Papst: Erosion des katholischen Glaubens in Deutschland

20. November 2015 in Deutschland


Vom Lebensschutz bis zum „Sentire cum ecclesia“ der theologischen Hochschullehrer, vom Wert der Beichte bis zum Profil karitativer Einrichtungen nahm Papst Franziskus beim Ad-Limina-Besuch der deutschen Bischöfe ein breites Spektrum in den Blick.


Vatikan-Bonn (kath.net/DBK) kath.net dokumentiert die Ansprache von S. H. Papst Franziskus bei der aus Anlass des Ad-limina-Besuchs gewährten Audienz für die deutschen Bischöfe in Rom, 20. November 2015 gemäß Aussendung der Deutschen Bischofskonferenz in voller Länge:

Liebe Mitbrüder,
es ist mir eine Freude, Euch aus Anlass Eures Ad-limina-Besuchs hier im Vatikan begrüßen zu können. Die Wallfahrt an die Gräber der Apostel ist ein bedeutender Augenblick im Leben eines jeden Bischofs. Sie stellt eine Erneuerung des Bandes mit der universalen Kirche dar, die durch Raum und Zeit als das pilgernde Volk Gottes voranschreitet, indem sie das Glaubenserbe treu durch die Jahrhunderte und zu allen Völkern trägt. Herzlich danke ich dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz Kardinal Reinhard Marx für seine freundlichen Grußworte. Zugleich möchte ich Euch meinen Dank aussprechen, dass Ihr meinen Petrusdienst durch Euer Gebet und Euer Wirken in den Teilkirchen mittragt. Ich danke besonders auch für die große Unterstützung, die die Kirche in Deutschland durch ihre vielen Hilfsorganisationen für die Menschen in aller Welt leistet.

Wir leben augenblicklich in einer außergewöhnlichen Zeitstunde. Hunderttausende von Flüchtlingen sind nach Europa gekommen oder sind unterwegs auf der Suche nach Schutz vor Krieg und Verfolgung. Die christlichen Kirchen und viele einzelne Bürger Eures Landes leisten einen enormen Einsatz, um diese Menschen aufzunehmen und ihnen Beistand und menschliche Nähe zu geben. Im Geiste Christi wollen wir uns immer wieder den Herausforderungen durch die große Zahl der Hilfesuchenden stellen. Gleichzeitig unterstützen wir alle humanitären Initiativen, um die Lebenssituation in den Ursprungsländern wieder erträglicher zu machen.

Die katholischen Gemeinden in Deutschland unterscheiden sich deutlich zwischen Ost und West, aber auch zwischen Nord und Süd. Überall engagiert sich die Kirche professionell im sozial-caritativen Bereich und ist auch im Schulwesen überaus aktiv. Es ist darauf zu achten, dass in diesen Einrichtungen das katholische Profil gewahrt bleibt. So sind sie ein nicht zu unterschätzender positiver Faktor für den Aufbau einer zukunftsfähigen Gesellschaft. Auf der anderen Seite ist aber gerade in traditionell katholischen Gebieten ein sehr starker Rückgang des sonntäglichen Gottesdienstbesuchs und des sakramentalen Lebens zu verzeichnen. Wo in den Sechziger Jahren noch weiträumig fast jeder zweite Gläubige regelmäßig sonntags zu Heiligen Messe ging, sind es heute vielfach weniger als 10 Prozent. Die Sakramente werden immer weniger in Anspruch genommen. Die Beichte ist vielfach verschwunden. Immer weniger Katholiken lassen sich firmen oder gehen das Sakrament der Ehe ein. Die Zahl der Berufungen für den Dienst des Priesters und für das gottgeweihte Leben haben drastisch abgenommen. Angesichts dieser Tatsachen ist wirklich von einer Erosion des katholischen Glaubens in Deutschland zu sprechen.

Was können wir dagegen tun? Zunächst einmal gilt es, die lähmende Resignation zu überwinden. Sicherlich ist es nicht möglich, aus dem Strandgut „der guten alten Zeit“ etwas zu rekonstruieren, was gestern war. Wir können uns aber durchaus vom Leben der ersten Christen inspirieren lassen. Denken wir nur an Priska und Aquila, die treuen Mitarbeiter des heiligen Paulus. Als Ehepaar verkündeten sie mit überzeugenden Worten (vgl. Apg 18,26), vor allem aber mit ihrem Leben, dass die Wahrheit, die auf der Liebe Christi zu seiner Kirche gründet, wirklich glaubwürdig ist. Sie öffneten ihr Haus für die Verkündigung und schöpften aus dem Wort Gottes Kraft für ihre Mission. Das Beispiel dieser „Ehrenamtlichen“ mag uns zu denken geben angesichts einer Tendenz zu fortschreitender Institutionalisierung der Kirche. Es werden immer neue Strukturen geschaffen, für die eigentlich die Gläubigen fehlen. Es handelt sich um eine Art neuer Pelagianismus, der dazu führt, unser Vertrauen auf die Verwaltung zu setzen, auf den perfekten Apparat. Eine übertriebene Zentralisierung kompliziert aber das Leben der Kirche und ihre missionarische Dynamik, anstatt ihr zu helfen (vgl. Evangelii gaudium, 32). Die Kirche ist kein geschlossenes System, das ständig um die gleichen Fragen und Rätsel kreist. Die Kirche ist lebendig, sie stellt sich den Menschen vor Ort, sie kann in Unruhe versetzen und anregen. Sie hat ein Gesicht, das nicht starr ist. Sie ist ein Leib, der sich bewegt, wächst und Empfindungen hat. Und der gehört Jesus Christus.

Das Gebot der Stunde ist die pastorale Neuausrichtung, also „dafür zu sorgen, dass die Strukturen der Kirche alle missionarischer werden, dass die gewöhnliche Seelsorge in all ihren Bereichen expansiver und offener ist, dass sie die in der Seelsorge Tätigen in eine ständige Haltung des ‚Aufbruchs‘ versetzt und so die positive Antwort all derer begünstigt, denen Jesus seine Freundschaft anbietet“ (vgl. Evangelii gaudium, 27). Sicher, die Rahmenbedingungen sind dafür in der heutigen Gesellschaft nicht unbedingt günstig. Es herrscht eine gewisse Weltlichkeit vor. Die Weltlichkeit verformt die Seelen, sie erstickt das Bewusstsein für die Wirklichkeit.

Ein verweltlichter Mensch lebt in einer Welt, die er selbst geschaffen hat. Er umgibt sich gleichsam mit abgedunkelten Scheiben, um nicht nach außen zu sehen. Es ist schwer, solche Menschen zu erreichen. Auf der anderen Seite sagt uns unser Glaube, dass Gott der immer zuerst Handelnde ist. Diese Gewissheit führt uns zunächst ins Gebet. Wir beten für alle Männer und Frauen in unserer Stadt, in unserer Diözese, und wir beten auch für uns selbst, dass Gott einen Lichtstrahl seiner Liebe schicke und durch die abgedunkelten Scheiben hindurch die Herzen anrühre, damit sie seine Botschaft verstehen. Wir müssen bei den Menschen sein mit der Glut derer, die als erste das Evangelium in sich aufgenommen haben. Und „jedes Mal, wenn wir versuchen, zur Quelle zurückzukehren und die ursprüngliche Frische des Evangeliums wiederzugewinnen, tauchen neue Wege, kreative Methoden, andere Ausdrucksformen, aussagekräftigere Zeichen und Worte reich an neuer Bedeutung für die Welt von heute auf. In der Tat, jedes echte missionarische Handeln ist immer ‚neu‘“ (Evangelii gaudium, 11). Auf diese Weise können sich alternative Wege und Formen von Katechese ergeben, die den jungen Menschen und den Familien helfen, den allgemeinen Glauben der Kirche authentisch und froh wiederzuentdecken.

In diesem Zusammenhang der neuen Evangelisierung ist es unerlässlich, dass der Bischof seine Aufgabe als Lehrer des Glaubens, des in der lebendigen Gemeinschaft der universalen Kirche überlieferten und gelebten Glaubens, in den vielfältigen Bereichen seines Hirtendienstes gewissenhaft wahrnimmt. Wie ein treusorgender Vater wird der Bischof die theologischen Fakultäten begleiten und den Lehrenden helfen, die kirchliche Tragweite ihrer Sendung im Auge zu behalten. Die Treue zur Kirche und zum Lehramt widerspricht nicht der akademischen Freiheit, sie erfordert jedoch eine Haltung der Dienstbereitschaft gegenüber den Gaben Gottes. Das sentire cum Ecclesia muss besonders diejenigen auszeichnen, welche die jungen Generationen ausbilden und formen. Die Präsenz der katholischen Fakultäten an den staatlichen Bildungseinrichtungen ist zudem eine Chance, um den Dialog mit der Gesellschaft voranzubringen. Nutzt auch die Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt mit ihrer katholischen Fakultät und den verschiedenen wissenschaftlichen Fachbereichen. Als einzige Katholische Universität in Ihrem Land ist diese Einrichtung von großem Wert für ganz Deutschland und ein entsprechender Einsatz der gesamten Bischofskonferenz wäre daher wünschenswert, um ihre überregionale Bedeutung zu stärken und den interdisziplinären Austausch über Fragen der Gegenwart und der Zukunft im Geist des Evangeliums zu fördern.

Wenn wir ferner einen Blick auf die Pfarrgemeinden werfen, die Gemeinschaft, in der der Glaube am meisten erfahrbar und gelebt wird, so muss dem Bischof in besonderer Weise das sakramentale Leben am Herzen liegen. Hier seien nur zwei Punkte hervorgehoben: die Beichte und die Eucharistie. Das bevorstehende Außerordentliche Jubiläum der Barmherzigkeit bietet die Gelegenheit, das Sakrament der Buße und der Versöhnung wieder neu zu entdecken. Die Beichte ist der Ort, wo einem Gottes Vergebung und Barmherzigkeit geschenkt wird. In der Beichte beginnt die Umwandlung des einzelnen Gläubigen und die Reform der Kirche. Ich vertraue darauf, dass im kommenden Heiligen Jahr und darüber hinaus dieses für die geistliche Erneuerung so wichtige Sakrament in den Pastoralplänen der Diözesen und Pfarreien mehr Berücksichtigung findet. Desgleichen ist es notwendig, die innere Verbindung von Eucharistie und Priestertum stets klar sichtbar zu machen. Pastoralpläne, die den geweihten Priestern nicht die gebührende Bedeutung in ihrem Dienst des Leitens, Lehrens und Heiligens im Zusammenhang mit dem Aufbau der Kirche und dem sakramentalen Leben beimessen, sind der Erfahrung nach zum Scheitern verurteilt. Die wertvolle Mithilfe von Laienchristen im Leben der Gemeinden, vor allem dort, wo geistliche Berufungen schmerzlich fehlen, darf nicht zum Ersatz des priesterlichen Dienstes werden oder ihn sogar als optional erscheinen lassen. Ohne Priester gibt es keine Eucharistie. Die Berufungspastoral beginnt mit der Sehnsucht nach dem Priester im Herzen der Gläubigen. Ein nicht hoch genug zu einschätzender Auftrag des Bischofs ist schließlich der Eintritt für das Leben. Die Kirche darf nie müde werden, Anwältin des Lebens zu sein und darf keine Abstriche darin machen, dass das menschliche Leben von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod uneingeschränkt zu schützen ist. Wir können hier keine Kompromisse eingehen, ohne nicht selbst mitschuldig zu werden an der leider weitverbreiteten Kultur des Wegwerfens. Wie groß sind die Wunden, die unserer Gesellschaft durch die Aussonderung und das „Wegwerfen“ der Schwächsten und Wehrlosesten – des ungeborenen Lebens wie der Alten und Kranken – geschlagen werden! Wir alle sind Leidtragende davon.

Liebe Mitbrüder, ich wünsche Euch, dass die Begegnungen, die Ihr mit der Römischen Kurie in diesen Tagen hattet, Euch den Weg mit Euren Teilkirchen in den nächsten Jahren erhellen und Euch helfen, immer besser Euren schönen geistlichen und seelsorglichen Auftrag wahrzunehmen. So könnt Ihr mit Freude und Zuversicht Eure geschätzte und unverzichtbare Mitarbeit an der Sendung der universalen Kirche leisten. Ich bitte Euch weiterhin um Euer Gebet, dass ich mit Gottes Hilfe meinen Petrusdienst ausüben kann, und ebenso empfehle ich Euch der Fürsprache der seligen Jungfrau Maria, der Apostel Petrus und Paulus sowie der Seligen und Heiligen Eures Landes. Von Herzen erteile ich Euch und den Gläubigen Eurer Diözesen den Apostolischen Segen.

Aus dem Vatikan, am 20. November 2015



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