18. Dezember 2015 in Kommentar
Viele Medien interpretieren das Jahr der Barmherzigkeit so, wie sie allgemein das Programm von Papst Franziskus interpretieren: als eine anpasserische Zärtlichkeitsoffensive in Richtung Lebensrealität des modernen Menschen. Von Giuseppe Gracia
Vatikan (kath.net/Basler Zeitung) 2016 ist für die katholische Kirche das Jahr der Barmherzigkeit. Viele Medien interpretieren dieses Jahr so, wie sie allgemein das Programm von Papst Franziskus interpretieren: als eine anpasserische Zärtlichkeitsoffensive in Richtung Lebensrealität des modernen Menschen. Zum Beispiel des Menschen, der nach reiflicher Gewissensprüfung seinen Lebensabschnittspartner auswechselt, der für Abtreibung als Frauenrecht oder für die chemische Mitleidstötung im Familienkreis kämpft. Die Barmherzigkeit wäre dann ein Zeichen dafür, dass Gott diese Realitäten besser versteht, weil er so ein lieber Kerl ist. So wie der Papst, der ein Auge zudrückt, wenn wir die 10 Gebote nicht mehr so furchtbar ernst nehmen.
Das ist Wunschdenken. Es ist das massenmediale Narrativ von Leuten, die ihre Überzeugungen auf den Papst projizieren. Dabei ist für den echten Franziskus, wenn man ihn genauer liest, die heutige Lebensrealität keine Erkenntnisquelle für Wahrheit und Moral. Sondern diese Quelle ist der Glaube der Kirche, als dessen treuer Sohn der Papst sich bezeichnet hat. Er möchte auf die Menschen zugehen, ja, aber nicht mit einem antiautoritären Blumenkind-Programm, sondern mit dem Ruf zur Umkehr. Seine Rede von der Barmherzigkeit ist eine Absage an die Versuchung zum Ungehorsam, die in dem Bestreben zum Ausdruck kommt, unser Leben unabhängig vom Willen Gottes zu planen. So Franziskus am 8. Dezember 2015 bei der Eröffnung des Jahrs der Barmherzigkeit (Foto).
Erst in dieser Perspektive der Hinwendung zu Gott und seinen Gesetzen erklärt sich das Wort Barmherzigkeit, als Teil des katholischen Sprachspiels. Wer in diesem Sinn Barmherzigkeit sagt, sagt zugleich Sünde. Nur der Mensch, der sich wie der verlorene Sohn im berühmten biblischen Gleichnis etwas zuschulden kommen liess und auf Vergebung hofft, hat die Barmherzigkeit des Vaters überhaupt nötig. Barmherzigkeit setzt voraus, dass ich mich als Sünder begreife, dem der liebende Gott verzeiht. Doch wie sehr begreife ich mich als Sünder? Wie sehr begreifen sich die meisten Menschen so? Wie viele sehen in ihrer Lebensrealität heutzutage ein Problem, wenn sie in der Regel doch einfach das moralische Okay für sich erwarten? Wer lässt sich noch sagen, dass er jeden Tag kämpfen muss gegen Selbstgenügsamkeit und geistliche Selbstnivellierung? Jedenfalls sind es nicht Millionen, die sich auf dem Kirchenplatz sammeln und nach Barmherzigkeit flehen. Wenn sich in diesen Tagen Menschenmengen vor einer Kirche sammeln, dann trinken sie Glühwein und zücken Smartphones, um Selfies zu schießen. Die Rede von der Barmherzigkeit aus dem Kirchenschiff wird vielleicht gehört, aber so verstanden: Endlich schliesst auch der Papst Frieden mit der Moderne und anerkennt Subjektivismus und moralische Flexibilität.
Ist es das, was Papst Franziskus mit seiner bescheidenen Herzlichkeit zeigen will? Oder nicht eher die Tatsache, dass er wie wir alle Reue und Umkehr nötig hat? Franziskus sagt von sich selbst: Ich bin ein Sünder und schaue auf das Erbarmen Gottes. Besser kann man nicht zusammenfassen, worum es im Jahr der Barmherzigkeit geht und nur hoffen, dass 2016 für viele ein solches wird, vielleicht sogar für die einen oder anderen Medienschaffenden.
Giuseppe Gracia ist Medienbeauftragter des Bistums Chur.
Der Beitrag erschien zuerst in der Basler Zeitung.
© 2015 www.kath.net