13. November 2015 in Kommentar
Eine sehr glatte, schiefe Ebene: Wer kann nach der Bundestagsentscheidung sicherstellen, dass in jedem Fall die Grenze zwischen Beihilfe zum Suizid und Sterben auf Verlangen nicht überschritten wird? kath.net-Kommentar von Prof. med. Paul Cullen
Berlin (kath.net/pl) Alea iacta sunt: Am 6.November 2015 hat der Deutsche Bundestag mit klarer Mehrheit bestimmt, dass zukünftig Beihilfe zur Selbsttötung von Angehörigen und Nahestehenden per Gesetz erlaubt sein soll, sofern diese nicht geschäftsmäßig, also auf Wiederholung angelegt ist. Der Text der neuen Regelung enthält einiges an Ungenauigkeiten, die nun durch die Gerichte zu klären sein werden. Wann übersteigt beispielsweise eine Serie von Einzelfällen die Grenze zur Geschäftsmäßigkeit? Ab dem wievielten Fall in welchem Zeitraum ist eine Wiederholungsabsicht anzunehmen? Einmal im Jahr? Zweimal im Monat? Auch der Begriff Angehöriger und erst recht der eines Teilnehmer[s], der dem Suizidenten nahesteht eröffnen ungeahnte Perspektiven. In der Begründung zum Gesetzestext wird Angehöriger mit Verweis auf § 11 Absatz 1 Nummer 1 des Strafgesetzbuches (StGB) erläutert. Hiernach trifft diese Bezeichnung unter anderem auf den ehemaligen Lebenspartner eines Geschwisters des Sterbewilligen zu. Auch eine enge Freundschaft zum Sterbewilligen reiche aus, um ihm im Sinne des Gesetzes nahe zu stehen, sofern dem Angehörigenverhältnis entsprechende Solidaritätsgefühle existieren. Dass die Solidarität unter Angehörigen manchmal zu wünschen übrig lässt, wissen wir allerdings mindestens seit Kain seinen Bruder Abel auf dem Acker erschlug.
Im Folgenden möchte ich mich ausschließlich mit der Bedeutung dieses Gesetzes für die Ärztinnen und Ärzte in Deutschland befassen. Wie wir sehen werden, kommt diesen eine ganz zentrale Rolle aus der Sicht des Gesetzgebers zu. Auf den ersten Blick hätte man anderer Meinung sein können, denn nirgendwo im Gesetzestext oder in der Begründung dazu war explizit von Ärzten die Rede. Dennoch war es im Vorfeld allen Beteiligten klar, dass auch diese als nahestehende Teilnehmer gelten sollen. Gelegentlich sickerte hier und dort etwas durch. So zum Beispiel bei dem SPD-Abgeordneten René Röspel, der als Sprecher des Brand-Entwurfs am 2. Juli 2015 im Bundestag sagte:Sie (die Ärzte, Anmerkung des Verfassers) müssen über das Ende von Leben entscheiden. Sie müssen loslassen und am Ende vielleicht sagen: Ja, jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, an dem ich Hilfe gebe, damit ein anderer sich selbst vielleicht umbringen kann. (Plenarprotokoll 18/115). Auch der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags ging davon aus, dass Ärzte dem Suizidwilligen im Sinne des Gesetzes nahestehen und sah darin kein Problem. Der Wissenschaftliche Dienst fragte lediglich, ob der Entwurf dem Bestimmtheitsgebot des Grundgesetzes genüge, da nicht klar sei, ob
sich Ärzte, die im Rahmen ihrer Berufstätigkeit Sterbehilfe leisten, strafbar machen weil davon auszugehen sei, dass viele Ärzte, etwa im Krankenhaus oder in der hausärztlichen Versorgung, sich wiederholt mit der Frage nach Suizidbeihilfe konfrontiert sehen mit der Folge, dass diese grundsätzlich als geschäftsmäßig eingestuft werden könnte.
Spätestens bei der Bundestagsdebatte am 6. November wurde aber dann die wahre Intention des Gesetzentwurfs restlos klar. Nicht weniger als ein Drittel der Redebeiträge von Michael Brand (CDU) und Kerstin Griese (SPD) war dem Thema der ärztlichen Suizidbeihilfe gewidmet. So sollte nach Brand die Suizidbeihilfe Ärzten erlaubt sein die in schweren Situationen nach ihrem Gewissen handeln, während Frau Griese betonte, dass der Fall, in dem ein Arzt in einem ethisch begründeten Einzelfall aufgrund einer Gewissensentscheidung dem Wunsch des Patienten nachkommt, ihm zu helfen, aus dem Leben zu scheiden, straffrei [bleibt]. Frau Griese ging sogar weiter und erklärte, dass ein Arzt nur dann geschäftsmäßige Suizidbeihilfe leiste, wenn diese im Mittelpunkt seiner Tätigkeit stehe. Diese wichtige Bemerkung verfehlte ihre Wirkung nicht. So berichtete der Deutschlandfunk am Abend 6. November, dass laut den Initiatoren des Brand/Griese-Entwurfs das Verbot der Suizidbeihilfe nur dann gelte, wenn jemand diese wissentlich und willentlich zum Mittelpunkt seiner Tätigkeit mache. Eine Beschreibung, die durch den Zusatz wissentlich und willentlich die Hürde zum etwaigen gerichtlichen Beweis der Geschäftsmäßigkeit nochmal erhöht.
Es kann also zweifelsfrei festgehalten werden, dass Ärzte durch dieses Gesetz gerade nicht, wie etwa eine gemeinsame Erklärung der katholischen und evangelischen Kirchen unmittelbar nach der Bundestagsabstimmung glauben machen will, vor der Erwartungshaltung
, im Rahmen der gesundheitlichen Versorgung, Suizidassistenz zu leisten geschützt werden. Vielmehr muss befürchtet werden, dass exakt das Gegenteil passiert, nämlich, dass durch das Gesetz der Druck auf Ärzte beziehungsweise auf ihre Kammer im Bund und in den Ländern steigt, genau dies zu tun beziehungsweise dies zu erlauben.
Viele sehen durch dieses Gesetz den Lebensschutz gestärkt. Bisher war nämlich die Beihilfe zum Suizid nicht verboten (obwohl fast keiner das wusste), und nun habe man ein solches Verbot eingeführt. Zwar sei dieses Verbot auf Wiederholungstäter beschränkt, aber immerhin.
Man muss aber sehr genau hinschauen, was hier gerade passiert. Es stimmt, dass der Suizid und somit die Suizidbeihilfe in der deutschen Rechtsordnung bisher nicht verboten waren, aber sie waren nicht erlaubt. Wie Gesundheitsminister Herrmann Gröhe (CDU) bemerkte, schweigt unsere Rechtsordnung zu dem persönlichen Drama eines Suizids. Nun ist aber das Schweigen gebrochen. Zum ersten Mal in der deutschen Rechtsgeschichte der Nachkriegszeit wird die Selbsttötung wie die Beihilfe dazu nun ausdrücklich gebilligt. Hier verschiebt sich eine tektonische Platte des Rechts, zwar nur um wenige Millimeter, aber mit gewaltiger Auswirkung. Wir haben nun den ersten Schritt auf eine sehr glatte, schiefe Ebene genommen. Denn wer kann sicherstellen, dass in jedem Fall die Grenze zwischen Beihilfe zum Suizid und Sterben auf Verlangen nicht überschritten wird?
Ein zentraler Aspekt des Arztseins ist das Vertrauensverhältnis zum Patienten. Dieses Verhältnis wird zutiefst erschüttert in einer Welt, wo der Arzt mit gesetzlicher Billigung an das Bett eines kranken, auch eines todkranken Menschen herantreten darf mit dem expliziten Ziel, dass dieser Mensch hinterher tot ist. Diese Handlung ist mit dem Arztsein nach der herkömmlichen durch das hippokratische Ethos festgelegten Tradition nicht vereinbar. Wozu eine Lockerung hinführt sehen wir ja, in der deutschen Vergangenheit und in der niederländischen Gegenwart. Aber gerade diese Konstellation wurde durch das neue Gesetz geschaffen.
Aus diesem Grund ist aus ärztlicher Sicht größte Wachsamkeit geboten und die Begrüßung der Abstimmung im Bundestag durch die Bundesärztekammer nur schwer verständlich. Vielmehr müssen wir nun darauf achten, dass das in der Musterberufsordnung der Bundesärztekammer ausgesprochene Verbot der ärztlichen Suizidbeihilfe seine Gültigkeit behält und zur Grundlage der Berufsordnungen der einzelnen Landesärztekammern wird.
Diese Gesetzesinitiative hat nämlich eine interessante und zutiefst beunruhigende Vorgeschichte. Vorläufer des Brand/Griese-Gesetzentwurfs war ein im Jahr 2014 vorgestellter Vorschlag des Schweizer Palliativmediziners Gian Domenico Borasio, der deutschen Medizinethiker Ralf Jox und Urban Wiesing sowie des deutschen Medizinrechtlers und stellvertretenden Vorsitzenden des deutschen Ethikrats Jochen Taupitz. Wie der Medizinhistoriker Axel Bauer von der Universität Mannheim erkannte, lag der strategische Schachzug dieses Vorschlags in einer Ergänzung des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG). Nach dem BtMG darf das für den assistierten Suizid gerne verwendete Pentobarbital nicht für Tötung oder Selbsttötung eines Menschen benutzt werden. Jox und Kollegen schlugen vor, im BtMG auch eine Nutzung nach § 217 StGB (Beihilfe zur Selbsttötung) zu erlauben. Damit, notierte Prof. Bauer würde der Tod auf Rezept Wirklichkeit, das Traumziel der Todeshelfer erreicht. Ärzte könnten ihren Patienten ganz legal jenes Gift verordnen, das man bislang nur in der Veterinärmedizin zum Einschläfern alter oder kranker Tiere verwendet. In dem Brand/Griese-Entwurf wird das Betäubungsmittelgesetzt nicht erwähnt. Aber auch hier ist in höchste Vorsicht geboten.
In einer Rede bei der Bundesärztekammer in Dezember 2014 sagte deren Präsident Frank Ulrich Montgomery in Bezug auf die Suizidbeihilfe: "Lassen Sie es doch den Klempner oder den Apotheker oder den Tierarzt machen, aber eben nicht den Arzt." Hierfür hat Montgomery viel Prügel einstecken müssen. Dabei hat er lediglich unserem Grundverständnis als Ärztinnen und Ärzte Ausdruck verliehen. Wie ich an anderer Stelle geschrieben habe, betrifft die Frage der Beihilfe zur Selbsttötung den Kern unserer Berufung. Wir Ärzte sind nicht bloße Medizintechniker, die spezialisierte Lösungen für gesundheitliche Probleme anbieten. Unsere Aufgabe als Ärzte ist es vielmehr, neben dem Heilungsauftrag das Leid unserer Patienten zu mindern und dem Leidenden Beistand, Zuwendung und Fürsorge zu bieten. Auf keinen Fall dürfen wir uns dafür hergeben, den Leidenden zu beseitigen, indem wir Beihilfe zum Suizid leisten. Mit dem neuen Gesetz sind wir Ärzte - trotz anderslautenden Behauptungen auf fast allen Kanälen - diesem Zustand leider einen entscheidenden Schritt näher gekommen.
Prof. Dr. Paul Cullen ist außerplanmäßiger Professor für Medizin an der Universität Münster und Vorsitzender
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