Kirche in einer Gesellschaft von religiös Schwerbehinderten

9. November 2015 in Kommentar


Die Katholische Kirche sollte sich weiter einer Gesellschaft widersetzen, die der in Alices Wunderland gleicht: In ihrem Land muss man so schnell laufen wie man kann, damit man wenigstens auf der Stelle bleibt. Gastkommentar von Helmut Müller


Vallendar (kath.net) „Das Haus, das die Träume verwaltet“, wurde mir vor einigen Jahren als Thema gestellt, um in einem ökumenischen Kreis die Katholische Kirche vorzustellen. Ich fand das Thema zu „trendig“ formuliert, aber ich nahm die Einladung an. Die Katholische Kirche will oder sollte gerade nicht "trendig" sein. Die altehrwürdige "Mutter Kirche" ist kein Zeitgeistsurfer und Trendsetter. Auf dem heiß umkämpften Markt für Sinnanbieter ist sie nicht bloß eine mehr von diesen Esoterikbuden, die Sinn abpacken in Fastfood-Portionen, auf die dann Leute reinfallen, die die "große Krise haben". Das Altehrwürdige ist kein Ladenhüter, erst auf den zweiten Blick erkennt man darin die rare Antiquität, die niemand sonst mehr anbietet in einer Gesellschaft, die der in Alices Wunderland gleicht: In ihrem Land muss man so schnell laufen wie man kann, damit man wenigstens auf der Stelle bleibt. Es versteht sich von selbst, dass die altehrwürdige Dame diese Idiotie nicht mitmacht, sondern gemächlich ihres Weges schreitet, während alles um sie herum rast und rennt und außer Atem gerät.

Von dem Gründungsrektor der Universität Erfurt Peter Glotz stammt das Wort von der notwendigen Entschleunigung der Zeit. Es gibt in unserer Gesellschaft keine Institution, die die Beschleunigung, in der wir leben auf ein uns bekömmliches Maß so bremsen könnte wie die ungeheure, fast zweitausendjährige Lebenserfahrung der alten Dame, von der jetzt die Rede sein soll.

Diese Gedanken kamen mir spontan, als ich gebeten wurde zum Thema "Das Haus, das die Träume verwaltet" zu referieren. Sicherlich wollten die Veranstalter damit keine tiefschürfende Aussage über die Seinsstruktur der Katholischen Kirche machen, vermutlich sollte mehr ein "Design" als ein "Sein" ausgedrückt werden. Wir leben ja schließlich nicht im luftleeren Raum, sondern zu großen Teilen trotz Hartz IV und Flüchtlingskrise in einer Erlebnisgesellschaft und in einer solchen geht es nicht mehr tiefschürfend philosophisch zu, sondern eher oberflächlich, affektiv, emotional und ästhetisch und deshalb eben mehr um das Design als um das Sein. Mir geht es mehr um das "Sein" der Kirche. Eine dreifache Gedankenbewegung möchte vorwärts und rückwärts vor allem aber aufwärts blicken.

1. Kirche religionsphilosophisch, anthropologisch
2. Kirche theologisch
3. Kirche zu Beginn des dritten Jahrtausends

Zu 1) Das katholon des Katholischen soll nicht nur bedeuten, dass nun das Volk Gottes national entschränkt verstanden wird, sondern auch Bedeutungen von Religion umfassen, die nicht schon in einem engen Sinne christlich domestifiziert oder aufklärerisch purgiert sind. D. h. dieses katholon umfasst alles, was der alten Dame im Laufe ihrer zweitausendjährigen Geschichte über den Weg gelaufen und für gut befunden worden ist. Das umfasst auch Magisches, Mystisches, Mythisches, Rituelles und Ekstatisches. Im Kern überliefert sie das Heilige oder das mysterium tremendum et fascinosum, eben das, was alle Religionen zutiefst ausmacht. Deshalb hatte ich damals das Thema eigenmächtig verändert und als wesentliche nicht bloß ästhetische Formulierung vorgeschlagen: Kirche, das Haus, das das Heilige verwaltet, die Hirtin und Wächterin des Heiligen. In der Schrift begegnet uns dieses Heilige etwa bei Elia am Horeb (1Kön 19,1-13a) und bei Mose im brennenden Dornbusch. Alles geniale Beschreibungen dessen, was die alte Dame stur gegen alle modischen Trends taufrisch durch die Zeiten zu tragen gedenkt.

• Sie muss durch das Säurebad der Aufklärung einer säkularisierten Religion und Theologie gehen, deren Theologen sich vermehrt als „Religionsintellektuelle“ (Friedrich Wilhelm Graf) verstehen.

• Sie muss einer trendigen Civilreligion, wie sie etwa immer mehr vom Zentralkomitee der deutschen Katholiken repräsentiert wird, die Stirn bieten.

• Sie muss sich widersetzen, wenn auf Synoden und innerkirchlichen Dialogveranstaltungen bisweilen das "Heilige" bis zur Unkenntlichkeit ausgemerzt und zurückgeschnitten wird, so dass Kirche nur noch als Sozialkonzern oder Ethosgemeinschaft mit katholischer Folklore übrigbleibt.

• Sie muss sich widersetzen, wenn versucht wird, sie von allem Anstößigen zu befreien, nur damit sie umso besser politisch korrekt in die bundesdeutsche Gesellschaft eingepasst werden kann.

Das Leid der Welt schreit nach der Nähe Gottes

Das katholon des Katholischen erfasst also auch noch die oben genannten archaisch anmutenden Elemente von Religion, die mancher vielleicht als im Animismus, Schamanismus oder Ritualismus überwunden sieht. Die Katholische Kirche gibt diesen Elementen Raum in ihrer Lehre von den Sakramentalien, den Sakramenten, in der Feier ihrer Liturgie, in kirchlichem Brauchtum und der Spiritualität ihrer Heiligen und Mystiker. Das Leid der Welt schreit förmlich nach der Nähe Gottes, wie sie in diesen archaischen Religionsformen ja geglaubt wird, zumal dann, wenn zugleich an die Allmacht und Güte Gottes erinnert werden soll. Der leidende Mensch erträgt nicht den Deus absconditus aufgeklärter Religion. Seine Ferne ist schier unerträglich angesichts des "Himalayagebirges an Not und Pein", die in dieser Welt möglich ist. Die Logik der Liebe stimmt nicht, wenn die Nähe Gottes in dieser Welt nicht erfahren werden kann, wie sie archaische Religionen glauben. Wenn nun alle Religionen der Welt ausnahmslos die Nähe des Göttlichen künden, dann muss die Phänomenologie dieser Nähe eine Resonanz haben gerade in der Religion, die unüberbietbar die Nähe Gottes zu lehren behauptet, nämlich, dass das Wort von der Nähe nicht nur Wort, Ritus oder Magie, sondern – für jeden aufgeklärten Menschen in skandalöser Weise – Fleisch geworden ist, dass im Haus Kirche nicht nur Träume verwaltet werden, sondern dass in diesem Haus unter allem Schaum, der mit Träumen einhergeht, der Urtraum von der Nähe Gottes im Leid der Welt schlechthin Wirklichkeit wird.

Zu 2) Wenn das so geklungen haben sollte, als ginge ich mit dem Staubsauger durch die Religionsgeschichte, oder man den Eindruck hat, dass die alte Dame naiv und in seniler Weise alles aufgesammelt hat, was ihr begegnet ist, so muss ich nun sagen, dass all das, was dann im Staubsaugerbeutel landet, natürlich theologisch und letztlich christologisch überformt wird. Eine Überformung, die eigentlich nicht neu ist, sondern die wir auch von Israel kennen, wenn es ägyptisches, kanaanäisches oder mesopotamisches Brauchtum in seine Heilsgeschichte mit Gott transformiert hineingenommen hat. Ich erinnere nur an das Gilgamesch-Epos, aus dem Israel die Sintflutgeschichte entnommen hat. Was da im Staubsaugerbeutel landet, passiert verschiedene Filter, die hl. Schrift beider Testamente, die apostolischen Väter, die Kirchenväter, die Kirchenlehrer und schließlich das kirchliche Lehramt. Letzteres entscheidet darüber, was an Heutigem in die Heilsgeschichte mit Gott einzugehen vermag.

Das Heil der Welt ist durch den Kreuzestod Christi erwirkt worden. Jede Magie, jeder Mythos, jedes Ritual, die oder das sich zu recht christlich nennen kann, erhält seinen Heilswert von diesem universal zu verstehenden Heilsereignis.

zu 3) Das Prinzip, wie die alte Dame durch die Zeiten schreitet ist hoffentlich klar geworden. Was nimmt sie heute als Kirche in der Welt, als pilgerndes Volk Gottes durch die Zeit an Lebenswirklichkeiten auf und gegen was wehrt sie sich als Kontrastgesellschaft (Gebrüder Lohfink) und Garantin von Lebensordnungen mit allen Kräften?

Schon Marie Luise Kaschnitz redete vor mehr als einem halben Jahrhundert von einer „furchtbaren Beschleunigung der Zeit“. Also mitrennen um nicht hoffnungslos als Modernisierungsverlierer zurückzubleiben? Davon sind vor allem evangelische Landeskirchen überzeugt. Das gelingt vorzüglich. Wer da mitrennt ist kaum noch vom gesellschaftlichen Umfeld zu unterscheiden. Die Agenda evangelischer Landeskirchen unterscheidet sich nur noch unwesentlich von rotgrünen Parteiprogrammen. Das Rezept hieße dann: Mitrennen um nicht aus der Zeit zu fallen. Kaum jemand nimmt wahr, dass das kein Erfolgsrezept ist.

Wenn Austrittszahlen aus der Katholischen Kirche veröffentlicht werden, wird angenommen, dass das die Strafe für ihre sture Unbeweglichkeit ist. Es herrscht die Meinung vor, dass die evangelischen Landeskirchen besser da stehen. Das Gegenteil ist der Fall: Wer mitrennt, verliert letztlich das Wissen um und die Offenheit für das Heilige. Der Mitgliederschwund evangelischer Landeskirchen war bis auf das Jahr 2010, auf dem Höhepunkt der Missbrauchsdebatte, immer wesentlich höher als der der Katholischen Kirche. Das scheint ein streng gehütetes Geheimnis zu sein. Vornehmlich katholische Austrittszahlen stoßen auf Interesse. Die „furchtbare Beschleunigung der Zeit“ nicht mitzumachen, erweist sich offenbar als das bessere Rezept.

Mitzurennen und das „Heilige“ zu verlieren wird auch für katholische Gläubige und ganze Bistumsverwaltungen (Gender) immer mehr zu einer großen Versuchung. In einer „Gesellschaft von religiös Schwerbehinderten“ zu leben, fordert ihren Tribut. Nicht mehr „das Heilige“ zu kennen oder dafür aufgeschlossen zu sein, ganz im Profanen aufzugehen, ist das Kennzeichen dieser Gesellschaft, die der in Alices Wunderland gleicht. Dabei zu bleiben und die Beschleunigung zu bremsen ist gerade für junge Menschen nicht einfach, deren Charisma ja Bewegung ist. D.h. also mit und in dieser „alten Dame“ das Heilige kennen lernen und es dann mitnehmen in eine neue Zeit. Gute Ansätze gibt es ja, Gott sei Dank.

kath.net-Lesetipp:
Unterirdische Ansichten eines Oberteufels über die Kirche in der Welt von heute
Von Helmut Müller
80 Seiten
2015 Dominus Verlag
ISBN 978-3-940879-38-7
Preis 5.10 EUR

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Foto: Labyrinth in einer Kirche



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