzugehen, eben zu bezeugen, dass Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, [ ] auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi [sind]. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände (Vat. II, GS 1). Das ist mehr als eine kirchliche Sympathieerklärung, das ist eine Freundschaftserklärung an alle Menschen, die uns Christen ermuntert, als Kirche mit Christus und in seiner Gesinnung den Weg durch diese Welt zu gehen. Diese Gesinnung besteht nicht in einer Weltflüchtigkeit, sondern bewährt sich in der Tugend der Welttüchtigkeit. Keineswegs geht es dabei um eine Verweltlichung der Kirche und ebenso nicht um eine Verkirchlichung der Welt es geht um ein missionarisches Christsein in der Welt von heute. Amen.
Archivfoto Bischof Overbeck (c) Bistum Essen
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